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Worauf laß ich mich ein? 19 page

Jetzt erst fiel Holt auf, daß jede dieser Definitionen mit einem Beiwort wie „unbarmherzig“, „brutal“ oder „rück­sichtslos“ versehen war, was den Begriff „Geheime Staats­polizei“ mit dem Geruch des Schrecklichen umgab. Womit hab ich angebunden! Was hab ich herausgefordert! Wie soll das enden! Immer neue Erinnerungen tauchten in seinem Bewußtsein auf, von weit her, gewaltsam aus dem Gedächtnis getilgt: „... Ruths Vater ist gar nicht wieder nach Hause ge­kommen, und niemand weiß, wo er jetzt ist...“, das hatte Marie Krüger erzählt, „und niemand weiß, wo er jetzt ist...“ – „Im Generalgouvernement bringen sie die Juden zu Hun­derttausenden um, die SS ...“, das war Gertie. Und der alte Mann in seinem muffigen Zimmer: „... tötet die SS heute Hunderttausende von Menschen.“

Eine Welt des Grauens tat sich auf.

Er sprang auf, warf einen Geldschein auf den Tisch und trat ins Freie. Er lief in eine Telefonzelle. Sie war außer Be­trieb. Er rannte planlos durch zerstörte Straßen, bis er ein Postamt fand. Endlich meldete sich Frau Ziesche. „Ich komm eben nach Hause, ich war bei Günter im Revier... Was gibt’s? Wo sprichst du?“ Er sagte: „Ich kann heut nicht in die Batterie zurück, erst morgen früh... Bitte, darf ich bei dir bleiben?“ Sie lachte. Er begriff nicht, warum sie so lachte. „Komm schon!“ Befreit hängte er den Hörer auf. Fürs erste war er geborgen.

Sie empfing ihn, nahm ihm den Stahlhelm ab und schob, als sie ihn ins Zimmer geleitete, gutgelaunt ihren Arm unter den seinen. „Was ist das für eine neue Mode?“ sagte sie. „Meinst du wirklich, du mußt Gruselgeschichten erfinden, wenn du bei mir bleiben willst?“ Jetzt wurde ihm klar, warum sie vorhin so gelacht hatte, und er sagte unwillig: „Du irrst dich. Ich bin in einer schlimmen Situation!“

Sie hörte sich an, was er erzählte, und während sie zuhörte, gefror ihr Gesicht. Noch ehe er fertig war, erhob sie sich, stellte das Radio ab und entzündete in nervöser Hast eine Zigarette. „Und was hast du damit zu tun?“ – „Ich hab Wolzow angestiftet“, sagte er.

„Bist du denn nicht bei Trost?“ sagte sie erregt. „Wie kannst du so etwas tun?“ Er blickte ihr in das blasse, feind­selig verschlossene Gesicht, tief enttäuscht. „Du hast recht“, sagte er müde. „Ich weiß, daß es nicht richtig war. Aber Ver­ständnis solltest du eigentlich dafür haben.“

„Nein!“ sagte sie scharf. „Da täuschst du dich gewaltig in mir. Ich bin eine deutsche Frau! Für so was habe ich nicht die Spur Verständnis!“

„Was denn, was denn“, sagte er fassungslos. „Wer hat mich denn konfus gemacht mit ‘Russischer Seele’?“ – „Ach ...“, sagte sie gedehnt und sah ihn mit einem unbeschreiblichen Ausdruck an. „Jetzt soll ich wohl an diesem Wahnsinn schuld sein?“ – „Jawohl, du!“ rief er, außer sich vor Zorn. „Streng dich nur ein bißchen an und erinnere dich!“

„So nicht, mein Lieber“, sagte sie leise, aber drohend. „So auf gar keinen Fall! Du möchtest mich wohl in die Sache hin­einziehen, ja? Gib dich keinen Illusionen hin, ich habe mehr Rückgrat als du!“ Sie beugte sich über den Rauchtisch entstellte Gesicht ihm zugewendet. „Treib mich nicht so weit, daß ich Ziesche gegen dich zu Hilfe rufen muß!“



Holt fühlte, wie ihn die Beherrschung verließ. Er wollte Frau Ziesche anschreien. Aber da erfaßte ihn verzweifelte Schwäche. Apathisch saß er im Sessel. War also Geschwätz, was sie von „russischer Seele“ erzählt hat, dachte er, hat sie gar nicht ernst gemeint...

