Die Entwicklung der wissenschaftlichen Grammatik der deutschen Sprache am Anfang des 19. Jhs. 3 page
Der zweite Charakterzug der neuen Forschungsrichtung ist die Hinwendung zu den Problemen der kommunikativen Funktion der Sprache als Medium der gegenseitigen Verständigung unter den Menschen und das Bestreben, den kommunikativ-pragmatischen Aspekt der grammatischen Kategorien und der grammatischen Strukturen zu erschließen. Die Hinwendung zu den Problemen der kommunikativen Funktion der Sprache wird einerseits durch die Fortschritte der allgemeinen Kommunikationstheorie gefördert, andererseits durch die wachsenden Anforderungen an die Praxiswirksamkeit der Sprachwissenschaft angesichts der Aufgaben des sozialen Bildungswesens im Bereich der Kommunikationsbefähigung und Sprachkultur der Persönlichkeit.
Die kommunikative Orientierung der Grammatik ist ein unabdingbarer Charakterzug der funktionalen Grammatik und die Grundlage für den Begriff Funktion. Dieser Begriff wird von W, Schmidt in seiner Grammatik (1965) und in einer Reihe von Aufsätzen aus den Jahren 1965 —1970 theoretisch fundiert. W. Schmidt schreibt, dass die Aufgabe der Grammatik darin besteht, „das Funktionieren der sprachlichen Mittel im Kommunikationsprozeß zu erforschen" [221]. Er hebt die Funktion als einen der eigenständigen Grundbegriffe der Grammatik hervor. Während einige Sprachforscher die Termini Bedeutung und Funktion als Synonyme gebrauchen, ist W. Schmidt bestrebt, sie grundsätzlich auseinander zu halten. Die Bedeutung ist die inhaltliche Seite des sprachlichen Zeichens: „Wir verstehen unter Bedeutung die abstrahierende, die invarianten Bestandteile des Erkenntnisprozesses umfassende Widerspiegelung eines Gegenstandes, einer Erscheinung oder einer Beziehung der objektiven Realität im Bewußtsein der Angehörigen einer Sprachgemeinschaft, die traditionell mit der Form zu der strukturellen Einheit des sprachlichen Zeichens verbunden ist" (W. S ñ h m i d t). Während die Bedeutung sprachintern ist, ist die Funktion ein sprachexternes Phänomen: „Unter Funktionverstehen wir die vom Sender bei der Kommunikation intendierte und in der Mehrzahl der Fälle auch erzielte Wirkung der Sprache auf den Empfänger. Funktion ist also grundsätzlich sprachextern: Sie ist der Output, der kommunikative Effekt, den wir bei der Verwendung von Sprache erzielen. Der (sprachexterne) kommunikative Effekt kommt auf Grand des Faktums zustande, daß die sprachlichen Zeichen Bedeutungen haben; er ist aber nicht mit der Bedeutung gleichzusetzen, sondern das Vorhandensein von Bedeutung im sprachlichen Zeichen ist die Voraussetzung für das Zustandekommen des kommunikativen Effekts, der Funktion" (W. S ñ hmi d t). In einer ähnlichen Weise definiert die Funktion auch Ge-
org Meier: „Unter Funktion einer sprachlichen Form versteht man also eine beabsichtigte (aus Erfahrung zu erwartende) und normalerweise erzielte kommunikative Leistung (Effekt)" [164]. In seinem Aufsatz „Grandfragen einer funktionalen Grammatiktheorie" schreibt Meier: „Schmidt betont richtig, daß der sprachexterne kommunikative Effekt durch die Bedeutung der sprachlichen Zeichen erreicht werde, daß aber Effekt und Bedeutung nicht übereinstimmen" [167].
