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Die Entwicklung der wissenschaftlichen Grammatik der deutschen Sprache am Anfang des 19. Jhs. 2 page

Auch die Arbeit an den theoretischen Problemen der Grammatik nimmt bereits in den 50er- Jahren raschen Aufschwung. Es machen sich neue For­schungsrichtungen geltend. In den Vordergrund treten solche Probleme wie


Gegenstand und Ziele der Grammatik sowie die Probleme der Forschungs­methoden., Die 60er- und 70er- Jahre werden durch die weitere Intensivie­rung der theoretischen Arbeit gekennzeichnet und durch bedeutende Erfol­ge, die der deutschen Grammatikforschung eine gebührende Stelle in der modernen Sprachforschung sichern. Es sind folgende Forschungsrichtun­gen zu nennen: 1) die strukturelle Grammatik, 2) die inhaltbezogene Gram­matik, 3) die funktionale kommunikative Grammatik.

§ 5. Die strukturelle Grammatik

Strukturelle Forschungen im Bereich der deutschen Grammatik wurden durch die Untersuchungen von Hans Glinz eingeleitet, vor allem durch das in Bern 1952 erschienene Buch „Die innere Form des Deutschen, Eine neue deutsche Grammatik" (5. Aufl. 1968).

Wir finden in diesem Buch alle Charakteristiken wieder, die den taxono-misch-distributionalistischen Strukturalismus der 40er- und 50er- Jahre kenn­zeichnen — eine streng synchrone Darstellungsweise, das Ausgehen von ei­nem größeren Textganzen und die Segmentierung des Textes zwecks Aus­gliederang und Klassifizierung der sprachlichen Einheiten, die Hervorhe­bung des Systemcharakters der Sprache und die Erhebung von Systemzu-samrnenhängen zwischen den Strukturelementen der Sprache zum Hauptob­jekt der Forschung, die für den Strukturalismus übliche Auflösung der Mor­phologie in der Syntax, die Suche nach objektiven, exakten Forschungsme­thoden. In den Schriften von Glinz nehmen die Probleme der Forschungsme­thoden einen großen Platz ein. Sein methodisches Verfahren ist vor allem „lautbezogen". Was das bedeutet, kann man am Beispiel seiner Satzdefiniti­on erkennen. Indem Glinz eine „rein sprachliche Bestimmung" des Satzes erstrebt, die frei von logischen oder psychologischen Sehweisen wiire, ver­zichtet er auf das Kriterium des Satzinhaltes und will den Satz „nicht von der Inhalts-, sondern von der Klangbildseite her" definieren. Als einziges prä­gendes Merkmal des Satzes nennt er die Stimmführung, d, h. ein Element der Satzform. Der Satz ist nach Glinz „die Einheit des stimmlichen Hinset­zens, das in einem Zug und unter einem Atem hervorgebrachte sprachliche Gebilde"... „die kleinste Sprecheinheit, die kleinste „Hervorbringungsein-heit", „die kleinste Atemeinheit der normal dahinfließenden Rede" [81].

Das experimentierende Verfahren von Glinz besteht aus den sog. Proben. Glinz will alle herkömmlichen Vorstellungen über die deutsche Sprache bei­seite schieben und alle sprachlichen Phänomene neu erschließen; „Wir tre­ten mit unserem Experimentierverfahren an die Sprache heran, ohne die ver­trauten Begriffe wie Satz, Wort, Substantiv, Verb, Adverb, Subjekt, Prädikat usw. anzuwenden, ja wir schalten sie bewußt aus. Wir müssen naiv anfan­gen, um wirklich prüfen zu können, was uns Jahrzehnte lang selbstverständ­liche Grundlage war" (ebenda).



Mit Hilfe der Klangprobe gliedert Glinz den Text in Sätze und erarbeitet die oben zitierte Definition des Satzes. Außer der Klangprobe verwendet Glinz Ersatzproben, Verschiebeproben, Weglassproben.