„Such die Schuld erst einmal bei dir“, sagte Frau Ziesche, „bei den Einflüsterungen deines sauberen Herrn Vaters, bei deiner persönlichen Laschheit, der undeutschen Toleranz ...!“ Das ist allerhand! dachte Holt empört, und nun wurden auch in ihm gemeine Gedanken hochgespült. „Drohen...“, sagte er, „mit deinem Mann drohen ist sinnlos! Du denkst nämlich gar nicht daran, ihn gegen mich auszuspielen, ich könnte ihm immerhin ein paar... interessante Einzelheiten aus deinem Leben erzählen.“ Das war deutlich. Sie stieß nervös die Zigarette in die Aschenschale. Er sah mit Genugtuung, daß er die rechte Tonart gefunden hatte.

„Du entpuppst dich ja in einer netten Weise“, sagte sie. Er fiel ihr ins Wort: „Ich hab nicht zu drohen angefangen!“

Sie schwiegen beide. „Ich hab gedacht, du hilfst mir“, sagte er, „stehst mir bei... Aber du bist ja so unbeschreiblich falsch, daß...“ Jetzt fiel sie ihm ins Wort: „Du hast kein Recht, so mit mir zu sprechen!“

„Nein?“ fragte er. Zum erstenmal im Leben war er zy­nisch: „Da möcht ich wissen, was man noch anstellen muß mit dir, eh man dieses Recht hat!“ Das traf sie wie ein Schlag ins Gesicht.

„So!“ sagte er und stand auf. „Ich geh!“ Er hatte keine Freude mehr daran, sie beschimpft zu haben, er empfand we­der Scham noch Genugtuung, er fühlte in diesem Augenblick nur Gleichgültigkeit und dahinter dunkel und drohend die Angst. Auf dem Korridor konnte er seinen Stahlhelm nicht fin­den. Als er ihn schließlich auf einem Korbstuhl liegen sah, öffnete sich die Wohnzimmertür; Frau Ziesche war bleich, und die dunklen Augen glühten in dem blassen Gesicht. Leise, doch sehr deutlich sagte sie: „Du unverschämter Kerl wirst dich jetzt sofort bei mir entschuldigen!“ Er schaute sie ein wenig verwundert an und kam nicht los von ihrem Blick. Er sagte: „Es tut mir leid.“ Er faßte ihre Hand. „Verzeih mir.“

„Wolltest du wirklich fort?“ fragte sie später. – „Ja.“ – „Und an mich hast du nicht gedacht?“ – „Nein. Aber du hät­test mir gefehlt.“ – „Du bist ein dummer, unverschämter Junge“, flüsterte sie. „Und du bist falsch“, sagte er, noch im­mer böse. Aber sie drängte sich gegen ihn. „Jetzt bin ich nicht falsch“, flüsterte sie. Die Sirene trieb sie hoch.

Voralarm. Während Holt die Uniform überzog, stellte sie im Wohnzimmer das Radio an. Starke feindliche Kampfver­bände im Anflug über der deutschen Bucht. Aller Voraussicht nach galt das nicht ihnen. „Wir hätten uns Zeit lassen kön­nen“, sagte er. Sie richtete im Wohnzimmer den Teetisch her, nun saßen sie ohne Licht vor den weitgeöffneten Fen­stern. Kurz vor Mitternacht heulten die Sirenen Vollalarm. „Ich hätte mich doch lieber anziehen sollen“, sagte sie, noch immer im Kimono. Er beruhigte sie: „Es sind abfliegende Ver­bände.“ Zwanzig Minuten lang zogen die Bomber vorbei. Flak grollte im Norden. Sie standen am Fenster. Entwarnung! Sie sagte: „Jetzt ruf ich in der Batterie an und frag nach dir!“ – „Mitten in der Nacht? Frag lieber nur, wenn sich Gottesknecht meldet, er wird bestimmt noch auf der B 2 sein!“

Holt brachte sein Ohr dicht an ihr Gesicht; so konnte er mithören. Gottesknecht meldte sich. „Holt? Wer spricht denn da? Ach so! Nein, Holt hat Ausgang. Er wird morgen früh zu sprechen sein. Hier liegen günstige Nachrichten für ihn.“ Frau Ziesche sagte noch: „Das hört man gern!“ Holt warf sich aufatmend in einen Sessel.