Der kommunikative Effekt kommt erst auf der Ebene des Satzes oder vielmehr einer Äußerung zustande und kann nur auf dieser Ebene erfasst werden. Er wird aber durch die Zusammenwirkung grammatischer Einheiten von verschiedenen hierarchischen Ebenen erzeugt. Daraus folgen als Grundsätze der funktionalen Grammatik das Zugrundelegen des Satzes als kleinste relativ selbstständige Redeeinheit, von der alle weiteren grammatischen Kategorien abzuleiten sind, die funktionale Deutung aller grammatischen Einheiten, ausgehend von ihrem Anteil an einem hierarchischen System, die komplexe Behandlung jeder grammatischen Einheit aus der Sicht von Form, Bedeutung und Funktion.
Die in der modernen Sprachwissenschaft gebräuchlichen Termini kommunikativ-pragmatischer Effekt, kommunikativ-pragmatische Komponente der Sprachbeschreibung dienen der Hervorhebung der Tatsache, dass beim Kommunizieren nicht nur eine Information vom Sender dem Empfänger übermittelt wird, sondern auch eine bestimmte Stellungnahme des Senders zum Geäußerten ausgedrückt und eine Einwirkung auf den Empfänger erzielt wird. Die letzteren Momente sind die Domäne der Pragmatik (Sprach-wirkungsforschung), der von der modernen Sprachwissenschaft große Bedeutung zugemessen wird. Georg Klaus schreibt in seinem Buch „Die Macht des Wortes. Ein erkenntnistheoretisch-pragmatisches Traktat": „Die Pragmatik untersucht die Beziehungen zwischen den Zeichen Z und den Menschen M, die die sprachlichen Zeichen produzieren, senden und empfangen. Diese sprachlichen Zeichen erfüllen—je nach dem, zu welchem Zweck sie von den Menschen benutzt werden — verschiedene Funktionen. Die Sprache ist ein Mittel, um Sachverhalte und Ereignisse zu beschreiben (Symbolfunktion), um bestimmte Gefühle (Sympathie, Empörung usw.) auszudrük-ken (Symptomfunktion) und um beim Empfänger von Zeichen ein bestimmtes Verhalten hervorzurufen, das sich in Lust- und Unlustgefühlen und schließlich in bestimmten Handlungen ausdrückt (Signalfunktion). In den speziellen Gegenstandsbereich der Pragmatik gehören die Symptom- und die Signalfunktion" [143]. Pragmatische Wirkung, Funktion, kommunikativer Effekt und Kommunikationssituation werden also als Synonyme gebraucht. Zur näheren Charakteristik dieser Begriffe schreibt W. Schmidt: „Der Funktionsbegriff ist demnach ein Wirkungsbegriff; er schließt die semantische und stilistische Komponente ein, ist aber außerdem noch durch soziologische und psychologische Faktoren bestimmt" [226].
Ein kommunikativ-pragmatisches Herangehen an das grammatische System wird auch in den „Grandzügen" als eines der grundlegenden Prinzipien der Sprachbeschreibung postuliert. Als eine zentrale Einheit wird in den
„Grandzügen" nicht der Satz, sondern die Äußerung betrachtet, was die kommunikative Orientierung des Buches auch terminologisch hervorhebt. Das gesamte Sprachsystem wird von den Verfassern der „Grundzüge" in folgende miteinander verbundene Komponenten gegliedert: 1. semantische Komponente, 2. syntaktische Komponente, 3. fonologische Komponente, 4. kommunikativ-pragmatische Komponente. (Eine eigenständige morphologische Komponente wird nicht berücksichtigt, denn die Regeln und Einheiten, die die Struktur der Wörter bestimmen, sind von den Verfassern in die syntaktische Komponente eingegliedert). Die Verfasser bestimmen die Äußerung als eine Einheit der semantischen, syntaktischen, fonologischen und kommunikativ-pragmatischen Struktur. Die semantische Struktur der Äußerung und die kommunikativ-pragmatische Struktur der Äußerung bilden zusammen deren Inhalt.