Die Ersatzprobe dient zur Abgrenzung und Bestimmung der zweiten Grundeinheit der Sprache, ■— des Wortes, z. Â.:

den anderen Tag am anderen Tag am folgenden Tag (Morgen)

„Wörter sind unterste auswechselbare Inhaltseinheiten oder-momente" (ebenda).

Durch Verschiebeprobe gliedert Glinz den Satz in die so-genannten Stel­lungsglieder(Wörter und Wortblöcke, aus welchen der Satz unmittelbar besteht. Die Ersatzprobe bei den Stellungsgliedern hilft Glinz, das sog. Leit-glieddes Satzes zu bestimmen, das durch ein finites Verb ausgedrückte Prä­dikat der herkömmlichen Grammatik (ebenda).

Glinz verwendet den Begriff „innere Form der Sprache", der auf Hum­boldt zurückgeht und heute vor allem in der inhaltbezogenen Grammatik von Weisgerber (s. u.) erneuert wurde. Doch deutet ihn Glinz anders als die Neohumboldtianer, nämlich aus struktureller Sicht. Er versteht darunter die Systemzusammenhänge zwischen den Elementen einer Sprache, ihr „Spiel", den Mechanismus der Sprache, die „Gesamtheit der mehr oder minder durch­laufenden Strukturzüge" (ebenda).

Unter diesem Gesichtspunkt werden von Glinz auch die Wortarten neu gegliedert und neu benannt (ebenda). Ausschlaggebend ist dabei vor allem die „Kombinationsfähigkeit" des Wortes, die aus der Stellung des Wortes im Satz und aus seiner Ersetzbarkeit, d. h. aus seiner Distribution hergeleitet wird.

Zum Unterschied von den „strengen" Strukturalisten gehört Glinz jedoch nicht zu den Forschern, die die Erforschung der Inhalte aus ihrem Gesichts­kreis ausschließen. Nach der Ausgliederang von Sätzen und Wörtern, von Satzgliedern und Wortarten geht Glinz zur Interpretation der einzelnen Wört-formen flektierbarer Wortarten über. Die „lautbezogene" Analyse wird auf dieser Stufe von der inhaltlichen Deutung auf Grund der Selbstbeobach­tung, von der sog. Interpretation abgelöst. Doch strebt Glinz auch hier zur möglichsten Methodenstrenge: „Was wir als Interpretation bezeichnen, ist denn auch nicht das Gleiche wie ein primäres „Ausgehen vom Bezeichne­ten". Das voraus- und nebenhergehende Erprobungsverfahren liefert die Grenzen, innerhalb welcher sich die Interpretation bewegen kann und muß" (ebenda).

Die späteren Schriften von Glinz (82, 83] zeugen von einer allmählichen Abkehr des Verfassers vom Strukturalismus und von einer fortschreitenden Annäherung an die inhaltbezogene Grammatik.

Die weitere Entwicklung der strukturellen Forschungsrichtung in der deutschen Grammatik verläuft unter dem Einfluss der generativen Gram­matik von N î a m Ñ h î m s ê ó, die um die Mitte der 50er- Jahre und in den 60er- Jahren die Konzeptionen des taxonomischen Strukturalismus ab­löst. Die Hauptaufmerksamkeit der Forscher gilt jetzt einer formalisier-ten Beschreibung des Erzeugungsmechanismus von syntaktischen Struk­turen und der Erschließung von Transformationsregeln, mit deren Hilfe


alle grammatischen Sätze einer Sprache und nurdiese generiert werden können.