Am Morgen schob sie ihm ein großes zusammengerolltes Heft unter den Arm. „Schau dir das an, damit du siehst, für wen du dich eingesetzt hast.“ Er stopfte die Zeitschrift durchs Koppel und rückte die Mütze zurecht, sie stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte, den Mund an seinem Ohr: „Komm bald wieder!“

In der Straßenbahn nahm er sich das Heft vor. Vom Titel­blatt grinste ihn eine grauenhafte Menschenfratze an. Dar­unter große, fahle Buchstaben: „Untermenschen...“, „IB Sondernummer“. Viele Seiten lang die gleichen tierischen Ge­sichter, mittelalterliche Teufelsmasken, verzerrt, mit gebleck­ten Raubtierzähnen. Ab und zu eine kurze, einprägsame Text­zeile: „Das Reich ist bedroht!“ Oder: „Das Antlitz Judas, lüstern nach deutschem Blute!“

Auf dem Batteriegelände wurden neue Baracken aufgestellt. Gottesknecht winkte Holt zu sich heran. „Wolzow ist wieder da.“ Er ging neben Holt durch die Feuerstellung. „Es war ein Mißverständnis, wie ich dachte.“ Holt sagte: „Ich habe Ihnen zu danken, daß...“ – „Scheren Sie sich zur Hölle!“ rief Gottesknecht.

In der Stube saß Wolzow, frühstückte und erklärte: „Minsk ist gefallen! Ich hab also recht behalten!“ Als Holt eintrat, rief er unbefangen: „Wieder im Lande?“ Er räumte Brot und Wurst in den Spind. „Sepp, Werner, kommt mal mit zur Lei­tungsprobe!“

Am Geschütz erzählte er. Man hatte ihn mit dem Wagen auf irgendeine Dienststelle gefahren und dort vor einen Ober­gruppenführer gebracht. Wolzow hatte die Anschuldigung, er habe einen SS-Mann im Dienst bedroht, sogleich zugegeben. Aber er hatte bestritten, daß dies wegen der Russen geschehen sei. Es habe sich vielmehr um eine „reine Privatsache“ ge­handelt, davon hatte er sich nicht abbringen lassen, auch nicht, als man drohte, die Wahrheit gewaltsam aus ihm herauszu­holen. Dann war er in eine Kellerzelle gesperrt, nach zwei Stunden aber wieder herausgeholt und abermals vor den Ober­gruppenführer geführt worden. Inzwischen mußte schon ein Anruf aus Berlin vorgelegen haben, denn man behandelte ihn nun wesentlich sanfter. Wenn er den wahren Grund angebe, warum er den Posten bedroht habe, so könne er nach Hause gehen. Wolzow hatte sich erinnert, daß die SS-Leute am Abend vorher in der Kantine gesessen und dort auf laute und rohe Weise über ihre Mädchen gewitzelt hatten. Dies gab er nun als Grund an. Die Schmähungen der SS-Leute gegenüber deutschen Frauen seien es gewesen, erklärte er, die ihn bewogen hätten, sich einige SS-Leute einzeln vorzuknöp­fen, jedoch sei es dann am anderen Morgen bei dem einen geblieben. Man nahm diese Antwort zu Protokoll, auch Wolzows Bemerkung, die Anzeige sei ein „hundsgemeiner Rache­akt“. „Na, und dann haben sie mich eben entlassen“, schloß er seine Erzählung. „Der Obergruppenführer hat mich noch furchtbar angebrüllt, ich soll meine Rauflust im Zaum halten, bis ich an der Front bin.“

„Du bist ganz korrekt behandelt worden?“ fragte Gomulka gespannt. Wolzow sagte: „Ja. Aber im Keller, da haben die ein paar Typen als Schließer, Mensch, richtige Zähneeinschläger!“

Holt sagte: „Ich hatte Angst, du könntest mich verraten!“ – „Wenn du wieder so eine verrückte Idee hast, dann such dir dazu einen andern!“ fuhr Wolzow ihn an. „Von deiner Hu­manitätsduselei hab ich genug. Nimm dir ein Beispiel an Ziesche! Wenn’s drauf ankommt, hat der mehr soldatische Härte als du!“

Kutschera schimpfte am anderen Tag vor versammelter Mannschaft über „die verdammte Händelsucherei von dem Wolzow“. Tage später erhielt Wolzow einen wütenden Brief seines Onkels, darin er und seine Freunde mit groben Worten aufgefordert wurden, „derartige anrüchige Scherze ein für allemal zu unterlassen“. Damit war die Angelegenheit abgetan.

