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Worauf laß ich mich ein? 20 page

Abermals neue Einflüge. Über Frankreich steuerten starke Kampfverbände den Raum Koblenz –Saarbrücken an. „Die haben heut nacht aber viel vor“, sagte Gomulka. Wolzow zog mit einem Flakwehrmann den Wischer durchs Rohr.

Erst morgens gegen vier, als es schon taghell war, wurden die letzten Pulks im Abflug gemeldet.

Holt hatte keine Vorstellung, wie der Streit mit Ziesche beizulegen sei. Als sie die Plane über die Kanone zogen, be­obachtete er Ziesche und atmete auf, als er ihn wie alle ande­ren in die Stube gehen sah, wo er sich erschöpft aufs Bett warf.

Den Papierkram mußte er noch unter seiner Bluse tragen. Einen Augenblick dachte Holt daran, ihm den angefangenen Brief mit Gewalt zu entreißen.

Ziesche schlief, leise schnarchend. Alle schliefen. Nur Holt lag abgespannt und übermüdet wach und suchte einen Aus­weg. Er erwog, sich doch noch Wolzow anzuvertrauen, ihn abermals beim Wort zu nehmen... Gegen sieben Uhr trieb ihn die Alarmglocke wieder ans Geschütz.

Der Morgen war frisch und klar. Im Osten, wo die Siedlung bombardiert worden war, lagerte eine undurchdringliche Rauchbank und verschleierte den Horizont. Die Leitungsprobe mit den optischen Feuerleitgeräten war kaum vorüber, als schon einzelne schnelle Maschinen gemeldet wurden. Sie flo­gen den Rhein entlang nach Süden. Ziesche meldete starke Kampf- und Jagdverbände über Südostholland. Gomulka sagte: „Bomber mit Jagdschutz? Da werden sich unsere Jäger freuen!“ – Wenn’s nur nicht wieder Tiefangriffe gibt, dachte Holt sorgenvoll.

Wolzow begann zu fluchen. Jetzt, da die Flakwehrmänner die Stellung verlassen hatten und die Jungen allein am Geschütz waren, stellte es sich heraus, daß nachts die Munition aus den Bunkern am Geschütz verschossen worden war. „Also los“, befahl Ziesche, „Patronen von der Zweitausstattung ranholen! Tempo!“ Während sie die Körbe über den Acker zum Geschütz schleppten, wurde das Auf und Ab der Sire­nen laut. Zugleich erhob sich auf der Befehlsstelle das übliche Geschrei.