In der DDR beschäftigte sich mit diesen Problemen die Arbeitsstelle „Strukturelle Grammatik", die in den 60er- Jahren an der Deutschen Aka­demie der Wissenschaften zu Berlin bestand. Die Schriften der Mitarbeiter der Arbeitsstelle „Strukturelle Grammatik" wurden in der Schriftenreihe „Studia grammatica" (1-Õ, 1962—1969) veröffentlicht. Sie behandelten aus der Sicht der generativen Transformationsgrammatik die Struktur des einfachen und des zusammengesetzten Satzes, einige Probleme der Mor­phologie und der Fonomorphologie, die Regeln der Satzintonation. Obwohl der taxonomische Strukturalismus und die generative Grammatik interes­sante Beobachtungen an der Struktur der Sprache erbracht und die Technik beim Untersuchen der Struktur der Sprache bereichert haben, wurde nun erkannt, dass die Einseitigkeit der strukturalistischen Forschungsmethoden und der spezifische Fragenkreis der strukturellen Grammatikforschung den Aufgaben, die vor der marxistisch-leninistischen Sprachwissenschaft stehen, nicht entsprechen. Ausgeklammert bleibt bei der Sprachforschung mit Hil­fe des strukturalistischen Begriffsapparats und der strukturalistischen Me­thoden die Erforschung der Sprache als wichtigstes Kommunikationsmittel der menschlichen Gesellschaft und als materielle Existenzform des Denkens. Auch die Nutzbarmachung der Ergebnisse der Sprachforschung für die weitere Entwicklung des sozialistischen Bildungswesens stellt an den Sprachforscher ganz andere Anforderungen, orientiert ihn auf andere Pro­bleme und Forschungsmethoden. Davon schreiben Werner Neumann in sei­nem Aufsatz „Die Sprachwissenschaft der DDR vor neuen Aufgaben", Georg F. Meier im Artikel „Einige Bemerkungen zur marxistisch-leninisti­schen Sprachtheorie und Kommunikations Wissenschaft", Wilhelm Schmidt in „Die Sprache als Instrument der Leitung gesellschaftlicher Prozesse" und andere Forscher der DDR (s.: Neu mann [185]; G.F.Meier [165]; W.Schmidt [223]; Härtung [104]; Motsch [178]; Rüzicka [211]). Rudolf Rüzicka betont, dass die marxistische Sprachwissenschaft ihre theo­retischen und methodologischen Positionen nicht von pseudopln'losophi-schen Thesen des Strukturalismus und von den neopositivistisch-physikali-schen Zügen des amerikanischen Deskriptivismus beeinflussen lassen kann. Der Strukturalismus war „ein notwendiger Abschnitt der Geschichte der Sprachwissenschaft", er fand in der DDR als Negation der junggrammati­schen Komparativisten und der IntuitionsHnguistik Verbreitung, „eine Ne­gation, die selbst der aufhebenden Negation verfällt, schon verfallen ist" [212]. Vgl. auch Wolfgang Motsch: „Eine marxistische Kritik des Struktu­ralismus richtet sich nicht gegen die Suche nach neuen, effektiveren und exakteren Wegen der Erkenntnisgewinnung in den Wissenschaften, sondern gegen vermeidbare Irrwege, die auf dem Boden unwissenschaftlicher phi­losophischer Positionen oder eklektischer und praktizistischer Verfahren ent­stehen" [178], Zu den Mängeln des Strukturalismus rechnet Motsch seine Einseitigkeit, das undialektische Herangehen an die Sprache, die Verabso-lutisierung des Sprachsystems und die Ausklammerung des Sozialen bei der


Erforschung der Sprache. „Diese Mängel beruhen auf unzulänglichen er­kenntnistheoretischen und weltanschaulich-ideologischen Voraussetzungen in der Methodologie und Theorie der strakturalistischen Sprachwissenschaft" (ebenda).

Die generative Grammatik von Chomsky hatte auch einen großen Ein-fluss auf die Entwicklung der strukturellen Forschung in der BRD. In den 60er- Jahren werden in der BRD Kolloquien zur generativen Grammatik für die Vertreter verschiedener Universitäten veranstaltet (vgl.: [289]). Man plä­diert für den „Anschluss an die internationale Forschung", Es erscheinen zahlreiche generative Syntaxdarstellungen des Deutschen sowie Handbücher der Transformationsgrammatik für Germanisten, die das Grammatikmodell von Chomsky auf das Deutsche anwenden (Steger; Clement, Thüm-mel; Bechert, Clement, Thümmel, Wagner; Huber, Kum­mer; Pause; W e b e r). In diesen Grammatiken erreicht die Darstellungs­technik der strukturellen Zusammenhänge zwischen den sprachlichen Ele­menten ein hohes Niveau. Aber die Einseitigkeit der strukturellen Gramma­tik findet auch hier einen Niederschlag im Ignorieren der inhaltlichen und funktionalen Seite der erforschten Strukturen, die methodologische Schwä­che drückt sich im Ignorieren des gesellschaftlichen Charakters der Sprache und ihrer kognitiven und kommunikativen Leistung aus.