Ein weiterer Charakterzug der behandelten Forschungsrichtung ist das Bestreben, die neuen von der modernen Sprachwissenschaft erworbenen exakten Methoden nicht nur auf die Erforschung der äußeren, lautlichen Seite sprachlicher Zeichen anzuwenden, sondern sie auch auf die semantische und die kommunikativ-pragmatische Komponente des Sprachsystems auszudehnen. Eine besondere Aufmerksamkeit gilt der theoretischen Begründung der Semantik und Pragmatik, der Klärung ihrer philosophischen und sprachtheoretischen Voraussetzungen und der entsprechenden Interpretation konkreter sprachlicher Phänomene. Zum Stand der Untersuchungen im Bereich der Semantik s. „Grandzüge" von Heidolph, Flämig, Motsch [110] sowie „Probleme der semantischen Analyse" von Viehweger [270]. Zum Stand der Untersuchungen im Bereich der Pragmatik und der eng damit verbundenen Sprechhandlungstheorie s, „Grundzüge" von Heidolph, Flämig, Motsch sowie Monografien und Aufsätze von Klaus [143]; Meier [1673; Härtung [104]; Motsch [179]; Schmidt/Harnisch [228]; Wo tj à ê [288]. Zu diesem Fragenkreis gehört auch das Problem der Zuordnungsbeziehungen zwischen der formalen, semantischen und kommunikativ-pragmatischen Komponente. Ira Bereich der Satzmodellierung hat Gerhard Heibig anhand konkreter Beispiele gezeigt, dass es keine 1:1-Beziehung zwischen Satzstruktur und Satzbedeutung (Satzsemantik) gibt [118]. In einer allgemeineren Fragestellung wird dieses Problem auch in den „Grundzügen" behandelt. Die Verfasser postulieren die Eigenorganisation jeder Komponente des Sprachsystems: „Das Sprachsystemgliedert sich in mehrere Komponentenauf. Die Komponenten sind miteinander verbunden. Aber jede von ihnen ist ein besonderes Teilsystem, ein besonderer Komplex von Regeln mit eigenen Einheiten und Beziehungen [110]. Die spezifischen Regeln und Einheiten der einzelnen Komponenten des Sprachsystems bestimmen besondere Schichten in der Struktur der Äußerung. „Die einzelnen Schichtensind vielmehr grundsätzlich nicht parallelorganisiert. Die Grenzen der semantischen, der syntaktischen und der fonologischen Einheiten fallen nur bedingt miteinander zusammen" (ebenda). Die interne Struktur der einzelnen Schichten der Äußerung sowie die Struktur der Einheit aller Schichten in der Äußerung sind weitere Probleme, die heute noch nicht in
allen Details herausgearbeitet sind. Jedoch schaffen die oben dargelegten theoretischen Grundsätze Voraussetzungen für ihre weitere Untersuchung.
Eine wichtige Rolle spielt heute in der Weiterentwicklung der funktionalen, kommunikativ-pragmatischen Grammatikforschung die intensive Arbeit an der Texttheorie und Textgrammatik (vgl.: Pfütze: Pfütze/Schul-z e sowie zahlreiche Veröffentlichungen in Textlinguistik I—VII, in den „Potsdamer Forschungen" u. a.). Die Hinwendung zum Text als einer kommunikativen Einheit höheren Rangs und die Entstehung der Textlinguistik bedeuten eine Ausweitung der Kommunikationsorientierung der modernen Sprachwissenschaft Sie ermöglichen die Erschließung von grammatischen Regularitä ten, die unmittelbar mit der semantischen und kommunikativ-pragmatischen Struktur der Äußerung verbunden und aus der Kommunikationssituation ableitbar sind. Viel versprechend für die operational funktionale Grammatik, d. h. für eine Grammatik, die nicht nur das Sprachsystem beschreibt, sondern auch zum sachgemäßen und wirkungsbewussten Sprachgebrauch führen soll, sind die Untersuchungen zur Texttypologie und zu den Kommunikationsverfahren bzw. Darstellungsverfahren, die im Zusammenhang mit der muttersprachlichen Sprachdidaktik in der DDR stehen (vgl.: Schmidt [223]; Schmidt / Stock [225]; Â essmertnaj a / W i 11 m e r s [27] sowie zahlreiche Veröffentlichungen zu den einzelnen „Textsorten" und Kommunikationsverfahren in den linguistischen Zeitschriften). Freilich haben solche Untersuchungen einen komplexen Charakter und die Ausgliederang und Ausarbeitung der grammatischen Komponente einzelner „Textsorten" und Kommunikationsverfahren liegt heute noch in den Anfängen. Das hier aber ein weites Feld für Forschungsarbeit im Sinne der funktionalen, kommunikationsorientierten Grammatik vorliegt, ist unzweifelhaft.