Holt warf den zentnerschweren Korb auf den Acker und lief zum Geschütz. Er brachte in der Aufregung nicht den Stecker des Kopfhörers in den Kontakt an der Seitenricht­maschine. „Rohre Richtung neun!“ schrie Ziesche. Irgendwer sagte: „Pfadfinder!“ Nur schwaches Motorengeräusch drang an Holts Ohr. Er blickte auf. Drei Maschinen zogen über den Himmel, sehr schnell. Wahrscheinlich Lightnings! In der klaren Luft standen auf einmal schmale, hohe, scharf begrenzte Rauchsäulen. Holt begriff nur langsam. „Sie stecken uns ab, mit Rauchzeichen!“ brüllte Ziesche außer sich. Holt sah sich erstaunt nach allen Seiten um: überall standen die Rauchzei­chen über der Stellung, vor ihm, beim Kugelbaum mußte das sein, riesenhaft, und hinter ihm, bei der Kantine, und nun erst begriff er, daß dies Zielmarkierungen und sie selbst das Ziel waren ... Auch Wolzows Stimme war heiser: „Heut sind wir dran!“ Fern, rasch stärker werdend, erscholl Motorenlärm. „Fliegeralarm ... Flugzeug neun!“ schrie Ziesche verzweifelt. „Schießen mit Kommandohilfsgerät, direkter Anflug!“ In Holts Kopfhörer sprach es klar und deutlich: „Seite steht bei neunundvierzig-dreißig ...“ – „Anton feuerbereit!“ schrie Ziesche. „Gruppenfeuer...“ – „Schön zügig Patronen her!“ rief Wolzow, und Ziesche brüllte überschnappend: „Gruppe!“ Holt zog den Kopf zwischen die Schultern und drückte sich eng ans Geschütz. Der Schuß schmetterte und ließ die Kanone auf­bocken, die Kartusche klirrte auf einen Holm. In Holt zog Ruhe ein: Gilbert schießt! Noch ehe er das gewaltige Rauschen wahrnahm, diesen heranheulenden Orkan, erlosch der helle Morgen, die Erde hob sich und schwankte und bebte, und Holt war es, als falle er ins Bodenlose... Als er sich aufraffte und nicht wußte, was geschehen war, zitterte die Luft unter den nahen Bombermotoren, und ringsum gab es keinen Ge­schützstand mehr, nur noch umgepflügte Erde und zersplitterte Balken, und mittendrin kauerte Wolzow am Boden, und vor ihm kniete Gomulka und wickelte ihm ein Verbandpäckchen um die Stirn. Holt spuckte Schlacke und Erde aus. Wo war die Kanone? Er sah sie umgestürzt, statt des schlanken Rohres ragte ein Holm der Kreuzlafette in den Himmel, dahinter la­gen ein paar blaugraue Gestalten bewegungslos auf der schwarzen Schlacke. Er kroch zu Wolzow hin, der sich den Helm auf den verbundenen Kopf stülpte. „Los! Zu Berta!“ Holt taumelte mühsam hoch, warf einen Blick auf die leblosen Gestalten hinter und unter dem umgestürzten Geschütz, dann lief er über den zerklüfteten Acker. Er sah am Himmel, breit auseinandergeweht, die Rauchzeichen, er sah eine Kette viermotoriger Bomber in geringer Höhe die Stellung anflie­gen und warf sich zu Boden. Die Abschüsse zweier Geschütze erschreckten ihn so sehr, daß er sich in einen riesigen Bombentrichter hinabrollte. Dort lag Wolzow, mit blutigem Gesicht, und schrie: „Die zweite Welle!“ Der Motorenlärm der tief anfliegenden Bomber war so stark, daß Holt kaum verstand. Wie ein Windstoß fegte es über ihn hin. Zugleich traf ihn die Schallwelle mit solcher Gewalt, daß er sekundenlang nach Atem rang. An seinem Ohr stöhnte Wolzow: „Munition... Jetzt ist Munition in die Luft geflogen ...“ Das Dröhnen der Motoren ließ nicht nach. Ein einzelnes Geschütz schoß und verstummte. Holt und Wolzow kletterten aus dem Trichter und liefen zu Geschütz Berta.



Dort hatten Gomulka und Vetter und zwei von den Schlesiern Schutz vor den Bomben gesucht und machten nun in fieberhafter Eile die Kanone feuerbereit. Wolzow wuchtete den Verschluß auf. „Werner Geschützführer! Sepp K 1! Chri­stian K 6! Los doch, Schröder, steh nicht rum und mach K 2! Du hier, du bist K 7...“ Holt legte das Kehlkopfmikrophon um den Hals. Welch Wunder, die Leitung hatte Strom! Mit unbeschreiblicher Erleichterung vernahm er Gottesknechts Stimme. Wolzow rief: „Wir brauchen Munitionskanoniere!“ – „Hier Berta!“ meldete sich Holt. „Besetzt mit sechs Kano­nieren von Anton. Wir brauchen Munitionskanoniere!“ – „Ich schick euch Leute vom Funkmeßgerät“, sagte Gottes­knecht. „Berta! Wer ist Geschützführer? Sind Sie das, Holt?“ – „Jawohl.“ – „Wie sind die Verluste an Anton?“ – „Ich weiß nicht.“ Es summte in der Leitung. „Geschütze... mel­den!“ – „Hier Berta!“ Nur das Geschütz Cäsar folgte. Auf der B 2 brüllte Kutschera: „Wollt ihr wohl zu Dora und Emil Notleitungen legen!“

Ein paar Luftwaffenhelfer drängten sich in den Geschütz stand. „Was gibt’s auf der B 2?“ fragte Gomulka. Es gab nur Schäden durch Luftdruck. Bei Geschütz Frieda waren die Munitionsbunker detoniert. Die Leute vom Funkmeßgerät sagten apathisch: „Dort rührt sich nichts mehr!“ Wieder nahte Motorenlärm. Gottesknechts Stimme, im Kopfhörer, fremd und rauh: „Fliegeralarm! Flugzeug neun! Direkter Anflug!... Die dritte Welle!“ Holt brüllte die Kommandos heraus, ohne es zu wissen. Die Kanoniere meldeten „Einge­stellt!“ – „Berta feuerbereit!“ Er blickte zum Himmel, dort zog abermals eine Kette viermotoriger Bomber heran. „Grup­penfeuer!... Gruppe!“ Wolzow lud rasch und sicher. Nur zwei Kanonen schossen. „Gruppe!“ Wolzow zog schon ab. Das Rohr fuhr immer höher empor. „Wendepunkt!“ Die Kanone schwenkte nach Osten. Das Rauschen der Bomben war im Schießen untergegangen, ringsum wuchsen die Rauch­pilze und Erdfontänen zum Himmel, der Geschützstand bebte. Holt keuchte: „Gruppe!“ Tatsächlich, Wolzow lud und zog ab; Gottesknechts Stimme sagte im Kopfhörer: „Diesmal ging’s weit daneben!“ Wolzow schob in einer wahren Raserei Patrone um Patrone ins Rohr und schoß ohne Befehl und ohne Pause, bis Vetter meldete: „Zünder über Bereich!“