Die generative Grammatik erhält auch in der BRD nicht allgemein Aner­kennung. Zu ihren Opponenten gehören sowohl die Vertreter der inhaltbezo­genen Grammatik mit Leo Weisgerber an der Spitze als auch die Anhänger der kommunikativorientierten Grammatikforschung. Weisgerber schreibt in einem Artikel von 1972: „Eine noch gefährlichere Variante zeichnet sich in der Sprachwissenschaft der deutschen Bundesrepublik ab. Dort ist die gene­rative Sprachbetrachtung zum Sturmbock einer Strömung geworden, die un­ter dem entlehnten Namen einer Linguistik den Platz der bisherigen Sprach­wissenschaft einnehmen will und die unter Ausnutzung einer bestimmten wissenschaftlichen Situation die traditionelle Sprachwissenschaft, in der auch die energetische Betrachtung beheimatet ist, in den Hintergrund drängt. Dort muss man fast von einer Zuspitzung sprechen, in der die Bezüge der Logi­stik, Kybernetik, Computerwesen die geisteswissenschaftlichen Grandlagen Überlagern sollen" [280], Sehr treffend kritisiert die generative Forschungs­richtung um dieselbe Zeit Karl-Otto Apel: „Die Einseitigkeit bzw. Unvoll­ständigkeit liegt m. E. vor allem im Fehlen einer adäquaten Semantik und im Fehlen einer pragmatisch erweiterten Theorie der Sprachkompetenz" [13]. Unter Pragmatik versteht der Verfasser den kommunikationsbedingten Aspekt der Sprachbetrachtung.

Eine spezifische Form der strukturellen Linguistik, die in der BRD große Verbreitung hat, ist die sog. Dependenzgrammatik (Abhängigkeitsgramma-tik)._ Sie geht auf die strukturelle Syntax Tesnieres zurück und hat die syn­taktische Architektonik des Satzes zu ihrem Gegenstand. Letztere wird durch die syntaktischen Beziehungen (Konnexionen) im Satz bestimmt und wird grafisch durch den Stammbaum mit verschiedenen Gabelungen dargestellt. Vgl. bei Engel [59]:



Eo

mein kleines Mädchen


Pfeif


E,

den Kaiserwalzer


 


Mein kleines Mädchen pfeift den Kaiserwalzer.


alle


komm


du Wenn du kommst, mache ich alle Lichter an.

Die Dependenzgrammatik wird auch Verbgrammatik genannt, da sie dem Verb den oberen Rang im Satz zuweist und alle übrigen Elemente auf das Verb bezieht.

Aus der Konzeption Tesnieres sind die moderne Valenztheorie sowie das Darstellungsmodell der syntaktischen Beziehungen in der Wörtgruppe und im Satz hervorgegangen, die heute weit über die strukturelle Linguistik hin­aus verbreitet sind. Jedoch weist die Dependenzgrammatik in ihrer klassi­schen Form charakteristische Gemeinsamkeiten mit den anderen strukturali-süschen Forschungsrichtungen auf (vgl.: Heringer; Engel; Baum; S e ó f e r t). Sie ist ebenfalls der Formseite der Sprache zugewandt, ihr feh­len ebenfalls die semantische und die kommunikativ-pragmatische Kompo­nente, die eine notwendige Voraussetzung für eine adäquate Darstellung der Grammatik einer natürlichen Sprache sind.

