Home Random Page


CATEGORIES:

BiologyChemistryConstructionCultureEcologyEconomyElectronicsFinanceGeographyHistoryInformaticsLawMathematicsMechanicsMedicineOtherPedagogyPhilosophyPhysicsPolicyPsychologySociologySportTourism






Worauf laß ich mich ein? 11 page

Gottesknecht teilte ein. Schmiedling schrie: „Wolzow! Holt! Gomulka! Die anderen, los, kommen S’ her!“ Sie blieben bei­sammen und wurden Stammbedienung am Geschütz Anton, dazu noch Weber, Kirsch, Branzner und Kattner, die nachts als Richtkanoniere zum Geschütz Berta gehörten. „Dös haut hin!“ sagte Schmiedling erfreut, als er seine Bedienung wieder bei­sammen hatte. Gottesknecht teilte ihnen noch einen Oberhel­fer als stellvertretenden Geschützführer zu. Er hieß Günter Ziesche und war ein gedrungener blonder Junge von siebzehn Jahren, etwas dicklich, mit weibischen Zügen, unreiner Ge­sichtshaut und einer großen Warze an der linken Schläfe.

Auch in der Unterkunft, in die sie bedienungsweise einge­wiesen wurden, blieben sie beieinander, und Ziesche zog als Stubenältester zu ihnen. Sie richteten sich eine der zwei klei­nen Stuben in Baracke Dora ein, sechs Mann, Ziesche, Wol­zow, Holt und Gomulka, Vetter und Rutscher. In der gegen­überliegenden Stube nahm die Bedienung von Geschütz Cäsar Quartier; und die dritte, große, am Ende des Korridors, war für Flakwehrmänner reserviert.

„Baracke Dora liegt am günstigsten“, sagte Wolzow, „schön weit weg, hier kommt nicht dauernd der UvD hin!“ Ziesche erklärte, daß nur wenige der Oberhelfer in Hamburg dabei­gewesen seien, zwölf Mann, die Bedienung des Funkmeßgerätes und zwei Entfernungsmesser, von denen sich Haupt­mann Kutschera nicht hatte trennen wollen; die anderen wa­ren in Hamburg geblieben. Etwa fünfzig Oberhelfer stammten aus den umliegenden Städten. Sie waren aus anderen Batte­rien herausgezogen und vor acht Tagen in die 107 gesteckt worden. Denn die Batterie hatte erst vor einer Woche hier Stellung bezogen.

„Eine üble Schinderei“, erzählte Ziesche, während sie sich in der kleinen Stube einrichteten. „Wir haben den ganzen Tag gebaut und geschippt, dann aufmunitioniert. Die Hauptarbeit haben Russen gemacht, aus einem Lager, die mußten scharf ran, die Posten haben sie mit Knüppeln angetrieben.“ – „Mit Knüppeln?“ fragte Holt. „Gibt’s das?“

„Du lebst wohl auf dem Mond!“ sagte Ziesche. „Warum soll’s das nicht geben?“ – „Hast du schon mal was von Völ­kerrecht gehört?“ fragte Gomulka.

„Quatsch doch nicht! In diesem Krieg geht es um Sein oder Nichtsein, da spielen rechtliche Erwägungen keine Rolle! Die Russen sind sowieso bloß Tiere!“

Es war nichts Neues, Holt hatte es hundertmal gehört.

Die Klingel schrillte, einmal, zweimal, dreimal... „Gefechts­schaltung!“ rief Ziesche. „Los, Stahlhelm, Gasmaske, Gehör­schützer! Fenster auf, sonst sind die Scheiben hin!... Laßt euch Zeit, Feuerbereitschaft klingelt nur zweimal!“

Sie liefen schon den Lattenrost entlang. Als Holt den Ge­schützstand betrat, sah er ein paar Luftwaffenhelfer mitten in der Feuerstellung das Müo auslegen, ein riesiges, aus weißen Tüchem gebildetes Quadrat mit einem Kreuz darin, das allen deutschen Flugzeugen Landebefehl gab. Im Geschützstand löste Schmiedling die Plane, die Jungen zerrten sie herunter und falteten sie zusammen. Schmiedling legte das Kehlkopfmikrophon um den Hals und schnallte den Kopfhörer am Ohr fest. Der kleine Weber hockte schon an der Seitenrichtma­schine, Gomulka war K 1 und polierte den blanken Höhenrichtbogen, und Vetter, ein wenig bleich, saß an der Zünder­stellmaschine.



Schmiedling schaltete am Kehlkopfmikrophon herum. „An­ton... Verständgung is guat!...“ Er schaltete wieder. „Die machen Leitungsprob mit ’m Fu-MG!“ Weber meldete: „Seite gut!“ Gomulka folgte: „Höhe gut“, und auch Vetter meldete vorschriftsmäßig: „Zünder gut!“ Wolzow grinste, haute ihm auf die Schulter und sagte: „Na, ,Leiche’, ruhig Blut!“ Er zog sich den Ladehandschuh an.

Holt stand abseits in einer Ecke. Gut, spiel ich eben Munitionskanonier. Hat seinen Vorteil: man sieht mehr. Habe ich Angst? fragte er sich plötzlich.

Er schaute in den Himmel. Im Westen stand eine niedrige, geschlossene Wolkendecke, aber über ihnen war strahlendes Blau. Eine Viertelstunde, dachte er, dann ist alles zugewölkt.