„Feuerpause!“ Gottesknechts Stimme im Kopfhörer: „Einen Moment! Luftlage!“ Es dauerte lange, bis er sich wieder mel­dete. „Alle Verbände im Abflug. Feuerbereitschaft aufgeho­ben.“ – „Berta verstanden.“ Holt war auf einmal unsagbar müde. Er riß die Hörergarnitur herunter und reichte sie Wol­zow, der auf einem Holm saß, den verbundenen Kopf in die Hände gestützt.

Holt lief zu Anton.

Er fand sich in der Stellung nicht zurecht. Zwischen den Geschützen war die Erde wie umgepflügt. Bombentrichter gähnten. Der Geschützstand von Anton war ein Haufen Erde, aus dem zersplitterte Teile der Holzverschalung ragten. Holt kletterte über die Reste des Erdwalles zu der umgestürzten Kanone. Er stieß auf Rutscher, der mit dem Unterkörper zwischen dem Pfahlwerk des Bunkers und der Lafette eingeklemmt und zerquetscht worden war. Der Anblick war schreck­lich. Holt wurde übel. Er erinnerte sich unvermittelt an Rut­schers große und schöne Schwester... Er stieg über den Leichnam hinweg. Vor einem eingedrückten Munitionsbunker, aus dem die blanken Granatpatronen massenweise herausge­rutscht waren, lagen zwei weitere Gestalten. Die eine, klei­nere, war nicht zu erkennen, denn das Gesicht war zertrüm­mert und der Stahlhelm bis über die Augen herabgeglitten. Daneben lag Günter Ziesche, noch durch die Geschützführerleitung mit der Kanone verbunden. Er lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken, in einer Blutlache, und das Blut war aus Ohren, Nase und Mund geflossen. Das Gesicht war selt­sam in die Breite gezogen. Wie ist das nur geschehen? dachte Holt... Rutscher und Ziesche, dachte er... Er kauerte sich auf den Boden, öffnete Ziesche die Bluse, zog die Papiere her­vor und steckte sie in die Hosentasche. Dann nahm er ihm die Erkennungsmarke ab, auch dem Kleinen, den er nicht erken­nen konnte.

Gomulka war plötzlich bei Holt, noch andere Luftwaffen­helfer und ein paar Mann vom Batteriekommando. Gomulka sah Rutscher, und sein Gesicht wurde grau. Gottesknecht stand erhöht auf dem Erdhaufen, der einmal ein Geschütz­stand gewesen war, das Notizbuch in den Händen. Holt reichte ihm die beiden Erkennungsmarken. „Der Rutscher... Herr Wachtmeister...“ – „Es ist gut. Kümmern Sie sich um Berta.“

Gomulka sprang in einen Trichter, es würgte ihn, er er­brach sich. Dann sagte er: „Bei Frieda... die ganze Bedie­nung ... in Stücke gerissen.“

Holt dachte auf einmal weit zurück. Ich hab das Elternhaus satt gehabt, ich hab die Schule satt gehabt, ich hab es nicht mehr erwarten können, ich hab mich nach dem Krieg ge­sehnt ...

Bei Berta saßen alle bedrückt und schweigend an der Ka­none. Nur Wolzow tat, als wäre nichts geschehen. „Sechsund­dreißig Bombentrichter“, sagte er. „Bomben von fünfzehn oder zwanzig Zentnern! Und der Erfolg? Zwei Geschütze sind ausgefallen. Das nenn ich aus dem vollen wirtschaften!“ – „Laß dich verbinden“, sagte Holt. Durch Wolzows Ver­band sickerte Blut. Das Haar war verklebt, das Gesicht blutbeschmiert. Wolzow verließ den Geschützstand. Holt teilte die Bedienung neu ein.