Charakteristisch für die moderne Sprachforschung ist die um 1970 in allen Ländern beobachtbare Abwendung von rein strukturellen Methoden und eine rasche Entwicklung von kommunikationsorientierten Zweigen der Sprachwissenschaft, und zwar der Soziolinguistik, Psycholinguistik, Textlinguistik, Kommunikationstheorie, Sprechakttheorie, Pragmatik. Diese Wende wurde auch durch die Anforderungen der muttersprachlichen und fremdsprachlichen Sprachdidaktik gefördert, da um diese Zeit auch im Sprachunterricht kommunikationsorientierte Unterachtsmethoden den strukturellen Methoden immer mehr den Boden abgewannen. Die genannten Forschungsbereiche entwickeln sich zum großen Teil auf der philosophischen Grundlage des Neopositivismus (z. B. die Sprechakttheorie von Austin, Searle, von Habermas). Die neu erarbeiteten Aspekte der Sprachtheorie haben vorläufig noch keinen Niederschlag in einer Gesamtdarstellung des grammatischen Systems gefunden. Versuche, auf der Basis dieser vorwiegend allgemein theoretischen Grandsätze eine wissenschaftliche Beschreibung des grammatischen Systems aufzubauen, stehen noch aus. Anders ist es um die Sprachdidaktik bestellt, für die die Begriffe Kommunikation, kommunikative Kompetenz und Pragmatik bereits ganz geläufig sind (vgl. die Zeitschriften „Die neueren Sprachen", „Der Deutschunterricht", „Praxis des neusprachlichen Unterrichts" u. a,).
Es wird das Prinzip einer komplexen formalen und semantischen grammatischen Beschreibung in vielen Grammatiken, anknüpfend an die Traditionen der vorstrukturellen Grammatikforschung, konsequent durchgeführt. Die fundamentale Grammatik der deutschen Sprache von Hennig Brinkmann heißt: „Die deutsche Sprache. Gestalt und Leistung". Der Verfasser schreibt im Vorwort zur 1. Auflage: „Dies Buch steht nicht im Dienst von Theorien, sondern erstrebt eine angemessene Darstellung des Gegenstands. Anhaltspunkte sind die Unterschiede der Gestalt, die in unserer Sprache ausgeprägt sind. Diese Unterschiede werden auf ihre Leistung befragt" [38]. Unter Gestalt versteht der Verfasser die Formen grammatischer Einheiten, unter Leistung ihre Bedeutung und zum Teil auch den kommunikativen Effekt. Obwohl an einzelnen Stellen des Buches ein gewisser Anklang an die Ausdrucksweise von Weisgerber zu spüren ist (vor allem im Kapitel über die Satzmodelle), hat das für die Forschungsmethode von Brinkmann keine entscheidende Bedeutung. Während Weisgerber grundsätzlich vom „Gemeinten" ausgeht, sagt Brinkmann im zitierten Vorwort zu seinem Buch ausdrücklich, dass für ihn „Anhaltspunkte die Unterschiede der Gestalt" sind, die „auf ihre Leistung befragt" werden. Dieser Standpunkt wird in allen Teilen des Buches konsequent vertreten. In der 2. Auflage von 1971 hat Brinkmann sein Buch um einen fast zweihundert Seiten umfassenden Abschnitt „Die Rede" erweitert [39], der ausgesprochen kommunikationsbezogen ist. Auch in der normativen für einen, breiten Benutzerkreis geschriebenen Duden-Grammatik (Grebe) halten die Beschreibung der formalen und die der semantischen Seite einander die Waage, wobei Ausgangspunkt der Darstellung auch in dieser Grammatik die sprachlichen Formen sind, die dann auf ihre Bedeutung hin interpretiert werden.