Die Julitage reihten sich aneinander, trocken und heiß, dann diesig und trübe. An einem regnerischen Tag wurde die Batterie zum zweiten Male von Tieffliegern angegriffen. Eine Kette Mustang-Jagdbomber stürzte sich auf die Geschütze Dora und Cäsar. Der Sachschaden war gering. Aber zwei Tote und sechs Schwerverwundete blieben liegen. Gomulka sagte: „Das ist alles erst der Anfang. Verlaß dich drauf!“

 

12.

„Holt“, sagte Gottesknecht eines Tages, „verdient haben Sie’s nicht, aber ich gebe Ihnen einen guten Rat. Reichen Sie sofort ein Urlaubsgesuch ein, Sie und Wolzow, auch Gomulka, ehe es zu spät ist! Wie’s mit unserer Mannschaftsstärke aussieht, das wissen Sie. Noch ein paar Ausfälle, und mit Urlaub ist’s vorbei!“

Über dem Ruhrgebiet lag eine Hitzewelle. Dunst verschlei­erte die Mittagssonne. Türen und Fenster der Baracke standen offen, aber kein kühlender Luftzug strich durch die überhitz­ten Stuben. „Wir sollen den Chef gleich um Urlaub angehn“, sagte Holt. Gomulka rief: „Still!“ Wolzow las aus der Zei­tung vor: „... ,und so wird die Schlacht im Osten immer mehr zur großen Bewährungsprobe der Einzelkämpfer. Den Vorstößen schneller sowjetischer Kräfte begegnen unsere Kampf­gruppen durch Zusammenschluß in einzelnen Widerstands­räumen ...‛” Gomulka meinte: „Da hast du tatsächlich recht behalten mit deiner Lageeinschätzung!“ Wolzow las weiter: „,Während der feindliche Einbruch in Minsk von Südosten und Nordosten her geschah, stehen weiter südöstlich bis zur Beresina hin immer noch deutsche Truppen, die sich unter fortgesetzten Durchbruchskämpfen nach Westen zurückschla­gen.‛” – „Also eingekesselt!“ sagte Gomulka und nahm Wol­zow die Zeitung aus der Hand. „Außerdem geht eindeutig dar­aus hervor, daß es im Osten ein Bewegungskrieg geworden ist: ,Der Feind versucht’, heißt es, ,die Bewegung weiterhin aufrechtzuerhalten.‛“

Holt schielte auf Ziesche. Ziesche schlief, oder er gab vor zu schlafen. „Und noch immer keine Gegenmaßnahmen?“ fragte Holt. „Lies den Wehrmachtsbericht!“

Gomulka blätterte in der Zeitung. „Gegenmaßnahmen?“ Es zuckte in seinem Gesicht. „Moment! Invasionsfront... Also: ,Im Mittelabschnitt der Ostfront stehen unsere Truppen bei drückender Hitze in auch für uns verlustreichen Kämp­fen...‛”

Wolzow unterbrach ihn: „Da muß was los sein!“ Ziesche richtete sich auf und glotzte verschlafen.

„Das hat es im ganzen Krieg noch nicht gegeben“, sagte Gomulka. „Da brauchst du gar nicht so ’n ungläubiges Ge­sicht zu machen, Ziesche, schau dir die Wehrmachtsberichte an, vom Polenfeldzug bis heute! Das ist das erstemal, daß es heißt ,in auch für uns verlustreichen Kämpfen’.“ Er las weiter: „,Die heldenmütige Besatzung von Wilna’...“ – „Wilna?“ rief Holt erschrocken. „Na ja doch“, sagte Gomulka, „Wilna ist schon vor drei Tagen erreicht worden. ,An Wilna vorbei dringt der Gegner weiter nach Westen und Südwesten vor.’“ Er legte die Zeitung fort. „Sieht also nicht nach Gegen­maßnahmen aus.“

Holt saß deprimiert am Tisch. Eben noch hatte er sich auf den Urlaub gefreut. Nun war ihm diese Freude verdorben. Er wunderte sich nur immer wieder über die anderen, die all die niederschmetternden Nachrichten so empfindungslos hinnah­men oder aber ihre Gefühle besser als er zu verbergen wuß­ten. Vetter jedenfalls rief von seinem Bett: „Scheiß auf Wilna! Die solln uns hier mal ausschlafen lassen, das ist wichtiger!“

Sie schrieben Urlaubsgesuche. Holt überlegte noch einmal: Was fang ich mit dem Urlaub an? Mutter? Nein. Vater? Nein. Holt hatte seit Weihnachten nichts mehr von ihm gehört und vor ein paar Wochen, als die mitteldeutschen Industrie­zentren bombardiert worden waren, nur durch eine der vor­gedruckten Mitteilungskarten erfahren, daß sein Vater lebte. So blieb nur Wolzows Einladung. Wolzow und Gomulka hatten ihn immer wieder aufgefordert, mitzukommen. Solange man noch Freunde hat, ist alles gut! Freunde, dachte er mit leichtem Mißbehagen. Gab es zwischen Wolzow und ihm nicht eine leise Entfremdung? Aber dann erinnerte er sich an die ver­wilderte Villa, die Sommertage am Fluß ... und an Uta! Die­ser Gedanke war unangenehm. Frau Ziesche fiel ihm ein.