Fehlt ein ordentlicher K 7, dachte er, nachts haben wir Flakwehrmänner, und was wird tagsüber? Er brüllte: „Los! Geschützreinigen!“ Die Schlesier zogen gehorsam den Wischer durchs Rohr.

Auf dem Fahrweg hielten Sanitätsautos. Gomulka sagte: „Ich werde nie begreifen, was bei Anton passiert ist!“ Da tra­ten Kutschera und Gottesknecht in den Geschützstand. Der Hauptmann brüllte: „Heißer Morgen, was? Die Banditen ha­ben meinen Hund erschlagen, das verzeih ich denen nie!“ Holt sagte: „Wir brauchen einen K 3, einen K 7 und Muni­tionskanoniere!“ Gottesknecht notierte. „Herr Wachtmei­ster“, sagte Holt, als Kutschera gegangen war, „darf ich mal telefonieren?“ Gottesknecht sah ihn zerstreut an. „Warten Sie. Die Leitungen sind noch überbeansprucht.“ Er dachte nach. „Wenn Sie telefonieren, dann können Sie mir eine ... Benach­richtigung abnehmen.“

Die Baracke war so sehr durchgeschüttelt worden, daß ihr Inneres einem Trümmerfeld glich. Es dauerte zwei Stun­den, ehe sie ein wenig Ordnung geschaffen hatten. Ein Bom­bentreffer hatte die Latrine weggefegt, der Unrat klebte an den Barackenwänden. Wolzow, noch immer mit durchblutetem Verband, stützte beide Hände in die Hüften. „Das ist ein ur­altes Kampfmittel“, sagte er. „Schon die alten Römer haben mittels sogenannter Bailisten Scheiße in belagerte Städte ge­schossen.“ Holt schrie ihn an: „Scher dich ins Revier!“ Er lief in die Schreibstube, wo Gottesknecht über den Mann­schaftslisten saß. „Dreizehn Tote, Holt, es ist furchtbar!“ Er klopfte mit dem Stift auf die Liste. „Die Bedienung Frieda bis auf den letzten Mann. Neun von den Schlesiern, die waren alle erst sechzehn.“ Holt fragte beklommen: „Wie ist das pas­siert?“ – „Volltreffer. Es müssen Neunhundert-Kilo-Bomben gewesen sein.“ – „Und bei uns, bei Anton? Ich versteh das nicht.“ – „Eine Bombe ist dicht hinter den Erdwall im Norden gefallen; was an der Nordwand stand, ist gewisser­maßen in Feuerlee gewesen... Wer weiter weg stand, muß in den Druck- und Splitterbereich geraten sein.“ – „Da hat der Sepp ein Riesenglück gehabt! Er stand links an der Höhenrichtmaschine.“ Gottesknecht sagte: „Ihr alle habt ein Riesen­glück gehabt.“ Er erhob sich. „Ich lasse Sie allein, tun Sie mir den Gefallen.“

Holt wartete lange auf eine freie Amtsleitung. Nun war das Gestern wieder gegenwärtig, so fern, als sei ein Jahr darüber hingegangen. Er wählte. Jetzt könnte sie doch mit mir ver­reisen, dachte er, aber das Blut stieg ihm zu Kopf bei diesem Gedanken. Frau Ziesche meldete sich: „Ich hab kein Auge zu­getan, die ganze Nacht! Was ist los? Seid ihr auch bombar­diert worden? Ich hör die tollsten Gerüchte!“ – „Ja. Es war schlimm. Wir haben dreizehn Tote.“ – „Und Ziesche? Was ist mit Ziesche? Er darf auf gar keinen Fall an seinen Vater schreiben!“ Er unterbrach sie. „Ziesche kann nicht mehr an seinen Vater schreiben. Er ist tot.“ – „Tot?“ fragte sie und zog das Wort in die Länge. „Bist du sicher, daß er nicht schon gestern abend geschrieben hat?“ Er stand starr. „Nein. Er hat nicht geschrieben.“ Die Verbindung wurde unterbro­chen, die Untergruppe verlangte den Chef. Holt schaltete den Apparat nach Kutscheras Baracke.

Er stand unbeweglich in der Schreibstube. Welch Glück, daß die Verbindung abgerissen war! Plötzlich schlugen seine Zähne aufeinander. Er fror. Er trat ins Freie.