§ 8. Die Grammatikforschung in der sowjetischen Germanistik
Die Forschungsarbeit auf dem Gebiete der Germanistik wird in unserem Lande sowohl an akademischen Forschungsinstituten als auch an zahlreichen Universitäten und pädagogischen Hochschulen durchgeführt, wo Lehrkräfte für den Fremdsprachenunterricht an Mittelschulen und Lektoren für Hochschulen ausgebildet werden. Der Massencharakter des Fremdsprachenunterrichts bedingt den Umfang und die Intensität der einschlägigen pädagogischen und Forschungstätigkeit.
Die ersten bedeutenden Veröffentlichungen auf dem Gebiete der deutschen Grammatik stammen aus den 30er- Jahren. Es sind der Sammelband „Probleme der deutschen Grammatik in historischer Sicht", (1935) herausgegeben von Shirmunski, eine für Studenten der Germanistik bestimmte „Wissenschaftliche Grammatik der deutschen Sprache", verfasst von S t ã î j e w a und S i n d e r (1938), sowie eine Reihe von Monografien.
Die „Wissenschaftliche Grammatik der deutschen Sprache" [238] war die erste theoretische Darstellung des grammatischen Systems der deut-
sehen Gegenwartssprache für Germanistikstudenten in der Sowjetunion. Grundlegende Bedeutung für die Konzeption des Buches hatten die Lehre von der Einheit des Denkens und der Sprache und das dialektische Gesetz der Einheit von Inhalt und Form. Die Verfasser des Buches untersuchten jedes grammatische Phänomen auf seine Formen und auf die Bedeutung dieser Formen und schenkten große Aufmerksamkeit der Gebrauchsnorm jeder grammatischen Form, was einerseits von den theoretischen Ausgangspositionen des Buches bestimmt war, andererseits auch den Bedürfnissen der Deutschlehrerausbildung entsprach. Ausgehend von dem Gesetz der Einheit von Form und Inhalt wurde von den Verfassern der grammatische Stoff neu gegliedert. Die für die junggrammatische Forschung typische Trennung von Formenlehre und Bedeutungslehre und die Verteilung der entsprechenden Fragenkreise auf verschiedene Abschnitte der Grammatik (vgl. S. 12—13) wurde aufgegeben. Die Formen der Wortarten und deren Bedeutungen wurden in einer komplexen Weise in der Morphologie behandelt, der die Syntax als eine Satzlehre gegenüberstand.
Besonders großen Aufschwung nehmen die germanistischen Forschungen in der Sowjetunion seit den 50er- Jahren. In dieser Zeit erscheinen eine Reihe neuer Gesamtdarstellungen des deutschen Sprachbaus (A d m î n i [2, 3]; Gulyga/Natanson [98]; Moskalskaja 172]), eine umgearbeitete und vervollständigte Neuauflage der „Wissenschaftlichen Grammatik" von Sinder und Strojewa [239] sowie zahlreiche Einzeluntersuchungen zu den wichtigsten Fragen der Theorie der Grammatik.