Er konnte unmöglich auf Urlaub fahren, ohne vorher mit ihr gesprochen zu haben. Vielleicht hatte sie Zeit, vielleicht konnten sie zusammen verreisen, wie Weihnachten... Er saß sinnend und dachte: Ob es noch einmal so wird wie da­mals? Seltsam, überall die gleiche Entfremdung! Er zog sich rasch die Ausgehuniform an. „Wo willst du hin?“ fragte Wolzow. – „Zum Zahnarzt.“ Wolzow begann zu grinsen. Da schrillte die Alarmglocke. Wolzow lief in der Badehose zum Geschütz, das Drillich unter dem Arm.

Die Sonne prallte senkrecht in den Geschützstand. Holt, in der Uniform aus Wollstoff, suchte vor den sengenden Strah­len vergeblich im Mannschaftsbunker Schutz; das Erdreich war so heiß, daß die Luft aus dem Bunker wie aus einem Backofen schlug. Er zog sich die Bluse aus. Schröder, einer der Schlesier, saß statt seiner an der Seitenrichtmaschine. „Feuer­bereitschaft!“ meldete Ziesche, der auch die Ausgehuni­form trug. Sie setzten die Stahlhelme auf. – „Einzelne schnelle Feindfingzeuge...“ – „Die obligaten Mosquitos“, sagte Gomulka. Wolzow zog sich den Ladehandschuh wieder aus und setzte sich auf einen Holm.

„De Havilland Mosquito“, sagte er dann träumerisch. „Die sind als Aufklärer vollständig unbewaffnet. Sie fliegen so schnell, daß unsere Jäger sie nur im Sturzflug einholen kön­nen.“

Ziesche fragte: „Aus was für Kanälen stammt diese Weis­heit eigentlich?“ Wolzow warf den Zigarettenstummel auf den Boden. „Das hat im ,Völkischen Beobachter’ gestanden! Aber du liest ja bloß immer die Schlagzeilen, die Kommentare mußt du lesen! Du bist zwar ein guter Nationalsozialist, aber du könntest dir endlich ein bißchen militärische Sachlichkeit angewöhnen.’

„Rohre Richtung neun!“ schrie Ziesche. In der Ferne erhob sich ein dunkles Grollen. „Die 12,8-Batterien in Bottrop schie­ßen!“ Wolzow zog sich wieder den Ladehandschuh an und dozierte weiter: „Damit stellst du dir nämlich ein unnötiges Armutszeugnis aus, wenn du die militärische Wahrheit als Zersetzung ansiehst. Nächstens sagst du noch, der Führer treibt Zersetzung, wenn er die Lage als ernst bezeichnet.“

In den Städten heulten die Sirenen Entwarnung. Ziesche schaltete am Mikrophon. „Anton verstanden. Feuerbereitschaft aufgehoben. Die schnellen Feindflugzeuge sind ins Reich ein­geflogen ... Zwei Mann bleiben an den Geschützen. Die ande­ren können essen gehen.“ – „Ich bleib“, sagte Wolzow. „Sepp, bring mir das Essen her!“

Holt zog die Bluse an und lief zur B 2. Gottesknecht furchte die Stirn. „Pünktlich siebzehn Uhr wieder hier, verstanden? Und hören Sie sich beim ,Zahnarzt’ mal die Luftlagemeldun­gen an, wenn Kampfverbände einfliegen, dann kommen Sie sofort zurück!“

Holt trabte im Laufschritt zur Straßenbahn. Vor dem Hauptbahnhof stieg er aus und lief zu Fuß weiter. Zehn Mi­nuten später klingelte er bei Frau Ziesche. Sie lief in einem Strandanzug in der Wohnung umher und hatte in der Küche Bier auf Eis stehen. „Seit den letzten Angriffen will Ziesche unbedingt, daß ich hier weggeh! Ich soll zu ihm nach Krakau kommen! Außerdem werde ich dauernd angemeckert wegen der großen Wohnung. Ziesche schreibt, es wäre besser, wenn ich zwei Zimmer abgebe, damit die Volksgenossen nicht sa­gen können, die Partei macht Schiebung.“