Die Stellung wimmelte von Kriegsgefangenen, die an den Bombentrichtern schaufelten. Am Geschütz Anton wartete eine der schweren Zugmaschinen. Ein Dutzend drillichgeklei­deter Flaksoldaten von der Untergruppe richtete mit Hebebäu­men und Seilwinden die umgestürzte Kanone auf. Auch Got­tesknecht stand dort, mit Vetter und Gomulka. Ein paar Gefangene arbeiteten schon an dem zertrümmerten Geschütz­stand. Holt ging zu Gottesknecht. Wolzow meldete sich ab ins Revier. Gottesknecht musterte Holt und sagte: „Jetzt müssen Sie die Zähne zusammenbeißen!“ Holt lief davon... Es ist ja vorbei! Er warf sich auf sein Bett.

13.

 

Wolzow kehrte schon am folgenden Tag in die Batterie zu­rück. Er sah ziemlich mitgenommen aus. Man hatte ihm Dut­zende von kleinen Holzsplittern aus Stirn- und Kopfhaut ge­zogen. „Da ist nicht ein Bett mehr frei im Revier“, erzählte er. „Die 109. Batterie hat fünf Tote, die 136. vierzehn. Die Ver­letzten haben sie bis nach Bochum in ein Reservelazarett bringen müssen.“

Am Abend schaltete er Ziesches kleines Radio ein. „Der Ka­sten dürfte hin sein!“ sagte Gomulka. Aber auf einmal tönte aus dem Lautsprecher die harte Stimme des Sprechers. Holt fuhr kerzengerade auf seinem Bett empor. „... Juli neunzehnhundertvierundvierzig. Auf den Führer wurde heute ein Sprengstoffanschlag verübt. Aus seiner Umgebung wurden hierbei verletzt: Generalleutnant...“

„Das ist...“, rief Gomulka. „Still!“ fuhr Wolzow ihn an. „... Mitarbeiter Berger. Leichtere Verletzungen trugen da­von: Generaloberst Jodl, die Generale Körten ...“ Holt blickte immer abwechselnd auf Wolzow und Gomulka. Wolzow beugte sich aufmerksam über das Radio. Gomulka hielt den Mund offen und starrte wie hypnotisiert auf einen Fleck an der Wand. „... Bodenschatz, Heusinger, Scherff...“ Vetter richtete sich auf, ganz langsam, und sein Gesicht spiegelte Verständnislosigkeit. „... Führer selbst hat außer leichten Ver­brennungen und Prellungen keine Verletzungen erlitten“, sagte der Sprecher im Radio. „Er hat unverzüglich darauf seine Ar­beit wiederaufgenommen und wie vorgesehen den Duce zu einer längeren Aussprache empfangen...“ – „Den Duce?“ sagte Vetter. „Er hat den Duce...?“ Wolzow herrschte ihn an: „Ruhe – „...traf der Reichsmarschall beim Führer ein.“

Schluß, aus.

Die harte Stimme war verstummt. Wolzow stand schwei­gend, den Kopf schräggelegt. Aus dem Radio ertönte Marsch­musik. Vetter fragte, als habe er nichts verstanden: „Ein Attentat? Ein Bombenattentat? So ein richtiges Bombenatten­tat?“ Wolzow entschloß sich: „Das müssen wir melden! Wer weiß, ob das außer uns jemand gehört hat!“ Er nahm seine Mütze. „Komm, Werner!“

Draußen war es noch immer heiß. Die Sonne stand in den Dunstbänken über dem Horizont. Holt packte Wolzow am Arm. „Was hat das zu bedeuten?“ – „Woher soll ich das wissen?“ sagte Wolzow. Sie liefen über den Lattenrost, der außerhalb der Feuerstellung unbeschädigt auf dem Acker lag. Zwischen den Geschützständen schaufelten die Gefangenen an den Trichtern.

Gottesknecht stand vor der Schreibstube und rauchte seine kurze Pfeife. „Na, ihr Dioskuren?“ fragte er freundlich. „Holt, wie sehn Sie denn aus? Ist Ihnen der Schock gestern so tief in die Galle gefahren?“

Wolzow trat einen Schritt an Gottesknecht heran. Der Wachtmeister nahm die Pfeife aus dem Mund und zog ein eigenartiges, gespanntes Gesicht. Er blieb eine Weile schwei­gend stehen. Dann meinte er: „Es ist gut. Der Chef ist zur Untergruppe gerufen worden und noch nicht zurück...“ Er rührte sich nicht vom Fleck. „Der... Führer lebt, sagen Sie?“ – „Jawohl. Aber ein paar Generäle sind verletzt, Jodl, Heu­singer, Admiral Voß, ich hab mir nicht alle Namen merken können...“ Gottesknecht nickte abwesend, tief in Gedan­ken. Dann rückte er seine Mütze zurecht und verschwand wortlos in der Schreibstube. Wolzow sagte: „Beim Major, da wird der Chef vielleicht schon Einzelheiten erfahren.“ – „Ich versteh das alles nicht“, sagte Holt hilflos. „Denkst du, ich?“ meinte Wolzow.