Entscheidende Bedeutung für die Entwicklung der Grammatikforschung hatte in den 50er- und 60er Jahren die Erarbeitung des Begriffes der grammatischen Kategorien. Die theoretische Fundierung dieses Begriffes bedeutete einen weiteren Ausbau der These von der Einheit von Form und Inhalt, Struktur und Semantik, Gestalt und Leistung, im grammatischen System der Sprache (s.: Guchmann [94, 95]; Admoni [2]; Moskalskaja [172]). Der bilaterale Charakter der grammatischen Kategorien als Einheit von Form und Bedeutung wurde ausdrücklich betont. Die grammatischen Kategorien wurden als die Grundeinheiten des grammatischen Systems aufgefasst. Letzteres bestimmte das Beschreibungsmodell des grammatischen Systems in den Grammatiken dieser Zeit sowie den Fragenkreis monografischer Untersuchungen. Obwohl die Forschung dieser Jahrzehnte sowohl die Probleme der Morphologie als auch die der Syntax umfasste, konzentrierten sich die auf die Erschließung der grammatischen Kategorien orientierten Untersuchungen in erster Linie auf die Kategorien der morphologischen Ebene. Es wurde die entsprechende Forschungsmethodik entwickelt, die grammatischen Kategorien einzelner Wortarten wurden abgehandelt. Aus methodologischer und methodischer Sicht ging es um die Kriterien der Ausgliederung von grammatischen Kategorien und um die Erschließung ihrer Bedeutungsseite. Guchman schrieb zur Ausgliederung von grammatischen Kategorien: „Die morphologischen kategoriellen Merkmale sind durch ein System der Wortbeugungsformen
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vertreten. Das ist dadurch bedingt, daß die grammatischen Kategorien des morphologischen Teilsystems nur in einer paradigmatischen Reihe entstehen und ausgesondert werden können. Deshalb kann hier die grammatische Kategorie nicht durch eine einzige Form vertreten werden. Eine grammatische Kategorie im morphologischen System muß durch die Opposition von mindestens zwei Formen gekennzeichnet werden" [94]. In diesem Zusammenhang wurde an der Präzisierang der Merkmale des morphologischen Paradigmas gearbeitet, dem Problem der Wortgrenze und dem Anteil analytischer Formen am Paradigma nachgegangen [95]. Besondere Beachtung wurde der Anwendung des Oppositionsprinzips geschenkt. Bei der Erforschung der Bedeutung der grammatischen Kategorien der Wortarten galt die größte Aufmerksamkeit den Kategorien des Verbs. Viele Dissertationen und wissenschaftliche Artikel wurden der Kategorie der Modalität (den lexikalischen und grammatischen Ausdrucksmitteln der Modalität) gewidmet, der Kategorie der Zeit (vor allem der Bedeutung und der Verwendungsnorm der Vergangenheitstempora), den Genera verbi und dem Problem des Zustands-passivs, dem Problem der Aspekte und Aspektualität des Verbs sowie dem Problem der grammatischen Bedeutung des Artikels und seiner Verwen-dungsnorm.
Große Fortschritte machte auch die funktionale Syntaxforschung. Die Bedürfnisse des Fremdsprachenunterrichts lenkten das Interesse auf die Er-; forschung einzelner Arten von einfachen und komplexen Sätzen sowie der Verwendung von Tempora und Modi im komplexen Satz. Diese Untersuchungen stützten sich auf Textanalyse.
Ein besonderer Problemkreis, der vor allem in den Schriften Admonis und seiner Schüler behandelt wurde, bestand in der Untersuchung der internen Struktur nominaler und verbaler Wortgruppen und der Auswirkung der ermittelten Regularitäten auf die Struktur des Satzes. Es handelte sich vor allem um die sog. Monoflexion in der Nominalgruppe und um die Rahmenstruktur als Mittel einer besonders strengen Organisierung syntaktischer Gebilde im Deutschen [4], Es wurde auch zum ersten Mal in unserer Germanistik der Versuch einer Satzmodellierang gemacht [2].
Bereits um die Mitte der 50er- Jahre wandte sich die sowjetische Germanistik einer kommunikationsbezogenen Betrachtung der Sprache zu. Die Forschung in diesem Bereich galt zuerst der kommunikativen Satzperspektive und deren Ausdrucksmitteln (Krusñhe lnitzkaj à [150, 151]). Die Arbeit an diesen Problemen, wurde von vielen sowjetischen Germanisten aufgegriffen. Große Beachtung wurde dem Anteil der Stimmführung am Ausdruck der kommunikativen Satzperspektive sowie dem kommunikativen Ausdruckswert einiger grammatischer Kategorien der Wortarten, besonders der Genera verbi und des Artikels geschenkt.