„Eigentlich könntest du hierbleiben, bis ich zum RAD geh“, sagte Holt. „Wir sind vorige Woche gemustert worden. Es sind ja nur noch sechs Wochen.“

„Ausgerechnet nach Krakau!“ sagte sie. „Dort sind doch bald die Russen! Da fühl ich mich hier im Keller noch wohler!“ – „Hör doch mal zu!“ rief Holt. „Ich will was mit dir be­sprechen!“

Sie hörte sich Holts Urlaubspläne an und überlegte lange. „Es wäre schön“, sagte sie. „Ich kenne einen Ort im Bayri­schen Wald ... Nein ... Es geht nicht! Du hast Urlaub, fährst nicht nach Hause, und gleichzeitig verreise ich, Ziel unbe­kannt ... das muß ja auffallen!“

Er war enttäuscht. „Überleg dir doch Ausreden!“ Sie schüt­telte den Kopf. „Ich kann das nicht riskieren. Es wäre herrlich, aber es geht nicht.“ Nach einer Weile setzte sie hinzu: „Wenn Günter Ziesche nicht wäre!“ – „Wenn, wenn!“ sagte er. „Alles verdirbt er mir, dieser ekelhafte Kerl!“ – „Sei friedlich“, meinte sie. – „Dann bleib wenigstens hier, bis ich zum RAD geh“, bat er, „ich hab sonst niemanden.“ – „Werde nicht sentimental, dazu ist gar kein Grund.“

Als der Drahtfunk meldete: „Über dem Reichsgebiet be­findet sich kein feindlicher Kampfverband“, lag Holt neben Frau Ziesche auf dem Bett. Die Fenster waren weit geöffnet. Er versuchte noch einmal, sie zu überreden: „Hast du nicht irgendwo Verwandte, daß du sagen kannst...“ – „Es geht wirklich nicht! Mir tut es selbst leid.“ Ihm war, als höre er Schritte in der Wohnung. Das mußte ein Irrtum sein. „Und wenn du vorausfahren würdest“, fragte er hartnäckig, „und ich komm später nach? Da kann doch keinem was auffallen!“

Die Tür öffnete sich, und auf der Schwelle des Schlafzim­mers stand Ziesche, tatsächlich, Luftwaffenoberhelfer Zie­sche, den Stahlhelm am Riemen in der Rechten; Holt erschrak und zog nur die Steppdecke über Frau Ziesche.

Ziesche sagte hilflos: „Aha... aha... aha!“, und ehe sie noch recht begriffen hatten, war er verschwunden wie ein Spuk. Die Tür blieb offen. Draußen fiel die Vorsaaltür ins Schloß. Holt sagte wütend: „Dieses Schwein... Dieses schwule Schwein!“

Frau Ziesche zitterte vor Schreck. Sie war bleich. „Um Got­tes willen!“ Er wollte sie beruhigen, aber sie hörte auf nichts und stammelte: „Erledigt... erledigt, er schreibt’s seinem Vater!“ Dieser Gedanke schreckte nun auch Holt. Er über­legte schwerfällig, was da zu tun sei. Gilbert muß helfen, und Ziesche muß schwören, nichts zu verraten! dachte er zuerst. Aber dieser Gedanke war sinnlos. Auf Wolzow war nicht zu rechnen, und Ziesche würde sich lieber totschlagen lassen, ehe er darauf verzichtete, seine Stiefmutter samt Holt ans Messer zu liefern. Holt saß im Bett, die Knie bis unters Kinn gezogen, und dachte: Elend, verfluchtes!

Frau Ziesche lag bewegungslos neben ihm. Sie sah auf ein­mal verfallen aus. „Er jagt mich weg“, flüsterte sie, „er jagt mich einfach weg!“ – „Warte ab“, sagte Holt. „Er wird’s nicht erfahren, dafür laß mich sorgen.“ Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte, aber der Weg in die Stellung war lang, und unterwegs würde ihm schon etwas einfallen. Er stand auf, nahm seine Sachen und ging ins Bad. Er ließ sich eiskaltes Wasser über den Kopf laufen. Frau Ziesche folgte ihm, frö­stelnd trotz der Hitze. „Er darf es nicht seinem Vater schrei­ben“, sagte sie, ein wenig gefaßter. Sie redete auf Holt ein: „Werner, was du tust, ist gleichgültig. Aber er darf es nicht seinem Vater schreiben! Du kennst den alten Ziesche nicht, er ist eitel und rachsüchtig.“ Angst griff nach Holt. Er kämmte sich, warf den Kamm hin und sagte: „Ich werde sehen.“

Er fuhr in die Batterie. Natürlich fiel ihm auch auf dem Wege nichts ein. Er dachte: „Welch ein bodenloser Leichtsinn! Das durfte nicht passieren! Und: Ich werde erst einmal mit ihm reden.