In der Stube plärrte das Radio noch immer Marschmusik. Vetter und Gomulka stritten miteinander. „Und Badoglio?“ schrie Vetter. „Wie war das bei Badoglio?“ Gomulka machte eine abweisende Handbewegung. Er sah erschöpft und ver­fallen aus. „Hört doch mit dem Gequatsche auf“, sagte Wolzow. Er dämpfte die Musik. Holt saß verwirrt und apa­thisch auf einem Schemel. Ein paar Flakwehrmänner polterten durch den Korridor in die große Stube. Holt sah auf die Uhr, es war noch nicht acht. Wolzow fuhr ihn plötzlich an: „Sitzt der Kerl hier rum! Du bist mir ein schöner Geschützführer! Hast du denn deine Nachtbedienung schon beisammen?“ Holt erhob sich widerwillig.

Während der Leitungsprobe ging Gottesknecht von Geschütz zu Geschütz. „Sie bekommen einstweilen drei Mann von Dora und Flakwehrmänner. Morgen früh wird neu eingeteilt.“

Holt war so müde, daß er nur noch einen Gedanken kannte: Schlafen, mag kommen, was will! In der Stube warf er sich aufs Bett. Schon nach einer Stunde stieß ihn Wolzow in die Rippen: „Raus! Gefechtsschaltung!“ Der übliche schnelle Kampfverband flog über das Ruhrgebiet hinweg.

Im Geschützstand warteten die Flakwehrmänner, die nun die Nachricht von dem Attentat in der Batterie verbreiteten. Vetter sagte: „Also, mir ist das jetzt restlos klar. Das sind diese Bolschewisten gewesen.“ Wolzow meinte: „Und wie kommen die Bolschewisten ins Führerhauptquartier? Wo gibt’s denn so was!“ – „Also dann waren das diese Kommunisten“, sagte Vetter.

Einer der Flakwehrmänner sagte leise und gleichgültig: „Kommunisten? Deutsche Kommunisten? Die sind alle im KZ oder im Zuchthaus.“ – „Da gehören sie ja wohl auch hin!“ rief Wolzow scharf.

Erst kurz vor Mitternacht meldete der Luftwarndienst den schnellen Kampfverband im Abflug über der deutschen Bucht. Wolzow und Holt zerrten die Persenning über die Kanone. Vetter sagte: „Die Flakwehrmänner sind komisch.“ – „Pro­leten“, knurrte Wolzow.

In der Stube drehte Vetter an dem kleinen Radio, aus dem noch immer Marschmusik ertönte. Er sagte aufgeregt: „Der Führer spricht!“ Da wurde schon die Tür aufgerissen. Auf der Schwelle stand Kutschera, groß und bedrohlich. Vetter brüllte: „Achtung!“ Der Hauptmann winkte ab. „Alles in die Kantine! Gemeinschaftsempfang!“

Holt hatte sich nur die schweren, benagelten Schuhe aus­gezogen und war angekleidet auf sein Bett geklettert. Über­müdung und Abgespanntheit hatten einen solchen Grad er­reicht, daß er alles distanziert wie ein Zuschauer im Kino erlebte, unbeteiligt, gleichsam von fern, ohne innere Anteil­nahme. Geht mich alles nichts an, dachte er. Ich wach plötz­lich auf, da sitzt Ziesche auf seinem Bett und quatscht: Der nordische Mensch ist zur Neuordnung Europas bestimmt, oder so ähnlich ... Holt sprang vom Bett. Ist das tatsächlich erst gestern passiert? Ein Tag ist wie tausend Jahre, aber warum hat Kutschera nicht den UvD geschickt?

„Vetter!“ schrie Kutschera, und seine Stimme dröhnte wie ein Gong. „Was sagen Sie zu dem Anschlag auf unseren Führer Adolf Hitler?“

„Ich?“ stammelte Vetter. „Was ich ...? Meinen Sie, was ich...?“ – „Sie pennen wohl!“ schimpfte Kutschera. Go­mulka sagte unaufgefordert: „Herr Hauptmann, in den letzten vier Tagen haben wir keine fünf Stunden geschlafen!“ Kut­schera wandte Gomulka das Pferdegesicht zu, aber da rief Gottesknecht auf dem Korridor: „Herr Hauptmann, jeden Augenblick beginnt die Führerrede!“

In der Kantine drängten sich übermüdete Luftwaffenhelfer, Obergefreite und Flakwehrmänner. Gottesknecht bediente den großen Radioapparat, der sonst in der Chefbaracke stand.