§ 6. Die inhaltbezogene Grammatik

Eine andere Forschungsrichtung, die inhaltbezogene Grammatik (Sprach-inhaltsforschung, energetische Sprachbetrachtung), geht vor allem auf die Schriften eines der führenden westdeutschen Sprachforscher Leo Weis­gerber zurück. Die Grundsätze der inhaltbezogenen Grammatik sind in seinen Werken „Weltbild der deutschen Sprache" 1950, die 2. Auflage 1953 (die 3. Auflage 1962 unter dem neuen Titel „Grandzüge der inhaltbezogenen Grammatik"), „Die vier Stufen in der Erforschung der Sprache" (1963), „Die geistige Seite der Sprache und ihre Erforschung" (1971) und in zahlreichen Aufsätzen dargelegt. Die Schriften Weisgerbers haben sprachphilosophischen Charakter, sie enthalten keine systematische Darstellung der Grammatik im eigentlichen Sinne, sondern entwerfen nur die allgemeinen Richtlinien zur Schaffung einer neuen „inhaltbezogenen" Grammatik und suchen sie durch einzelne Proben „inhaltbezogener" Analyse zu veranschaulichen.


Die Grundlage der inhaltbezogenen GrammatiJk ist die kantianische Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts; sie ist ein Zweig der in Deutsch­land schon in den 30er- Jahren im Bereich der Semasiologie und der allge­meinen Sprachwissenschaft aufgekommenen neohumboldtianischen For-schungsrichtang, der auch Jost Trier, Walter Porzig und Günter Ipsen ange­hören. Die inhaltbezogene Grammatik hat ein ausgesprochen national-psy­chologisches Gepräge und steht der Ethnolinguistik von Sapir-Whorf nahe.

Ausgangspunkt des Neohumboldtianismus sind die Lehrsätze Humboldts über die Unabhängigkeit des Geistes von der objektiven materiellen Außen­welt und von der Entwicklung des Geistes nach seinen eigenen immanenten Gesetzen. Nach Humboldt besteht keine unmittelbare Verbindung zwischen dem Geiste des Menschen und der Außenwelt. Zwischen ihnen befindet sich als Vermittler eine „sprachliche Zwischenwelt". Die Sprache hält die beson­dere Weltansicht fest, die sich ein Volk macht und die von einem Volk zum anderen variiert. Nationalbedingt, „muttersprachlich" sind also nicht nur der äußere Klang, sondern auch die Sprachinhalte selbst und die gesamte „Welt­ansicht" der Sprache, Das Weltbild, das sich verschiedene Nationen machen, ist nach Humboldt kein Reflex, keine Abbildung der Außenwelt, sondern eine besondere nationalbedingte Sehweise der Welt. Auf diesen sprachphilo­sophischen Grundsätzen beruht Humboldts Lehre von der inneren Sprach­form,dem inneren Charakter einer Sprache, der die Eigenart der rrratter-sprachlichen Weltansicht, des muttersprachlichen geistigen Gestaltens der Welt widerspiegelt, und seine Lehre von der inneren Wortform,worin sich die nationalbedingte „muttersprachliche Ansicht einer Sprache" verkörpert. Auf diesen Lehrsätzen Humboldts baut Weisgerber seine Konzeption der inhaltbezogenen Grammatik auf. Der Kernbegriff der inhaltbezogenen Gram­matik ist der Sprachinhalt.Es handelt sich nicht um die übliche Interpreta­tion grammatischer Formen zur Beschreibung ihrer Bedeutung, sondern um eine Neudeutung des Formenkreises der einzelnen Wortarten und der Satz­baupläne und um die Erschließung der „rauttersprachlichen Weltansicht" ei­nes Volkes. Wir begegnen hier also dem Bestreben, das bereits Drachs Sy­stem innewohnt und vor ihm den Ausführungen Finks („Der deutsche Sprachbau als Ausdruck deutscher Weltanschauung", 1889) eigen war, die Sprachstruktur national-psychologisch zu deuten, Sprachform und geistige Anlage eines Volkes zu identifizieren (vgl. S. 16). War es aber in Drachs „Grundgedanken" ein Anhängsel an eine sehr gediegene und originelle Be­schreibung der grammatischen Struktur selbst, an eine treffende Darstellung der Eigenart des deutschen Sprachbaus, so verschiebt sich das Hauptgewicht in Weisgerbers Schriften gerade auf national-psychologische Probleme.