In der Stube saß Wolzow am Tisch und stocherte mit dem Zirkel auf der Karte herum. Gomulka las. Ziesche fehlte. „Laß ihn mal lieber in Ruhe“, sagte Gomulka. „Er wollte auf Nachturlaub gehen, dann ist er wiedergekommen, mit einer Stinklaune. Jetzt sitzt er in der Kantine und schreibt.“ Ziesche schrieb also schon! Es war höchste Zeit.

Es dämmerte in dem öden Kantinenraum. Hinter der Theke schlief der Küchenchef auf einem Stuhl. Vor einem der kleinen, verdreckten Fenster saß Ziesche an einem Tisch und schrieb. Als er Holt eintreten sah, raffte er seine Papiere zu­sammen. Holt setzte sich ihm wortlos gegenüber. Ziesches Ge­sicht war noch gedunsener als sonst, war blaß und rotfleckig, und die Augen blickten voller Haß.

Holt sagte: „Hör mal zu!“ – „Hau ab“, sagte Ziesche böse. „Hau bloß ab!“ – „Sachte!“ meinte Holt. Aber Ziesche brüllte los: „Verschwinde, du... du... du Schwein! Mit dir red ich nicht! Du hast die Ehre meines Vaters...“ – „Lauter!“ sagte Holt. „Noch lauter, damit der Küchenbulle was da­von hat!“ Der Obergefreite hinter der Theke war aufgewacht und schaute verständnislos auf die beiden Jungen. Dann schloß er seine Schränke ab und verließ die Kantine.

„Ich will dir mal was sagen“, meinte Holt. „Du hast was gesehen, was du besser nicht gesehen hättest. Wir beide den­ken da anders drüber, es hat gar keinen Zweck, daß wir uns lange unterhalten. Aber daß du dich hinsetzt und brühwarm alles deinem Alten schreibst, das ist... erbärmlich ist das! Wenn du dich beleidigt fühlst und für ’nGroschen Mut hast, dann machst du das mit mir ab und läßt deinen Vater aus dem Spiel!“

Es war ein rettender Gedanke: Wenn Ziesche zu bewe­gen war, die Sache als eine Art Ehrenhandel aufzufassen, dann war viel gewonnen. Aber Ziesche zischte Holt ins Ge­sicht: „Gib dir keine Mühe!“ Und schon wieder schreiend: „Ich laß die Ehre meines Vaters nicht von dir antasten! Schluß! Jetzt ist endgültig Schluß, jetzt wird aufgerechnet, vom ersten Tag an, deine ganze morsche Intellektualität... deine undeutsche Sittenlosigkeit... alles wird abgerechnet...“ Seine Stimme überschlug sich. Holt verstummte vor diesem Ausbruch. Heiser fuhr Ziesche fort: „Daß du die Frau zur... zur... daß du sie zur Hure gemacht hast, dafür wirst du von meinem Vater die Quittung bekommen! Du und sie! Und das werdet ihr noch bereuen ... bereuen ... bitter werdet ihr das bereuen!“

Holt war ratlos. Er sprang auf und packte Ziesche an der Bluse. Aber da schlug lärmend die Alarmglocke. „Da bist du grade noch mal um deine Prügel gekommen!“ sagte Holt. Ziesche stopfte zitternd vor Wut seine Papiere unter die Bluse, dann lief er ans Geschütz.

„Schneller Kampfverband über Nordwestfrankreich im Anflug auf die Reichsgrenze.“ Dabei blieb es. Drei Stunden verstrichen, es wurde Nacht. Die Flakwehrmänner schliefen im Mannschaftsbunker. Ziesche meldete: „Feuerbereitschaft!“ In den Städten heulten die Sirenen. „Gleich Vollalarm?“ sagte Gomulka verwundert. „Starke Kampfverbände über Hol­land im Anflug auf den Raum Köln – Essen“, rief Ziesche. Wolzow trieb die Flakwehrmänner aus dem Bunker. Aber die Verbände änderten ihre Flugrichtung und flogen weit im Nor­den vorüber. „Scheinangriffe, Verschleierungsmanöver“, sagte Gomulka. „Die veralbern uns und die Nachtjäger!“ Die Sire­nen heulten Entwarnung. Die Luftlagemeldungen sprachen später von Bombenabwürfen im Raum Groß-Berlin.