Holt hatte weit hinten, in einer Ecke, Platz genommen, wo er sich wenig beobachtet fühlte. Er machte es sich auf dem harten Stuhl so bequem wie möglich. Wolzow saß neben ihm. Holt war nur noch halb wach, die klirrende Musik aus dem Lautsprecher wirkte einschläfernd. In diesem Schwebezustand zwischen Wachen und Schlafen war die Phantasie seltsam rege. Nun verstummte die Marschmusik. Der Ansager redete und redete. Großdeutscher Rundfunk, angeschlossen die Sen­der ... Sender und immer mehr Sender, dann war es still, eine lange Weile, und Holt dachte: Es geht gleich los!... Er legte den Kopf auf die Seite, so sah er Wolzows Profil. Sein Verstand taumelte an der Schlafgrenze entlang. Wolzow ist der beste Mann in der Geschützstaffel, deutsche Volksgenossen und Volksgenossinnen, und so einen Ladekanonier soll sich eine Batterie erst einmal suchen! Ich weiß nicht, zum wieviel­ten Male nunmehr ein Attentat auf mich geplant und zur Durchführung gekommen ist, zum wievielten Male?, na, aber das muß der Führer doch eigentlich wissen, komisch, so was merkt man sich doch, also, ich würde mir das genau merken, ein Bombenattentat passiert ja schließlich nicht alle Tage... Holt riß die Augen auf. Der Führer spricht! dachte er. Es war ein Zauberwort von Kindheit an: Der Führer spricht! Und zwar spricht er heute besonders aus zwei Gründen: er­stens, damit Sie meine Stimme hören und wissen, daß ich selbst unverletzt und gesund bin, zweitens, damit Sie aber auch das Nähere erfahren über ein Verbrechen, das in der deutschen Geschichte... hoppla, nicht einschlafen!... Eine ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und verbrecherischer dum­mer Offiziere ... Holt fuhr aus dem Halbschlaf hoch ... hat ein Komplott geschmiedet, um mich zu beseitigen ... Holt ver­suchte, den Schlaf abzuschütteln, es gelang, nur die Augen brannten, aber der Verstand war für ein paar Augenblicke hell­wach, Holt hatte das Gefühl, jemand habe ihm einen Eimer eiskalten Wassers über den Kopf gegossen. Offiziere? Ein Komplott deutscher Offiziere gegen den größten Führer al­ler Zeiten?

„Die Bombe, die von dem Oberst Graf Stauffenberg gelegt wurde, krepierte zwei Meter von meiner...“

Stauffenberg? Holt war nicht fähig, sosehr er sich auch Mühe gab, der Rede Wort für Wort zu folgen. Einzelne Satz­fetzen hakten sich in seinem Denken fest. Oberst Graf Stauffenberg? Ein Oberst legt eine Bombe? Was hat das zu bedeu­ten, wie ist das zu verstehen, was war damit bezweckt...?

„...bis auf ganz kleine Hautabschürfungen und Verbren­nungen. Ich fasse das als eine Bestätigung des Auftrages der Vorsehung auf, mein Lebensziel...“

Vorsehung, dachte Holt. Er erschlaffte. Müdigkeit und Er­schöpfung waren so stark, daß sie auch die Erregung nieder­zwangen. Ein Schleier zog sich über sein Bewußtsein, seine Gedanken liefen bunt wie im Traum durcheinander. Vor­sehung, Schicksal... Daß Ziesche heute morgen umgekommen ist, das ist auch die Vorsehung gewesen, sonst war mir’s näm­lich dreckig gegangen, Gertie und mir... Es ist eben doch gut, daß es eine Vorsehung gibt... Glaube an die Vorsehung, Glaube an Gott... Ich glaube an einen Sinn der Geschichte, das hab ich doch irgendwann einmal gehört, der Doktor Goeb­bels muß das gesagt haben, in einer Rede ... Ich glaube .. . aber mein Vater, mein Vater? ... der hat immer das Gesicht verzogen, wenn einer vom Glauben sprach, von der Vorse­hung. .. Kunststück: Der Intellektuelle glaubt nicht, weil er nicht glauben kann, das hab ich auch gelesen, bei Hanns Johst, und mein Vater ist überhaupt ein typischer Defätist, ein richti­ger Miesmacher! In der Schule mußte ich mal zwei Seiten Hanns Johst auswendig lernen: Es gibt in der Provinz des Glaubens keine Problematik, sondern eine Gnade, ja, keine Problematik, sondern eine Gnade, das hab ich damals nicht verstanden, heute versteh ich’s: man muß an den Führer glauben, an die Vor­sehung, an den Endsieg, an die Me 163, an die VI, an den neuen Ein-Mann-Torpedo, auch wenn die Russen bei Wilna weiter nach Westen vordringen, na, und mit der Invasion, vonwegen: die Brust hebt sich im Vorgefühl der entscheidenden Stunde ...