Ein anderer Lehrsatz Humboldts, den Weisgerber aufgreift und „erneu­ert", ist, dass die Sprache nicht nur als Ergon,sondern zugleich und darüber hinaus die Energia, d. h. eine aktive gestaltende Kraft ist. Aus diesem Lehr­satz zieht Weisgerber eine Schlussfolgerung, dass die Sprache feine wirk-Hchkeitsgestaltende Kraft hat, indem sie „ununterbrochen Wirkungen auf das geschichtliche Leben einer Sprachgemeinschaft ausübt" und auch zu politischen Konflikten führen kann. Den Nachweis der These über die wirk-


lichkeitsges faltende Kraft der Sprache bezeichnet Weisgerber als die ener­getische Sprachbetrachtung. Weisgerber unterscheidet vier Stufen der Er­forschung der Sprache: die laut- bzw. gestaltbezogene, die inhaltbezogene, die leistungbezogene und die wirkungbezogene Sprachbetrachtung. Die ge-stalt- und inhaltbezogene Sprachbetrachtung der Sprache helfen die „mut­tersprachliche Weltansicht einer Sprachgemeinschaft" zu erschließen, sie bilden die erste, statischeStufe der Sprachbetrachtung. Die leistung- und wirkungbezogene Sprachbetrachtung decken die wirklichkeitsgestaltende Kraft der Sprache auf. Das ist die energetische Sprachbetrachtung und höch­stes Ziel der Sprachforschung.

Bei der Behandlung konkreter grammatischer Phänomene kommt Weisr gerber zu manchen interessanten, zuweilen sehr überzeugenden, zum Teil aber auch paradoxalen Schlussfolgerungen. Er betont, dass die Bedeutung der herkömmlichen grammatischen Termini sich durchaus nicht mit den „sprachlichen Inhalten" der bezeichneten Formen deckt. Er zeigt es am Bei­spiel der Termini Einzahlund Mehrzahl,angewandt auf solche Substantive wie Gold, Vieh, Güte, Blut, am Beispiel der Mehrdeutigkeit des Präsens und des Futurs. Die Vorschläge Weisgerbers gehen dahin, auf die herkömmli­chen grammatischen Termini zu verzichten (statt Präsens, Präteritum, Futur werden zum Beispiel die Bezeichnungen 1. Stammform, 2. Stammform, Umschreibung mit werden eingeführt) und den den Wortarten angeglieder­ten Formenkreis neu zu deuten. So sagt Weisgerber zum Beispiel, dass die Formen ich gehe und ich werde gehen durchaus keine synonymen Zukunfts­bezeichnungen sind; nur die erste Form hat rein zeitliche Bedeutung: Ich gehe morgen in die Stadt, während der zweiten Form über den Zeitbezug hinaus noch die modale Bedeutung des „willensmäßigen Darangehens'1 ei­gen ist. Der 2. Person der Umschreibung mit werden sei am häufigsten die modale Bedeutung des nachdrücklichen Befehlens eigen: Du wirst jetzt nach Hause gehen, der 3. Person fehlt in der Regel die Zukunftsbedeutung, liiersei die modale Bedeutung der Wahrscheinlichkeit vorherrschend: Er wird jetzt (wohl) im Zuge sitzen. „Wie soll man", sagt nun Weisgerber, „ange­sichts dieses Befundes die Behauptung wagen, im Deutschen sei die Um­schreibung „werden + Infinitiv" der sprachliche Ausdruck für die Zukunft?" [276].

In den „Vier Stufen" gibt Weisgerber eine Probe der vierstufigen Analy­se einer grammatischen Kategorie, und zwar des Passivs. Die ersten zwei Stufen (gestaltbezogen — inhaltbezogen) gehen nicht über die traditionelle Darstellung hinaus: Der Formenbestand der Verben, die durch Genera verbi gekennzeichnet sind, wird inventarisiert, die Opposition AktivPassivwird auf Grund des Funktionierens der Formen inhaltlich gedeutet. Das Er­gebnis der Analyse ist: Das Passiv bedeutet nicht leidend, bewirkt,sondern vor allem täterabgewandt, täterfrei.Mit der dritten Stufe der Beobachtung beginnt die energetische (leistungbezogene und wirkungbezogene) Betrach­tung. Hier beginnt ein rein subjektives Heramspekulieren, das nur auf der Fantasie des Forschers aufbaut: „Es ist auf den ersten Blick klar, daß es nicht nur um Formen des Beschreibens und Darstellens geht, sondern um Verfah-