Holt unterhielt sich mit Gomulka. Von der B 2 her hörte man Kutschera brüllen. Ein paar Scheinwerfer suchten den Himmel ab. Die Nacht war hell. Am Zenit standen Sterne. Ringsum lagerten Dunstbänke. Im Süden wurde ein Hoch­ofen abgestochen, brennende Gichtgase färbten den Himmel blutigrot. „Was haben die schon für Bomben geschmissen!“ sagte Wolzow. „Und die Werke arbeiten immer noch!“ Zie­sche rief: „Ruhe ... Weitere starke Kampfverbände über dem Kanal im Anflug auf den Raum Emden – Oldenburg.“ Rings­um in den Städten heulten wieder die Sirenen. Eine halbe Stunde später hieß es: „In Küstennähe starke Nebelbildung. Bomber suchen Ausweichziele.“ – „Da kommen sie hierher.“ Wolzow sprach mit den Flakwehrmännern: „Wenn sie Christ­bäume setzen sollten, dann wird erst die Munition aus der Zweitausstattung rangeholt, verstanden?“ Das Auf und Ab der Sirenen: Vollalarm! Schon summten am Himmel die Bomber­pulks, und nahe im Osten fielen Leuchtzeichen, gleißend hell, sie markierten die Siedlung, die wie eine Insel zwischen den Werken lag. Nervös tasteten Scheinwerfer über den Him­mel und erloschen, ehe die optischen Feuerleitgeräte ein Ziel auffassen konnten. Das schwere Summen der Bombermotore wuchs von Nordwesten heran. Ringsum setzte wütendes Flak­feuer ein. Die fallenden Leuchtkaskaden erhellten den Ge­schützstand. Ziesche rief: „Schießen mit Funkmeßgerät!“ Und sofort: „Düppel-Störung! Starkes Sperrfeuer Richtung drei!“ Er brüllte die Richtwerte in den Geschützstand. „Barrikade... marsch!“ Die Abschüsse verschmolzen mit den nahen Bombeneinschlagen zu einem einzigen lang anhaltenden Donner. Holt, mit einer Kopfbewegung, sah Wolzow breitbeinig hinter dem Geschütz stehen, ohne Helm, und sah ihn mit gleichmä­ßigen Bewegungen Patrone auf Patrone ins Rohr schieben.

Feuerpause.

Die Flakwehrmänner warfen stumm die leeren Kartuschen aus dem Geschütz stand, irgendwer zählte: „Neununddreißig, vierzig, einundvierzig.“ Holt dachte erstaunt: Einundvierzig Schuß? Die Kaskaden erloschen. Im Osten war der Himmel nun brandrot, die Flammen schlugen gleich hinter dem zerfetz­ten Wäldchen, hinter den Schrebergärten hoch. Ein hohles Fauchen drang bis in die Stellung; in der großflächigen, dicht bebauten Siedlung entwickelte sich rasch ein Feuersturm. Einer der Flakwehrmänner, an der Wand des Geschützstandes, krümmte sich zusammen, die Hände vors Gesicht geschlagen. „Seine Leute... dort drüben“, sagte jemand rauh. „Egal!“ rief Wolzow. „Reiß dich zusammen!“ Er fettete den Verschluß ein. Wieder zitterte die Luft im Motorengeräusch. „Düppel-Störung!“ schrie Ziesche, mit einer kratzigen Stim­me, und Holt dachte schadenfroh: Hat er sich vorhin heiser gebrüllt! „Barrikadenfeuer! Höhe fünfunddreißig-dreißig, Seite achtundvierzig-zwanzig, Zünder zwohundert Grad vom Kreuz!“ Holt rückte den Kopfhörer zurecht. „Barrikade... marsch!“ schrie Ziesche. Aufs neue stiebte bei jedem Abschuß der trockene Staub ins Gesicht. Die Augen brannten, geblendet vom Mündungsfeuer. Er hörte nicht, daß Ziesche Feuerpause befahl. Auf einmal war es still. In die Stille keuchte Wolzow: „Jetzt haben die Schweine Sprengbomben in die Flammen geschmissen!“


Date: 2016-03-03; view: 1032


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