„Schlaf nicht!“ Holt wurde in die Seite gestoßen, das war Wolzow. Na ja doch! Der Führer spricht! Holt sah sich blin­zelnd um: alles starrte wie gebannt auf das Radio. Die heisere Stimme im Lautsprecher schrie: „.. wie im Jahre 1918 den Dolchstoß in den Rücken zu führen ...“.

Richtig, der Dolchstoß! dachte Holt schläfrig. Das war wohl die größte Gemeinheit damals! Wenn man sich das so überlegt, ein Dutzend Zuhälter und Deserteure, und sie haben der Front einfach die Waffe aus der Hand gewunden ... aber im Lesebuch stand: Und ihr habt doch gesiegt... und schlägt’s dich in Scherben, ich steh für zwei, und geht’s zum Sterben, ich bin dabei. ..

„... ganz kleiner Klüngel verbrecherischer Elemente, die jetzt unbarmherzig ausgerottet werden ...“

Ausgerottet: das hörte Holt noch, dann nickte er ein. Aber Wolzow stieß ihn derb in die Seite: „Mensch, hör zu!“ Holt raffte sich noch einmal auf und mühte sich, der Stimme im Radio zu folgen, „...befehle daher in diesem Augenblick: Erstens, daß keine Zivilstelle irgendeinen Befehl entgegenzu­nehmen hat von einer Dienststelle, die sich diese Usurpatoren anmaßen. Zweitens, daß keine Militärstelle, kein Führer einer Truppe, kein Soldat irgendeinen Befehl dieser Usurpato­ren ...“

Was bedeutet bloß Usurpatoren? grübelte Holt, das muß doch aus dem Lateinischen kommen, ach ja, usu rapere, da­mit war Wiese mal dran, Peter Wiese, der hat’s gut, der ist daheim und kann schlafen! „... entweder sofort zu verhaften oder bei Widerstand augenblicklich niederzumachen...“ Nie­derzumachen, auszurotten, dachte Holt, er begann zu frie­ren, aber das ließ ihn wieder munter werden. „... freudig be­grüßen“, hörte er verständnislos, da er den Zusammenhang verloren hatte, „daß es mir vergönnt war, einem Schicksal zu entgehen, das nicht für mich Schreckliches in sich barg, son­dern das den Schrecken für das deutsche Volk gebracht hätte. Ich ersehe daraus auch einen Fingerzeig der Vorsehung, daß ich mein Werk weiterführen muß und daher weiterführen werde...“ Stille. Eine andere Stimme: „Großdeutscher Rund­funk ...“ Vorbei!

Ringsum setzte heftiger, wenn auch gedämpfter Stimmen­lärm ein, alles redete durcheinander. Holt klapperte mit den Zähnen. „Batterie...“, rief Gottesknecht langgezogen, und der Stimmenlärm verstummte, „...Achtung!“ Ein einziges, donnerndes Füßeaufstampfen. Luftwaffenhelfer und Flakwehrmänner standen bewegungslos. Kutscheras Stimme, rauh und brüllend wie je, füllte den niedrigen Kantinenraum. „Be­fehle werden nur von direkten Vorgesetzten entgegengenom­men!“ Pause. Dann: „Die schwere Heimatflakbatterie 107 steht in bedingungsloser Treue zum Führer! Sollte jemand in der Batterie...“ Pause. Dann: „...oder sollte irgendeiner unter den Flakwehrmännern glauben, jetzt könnte man bißchen aufwiegeln, Zersetzung treiben...“ Pause. Dann: „... den leg ich selber um, an Ort und Stelle! Da bin ich mir gar nicht zu fein dazu!“


Date: 2016-03-03; view: 877


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