rensweisen des Auffassens. Und da diese einer Muttersprache angehören und von da aus gelten, so ist die Folgerung unvermeidlich, daß es sich um Wege muttersprachlicher Weltgestaltung handelt" [278]. Die Frage nach der

der Erforschung ist Weisgerber bemüht, nachzuweisen, welche Folgen die im Passiv festgehaltene „Sehweise" „für die Gestaltung des menschlichen Lebens" hat. Wir lesen darüber: „Wenn nun neben diese täterbezogene Dia­these eine täterabgewandte Sehweise tritt, so hat das weit eichende Folgen für die Interpretation der Welt" (ebenda).

Die sprachphilosophischen Ansichten Weisgerbers waren mehrfach Ge­genstand einer scharfen Kritik (s.: M e i e r [167]; Seidel [234]; H e 1 b i g [113];Neumann[185];Guchmann[93];Theoretische Proble­me der Sprachwissenschaft[266]).

Die Schriften Weisgerbers werden von den Sprachforschern in der BRD gern zitiert und sein Herangehen an die Phänomene der Sprache wird zum Teil nachgeahmt. Aber die grammatische Lehre Weisgerbers bleibt skizzen­haft. Sie ist nicht über die Interpretation einiger Einzelerscheinungen der deutschen Sprache hinausgekommen, so dass das sprachphilosophische Pro­gramm Weisgerbers in keiner Grammatik der deutschen Sprache einen Nie­derschlag gefunden hat.

Trotz des skizzenhaften und oft widerspruchsvollen Charakters der gram­matischen Lehre Weisgerbers war sein Einfluss auf die Sprachforschung in der BRD in den 50er- und 60er- Jahren unverkennbar groß. Es handelte sich aber meistens nicht um die Realisierung des gesamten sprachphilosophischen Programms von Weisgerber, sondern vielmehr um eine mehr oder weniger tief greifende Auswertung einzelner polemischer und konstruktiver Elemen­te seiner Konzeption, um die Übernahme einiger seiner Termini und seiner Phraseologie. So finden wir in der Duden-Grammatik die Weisgerber'sehen Termini 1. Stammform, 2. Stammform für Präsens, Präteritum [85]. Glinz spricht in seinen späteren Schriften von der „seelisch-geistigen Welt", die durch die Sprache geschaffen wird; er betrachtet die sprachlichen Inhalte als „geistige Größen eigenen Rechts" und die Satzpläne als „geistige Grundbil­der" (Näheres s.: [114]).

§ 7. Funktionale, kommunikative und pragmatische Grammatik

Inder deutschen Grammatikforschung entwickelte sich immer intensiver eine neue Forschungsrichtung, die funktionale Grammatik. Kennzeichnend für diese Forschungsrichtung ist die Auffassung der Sprache als materielle Existenzform und Medium des Denkens und als Mittel der gesellschaftli­chen Kommunikation sowie die Anwendung des dialektischen Gesetzes der unlöslichen Einheit von Inhalt und Form für die Entwicklung der Gramma­tiktheorie. Dieses Bestreben entspringt der Erkenntnis, dass die Grammatik­theorie ein Teil der allgemeinen Sprachwissenschaft ist und dass beide eine gemeinsame methodologische Grundlage haben. Karl Ammer und Georg


F.Meier schrieben 1964 im einführenden Vortrag zum Ï. Symposion „Zei­chen und System der Sprache": „Die Grammatiktheorie darf nicht unabhän­gig von der Sprachtheorie existieren. Grammatik ist ein Teil der Sprache, sie muß also auch die Hauptkriterien der Sprachdefinition erfüllen" [12].