In der neuesten Zeit erweitert sich der Kreis der Forschungsprobleme, Im Bereich der morphologischen Untersuchungen wird die Erforschung der semantischen Seite der grammatischen Kategorien der Wortarten durch weit gehende Anwendung der Komponentenanalyse vertieft und zugleich formalisiert. Die Komponentenanalyse ermöglicht die Auseinanderhaltung
von paradigmatischer Bedeutung und von syntagmatischen Bedeutungen kategorieller Formen, die Aufdeckung der Oppositionsverhältnisse zwischen den kategori eilen Merkmalen der Gegenglieder einer Opposition und die Untersuchung der Voraussetzungen für ihre Neutralisation (vgl.: Schendels [216]). Im engen Zusammenhang mit der Erforschung der semantischen Seite der grammatischen Kategorien einzelner Wortarten steht die Erforschung der Wechselwirkung von lexikalischen und grammatischen Ausdrucksmitteln kategorieller Bedeutungen. Das letzte Problem führt zur Erarbeitung der Feldtheorie am grammatischen Material (vgl.: Gulyga/Schendels [100]). Die Untersuchung von syntagmatischen Bedeutungen grammatischer Formen leitet auch Forschungen im Bereich der grammatischen Synonymie ein. Der Komponentenanalyse einzelner grammatischer Kategorien, den grammatischen Feldern im Bereich der grammatischen Kategorien der Wortarten, dem Anteil lexikalischer und lexikalisch-grammatischer Mittel am Ausdruck von kategoriellen grammatischen Bedeutungen und der grammatischen Polysemie sind mehrere Einzeluntersuchungen unserer Germanisten gewidmet. Mit der Erforschung der semantischen Seite der grammatischen Kategorien und mit deren feldmäßiger Betrachtung hängt auch die Entwicklung der stilistischen Grammatik zusammen (s.: Riesel/Schendels sowie einschlägige Dissertationen), was ebenso wie die Untersuchungen im Bereich von grammatischer Polysemie und Synonymie und insbesondere die Theorie der kommunikativen Satzperspektive eine kommunikativ-pragmatische Sprachbetrachtung gewährleistet.
Im Bereich der Syntaxforschung wird ein neues Beschreibungsmodell des Satzes erarbeitet, das sowohl die Ebene der Satzstruktur als auch die Satzinhaltsebene erfasst. Es werden zwei zentrale Begriffe der strukturellen Beschreibung des Satzes hervorgehoben — das Satzmodell und das Satzparadigma. Auf den ersten Versuch der Satzmodellierung [2] folgen nunmehr zahlreiche Untersuchungen zu den Methoden der Satzmodellie-rung und zum Inventar der Satzmodelle (Admoiii [4]; Abramî w [1]; R ac h m a n ê u 1 î w à [205]; M î s ê à 1 s ê a j a [173]). Grundlegend für die Methoden der Satzmodellierung wird die Verbindung der binären Aufgliederung des Satzes (Subjekt-Prädikat-Struktur) mit der modernen Valenztheorie. Das Satzparadigma wird als ein hierarchisches System von Satzformen aufgefasst, die im Oppositionsverhältnis zueinander stehen und Träger von grammatischen Bedeutungen sind. Aus den Oppositionen zwischen den Satzformen werden die grammatischen Kategorien der Satzebene abgeleitet, und zwar die grammatischen Kategorien der Redeabsicht (Intention), die der Affirmation/Negation, die der Modalität. Auf diese Weise treten an die Seite der grammatischen Kategorien der morphologischen Ebene syntaktische grammatische Kategorien, was ein einheitliches funktionales Herangehen an Morphologie und Syntax ermöglicht und, was nicht weniger wichtig ist, wird die Äußemngsstruktur erschlossen. Besondere Beachtung wird der Untersuchung der Satzsemantik geschenkt (Ssussow [251]; Moskalskaja [174, 175, 176]). Durch die Struk-
turbeschreibung und die Erforschung der Satzsemantik wird eine ausgewogene Darstellung der formalen und der inhaltlichen Seite des Satzes erzielt. Zusammen mit der kommunikativen Satzbetrachtung (s. o.) ergeben sie eine dreidimensionale Darstellung des Satzes, die der strukturellen, semantischen und kommunikativ-pragmatischen Komponente des Satzes gerecht wird.