Große Bedeutung für die Klärung der Grundbegriffe der Sprachwissen­schaft aus der Sicht der dialektisch-materialistischen Sprachlehre hatte in den 50er- und 60er- Jahren die Veröffentlichung einer Reihe von Monogra-fien im Bereich der allgemeinen Sprachwissenschaft und der Erkenntnis­theorie (vgl.: G.F.Meier. „Ein Beitrag zur Erforschung der Beziehungen von Sprache und Denken und der Entwicklungsgesetzmäßigkeiten der Spra­che", 1952; G.F.Meier. „Das Zero-Problem in der Linguistik", 1961; W. S ñ h m i d t. „Lexikalische und aktuelle Bedeutung", 1963; E. À1 b ã å ñ h t. „Beiträge zur Erkenntnistheorie und das Verhältnis von Sprache und Den­ken", 1959; G. Ê1 a u s. „Die Macht des Wortes", 1965; A. N e u b e r t. „Se­mantischer Positivismus in den USA", 1962 u. a.). Große Bedeutung hatten auch die Aussprachen zu den Grundproblemen und Grundbegriffen der Sprachwissenschaft auf dem I. und II, Symposion „Zeichen und System der Sprache", die 1959 und 1964 von den Sprachforschern der DDR veranstal­tet wurden.

Problemen der Grammatiktheorie galten zahlreiche Diskussionsbeiträge der Teilnehmer des I. und II. Symposions. Auch in den nachfolgenden Jah­ren wurden diese Probleme in zahlreichen Monografien und Aufsätzen von Flämig, Heibig, Fleischer, Große, Agricola, Neumann, Bondzio, Pfütze, Som-merfeldt, Bierwisch, Heidolph, Motsch, Härtung u. a. entwickelt.

Als erster Charakterzug dieser neuen Forschungsrichtung ist das Postu­lieren der dialektischen Einheit von Inhalt und Form bei der Behandlung des grammatischen Systems. In dem oben zitierten Vortrag von K, Ammer und G. F. Meier hieß es: „Die Definition der Sprache besagt aber, daß die Spra­che ein historisch entstandenes System von Zeichen darstellt, das der Kom­munikation in einer menschlichen Gesellschaft dient. Wird ein Zeichen als ein formal beschreibbares Element aufgefaßt, das mindestens eine Bedeu­tung hat, und ein (gesprochener oder geschriebener) Text als eine sinnvolle Anordnung von Zeichen, so ergibt sich daraus, daß Textelemente und Text­anordnung formal und semantisch beschreibbar sein müssen, das heißt, daß Lexik und Grammatik eine formale und eine semantische Seite besitzen. Es ist zwar aus methodischen Gründen möglich, die formale und die Bedeu­tungsseite zeitweilig zu abstrahieren, aber es darf aus dieser methodischen Operation keine sprachtheoretische Konzeption abgeleitet werden" [12]. Ausgehend vom bilateralen Charakter des sprachlichen Zeichens als Einheit von Lautkomplex und Bedeutung werden sprachliche Inhalte und Formen bei der Darstellung des Sprachbaus in ihrer unlöslichen Verbindung und Wechselbeziehung untersucht und dargestellt. Dies kennzeichnet die gesam­te Darstellung des grammatischen Systems in den „Grundfragen der deut­schen Grammatik" W, Schmidts, die Untersuchungen Flämigs im Bereich der grammatischen Kategorien des Verbs [68,69,70], die Hervorhebung der formalen und der inhaltlichen Seite bei der Satzmodellierung durch R. Gro-


ße [92], die „Grandzüge einer deutschen Grammatik", eine theoretische Darstellung des grammatischen Systems, verfasst von einem Autorenkol­lektiv des Zentralinstituts für Sprachwissenschaft an der Akademie der Wis­senschaften der DDR (H e i d î 1 p h, F1 ä ra i g, M î t s ñ h). Der bilaterale Charakter der sprachlichen Zeichen als Einheit von Bedeutung und Form wird hier ausdrücklich betont: „Die „Grundzüge" betrachten die Zweiseitig­keit des sprachlichen Zeichens als grundsätzlichen theoretischen und me­thodischen Ausgangspunkt der Grammatik" [110].


Date: 2016-03-03; view: 1847


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