Seit Anfang der 70er- Jahre entwickeln sich intensiv Forschungen im Bereich der Textgrammatik. Neben zahlreichen Dissertationen und wissenschaftlichen Artikeln zu Einzelproblemen der Textgrammatik liegen bereits eine wissenschaftliche Gesamtdarstellung (M î s ê à 1 s ê a j a) und Übungsbücher (Bess mertnaj a /Wittmers",Brandes/Pironkowa)vor. Wesentliches zur grammatischen Struktur des Textes ist bereits in normative Grammatiken eingegangen (S ñ h e n d e 1 s [215]).
Teil Ï MORPHOLOGIE
Kapitel 2 GEGENSTAND DER MORPHOLOGIE
§ 9. Gliederung der Grammatik in der modernen Sprachwissenschaft
Das grammatische Teilsystem der Sprache ist eine begrenzte Menge von hierarchisch auf verschiedenen Ebenen angeordneten Zeichen, deren Kombination mit lexikalischen Zeichen und miteinander nach einer ebenfalls begrenzten Menge von Regeln die Bildung einer uneingeschränkten Zahl von Äußerungen ermöglicht. Diese Fähigkeit wird durch eine Mehr-Ebenen-S truk-tur des Sprachsystems und die grundsätzliche Kombinierbarkeit der Elemente des Systems auf allen Ebenen gewährleistet [266, /].
Zu den sprachlichen Zeichen mit grammatischer Funktion gehören Flexionsmorpheme, Funktionswörter syntaktischer und morphologischer Art (Präpositionen, Konjunktionen; Hilfsverben, Artikel), grammatische Formen von Wörtern, Anordnungsregeln von Wörtern in Wbrtgruppen und Sätzen mit einer bestimmten kategoriellen Bedeutung, Akzent- und Intonationsfolgen, Pausen, Verbindungssignale und syntaktische Relationen zwischen den Sätzen in einer Äußerung.
Allgemeines Gesetz des Sprachsystems ist nicht nur die Mehr-Ebenen-Struktur der Sprache, sondern auch eine Beziehung der Subordination zwischen den Ebenen. Letztere findet ihren Ausdruck darin, dass die Einheiten der tieferen Ebene auf die Aufgaben ausgerichtet sind, die die höhere Ebene erfüllt und „von oben herab" determiniert sind. Die höchste Ebene bildet die Äußerung. Auf die Gestaltung der Äußerung sind die Elemente aller Ebenen unmittelbar oder mittelbar, durch die Zwischenebenen abgestimmt und können aus ihr funktional gedeutet werden. Man denke an den Artikelgebrauch, die temporale und modale Gestaltung des Verbs, die Genera verbi, die an und für sich der Wortebene angehören, jedoch erst auf der Ebene der Äußerung zur vollen Geltung kommen.
In der modernen Grammatikforschung stehen zwei Beschreibungsmodelle und zwei Gliederungsprinzipien des grammatischen Stoffes einander gegenüber. Es besteht das Streben, den Satz bzw. die Äußerung als die höchste Ebene der Sprache zum Mittelpunkt der Beschreibung zu machen und die Probleme der formalen und funktionalen Morphologie ihr zu unterordnen (.[81,75,76]; bis zu einem gewissen Grade auch [110], s. o.). Häufiger
aber wird von der Gegenüberstellung von Wort und Satz als zwei Grandeinheiten der Sprache ausgegangen und traditionell zwischen Morphologie und Syntax unterschieden [221, 2, 38].
Eine Variante der traditionellen zweistufigen Darstellung des grammatischen Systems ist die Gliederung der Grammatik nicht in Morphologie und Syntax, sondern in die Abschnitte „Wort" und „Satz". Das führt zu einer Erweiterung der Morphologie und damit zu einer allgemeinen Wortlehre. Im Rahmen der Grammatik werden nicht nur die grammatischen Eigenschaften des Wortes dargestellt, sondern auch der fonematische Bau des Wortes, ja manchmal die gesamte „Lautlehre" sowie die Wortbildungslehre mitbehandelt und die lexikalische Charakteristik des Wortbestandes nach den Wortarten einschließlich der Theorie des Wortfeldes gegeben (vgl. vor allem {60, 61, 85]).