Schmiedling horchte in den Kopfhörer, dann rief er: „Noch mal Leitungsprob, mit ’m Kommandohülfsgerät!“ Die Richt­kanoniere meldeten.

Auf einmal brüllte von der B 2 die Stimme Unteroffizier Engels: „Feuerbereitschaft!“ Im gleichen Augenblick heulten ringsum, in diesem ineinandergeflochtenen Netz der Städte, die Sirenen los: auf – ab, auf – ab, laut und entnervend. Zie­sche saß auf einem Holm der Lafette. „Gleich Vollalarm? Dann wird’s was!“ Holt sah den Hauptmann barhäuptig, den Stahlhelm in der Hand, in den Fahrermantel gehüllt und von seinem Hund gefolgt, zur B 2 gehen, dabei brüllte er mit seiner Löwenstimme: „Wollt ihr vielleicht das Müo einziehen, ihr Banditen?!“ Ein paar Luftwaffenhelfer liefen über den Acker und rafften die weißen Tücher zusammen.

„Los, machen S’die Munibunker auf!“ befahl Schmied­ling. Holt wuchtete eine der schweren Holzplatten hoch, legte sie auf den Boden und zog ein paar Patronen halb aus den Körben, so daß sie sich gut fassen ließen. Er war aufgeregt und sprach sich unaufhörlich selbst Mut zu. „Still!“ schrie Schmiedling. „A Luftlagmeldung!" Er horchte so angestrengt, daß sich sein Gesicht verzog. „Da sein a paar schwere Kampfverbänd über Südholland im Anflog auf d’ Reichsgrenzn!“ – „Süd­holland? Dann kommen sie hierher“, sagte Ziesche.

Der Obergefreite Macht, mit der gelben Schnur des UvD, betrat den Geschützstand, er rauchte Pfeife, an seinem Arm baumelte der Stahlhelm. „Machst K 3, Fritz?“ rief Schmiedling erfreut. Dann befahl er: „Wolzow, geben S’ den Ladehand­schuh her!“ Wolzow protestierte: „Sie haben gesagt, ich darf laden!“ Schmiedling lief krebsrot an. „Wem S’wohl pariern!“ Wolzog zog murrend den Ladehandschuh aus und warf ihn dem UvD hin, der ihn verblüfft auffing.

Schmiedling war sehr aufgeregt. Seit Feuerbereitschaft be­fohlen worden war, sagte er immer wieder: „Machen S’ mir ka Schand net... I bitt Sie!“ Und plötzlich: „I hab’s im Ge­fühl, heut gibt’s was!“ Dann wieder rief er: „Dös Schießen is net schlimm! Dös kracht aweng, net wahr... Stelln S’ Ihnen bloß net unters Rohr, dort is die Druckwell am schlimm­sten!“

Schmiedlings Unruhe übertrug sich auf Holt, der erhöht auf dem Verschlußbrett eines Munitionsbunkers stand, von wo er über den Erdwall des Geschützstandes hinweg auf die B 2 sehen konnte. Der Hauptmann ragte riesenhaft und barhäup­tig über die Brustwehr und suchte mit einem Fernglas den Himmel ab.

„Luftlag!“ rief Schmiedling. „Die Kampfverbänd fliegn s’ Ruhrgebiet an! Glei geht’s los!“ Auf der B 2 begann wildes Hundegebell, was in der Meßstaffel fieberhafte Unruhe aus­löste. „Der Blitz vom Hauptmann’, sagte der UvD, der ne­ben Ziesche auf dem Holm hockte, „der riecht das Schießen!“ Er zog sich den Ladehandschuh an. Auf der B 2 setzte Kut-schera das Glas ab und schnauzte seinen Hund an: „Sei still, Mensch, sonst fliegst du raus!“ Das Bellen verstummte.

Auf einmal, unwirklich fern, war ein feines Summen zu hören. Holt spürte seinen Herzschlag bis in die Schläfen. Die Wolkenbank stand noch immer im Westen. Von der B 2 dröhnte die Stimme des Hauptmanns über die Stellung: „Rohre Richtung neun!“ Das Geschütz schwenkte nach Westen. Holt beobachtete unverwandt die Befehlsstelle, dort rief eine helle Jungenstimme: „Motorengeräusch in neun!“ – „Mensch!“ brüllte Kutschera. „Die Flugmelder, diese Idioten, die pennen wohl?!“

„Zünder hat Werte!“ schrie Vetter, kreidebleich vor Schreck. Die Schwungmasse der Zünderstellmaschine heulte los wie eine Sirene. Holt stülpte mechanisch den Stahlhelm auf den Kopf, riß eine Patrone aus dem Korb, trug sie zu Wolzow, der sie in den Zünderstelltopf einsetzte und Holt dabei zu­nickte ... wie gut das tat! Schmiedling schrie: „Schießen mit Funkmeßgerät!“ Schon meldete Weber: „Seite eingestellt!“ Gomulka folgte: „Höhe eingestellt!“ – „Zünder!“ schrie Schmiedling. „Was is denn mit 'm Zünder?“

Holt sah und erlebte dies alles wie von fern, denn Angst hatte ihn gefaßt. Angst vor dem ersten Schuß, Angst vor Bom­ben, Angst vor allem, und sie hüllte ihn ein wie der Nebel am Morgen. Das Geschützrohr schwenkte ganz langsam nach Norden, Holt, eine Patrone im Arm, stand hinter Wolzow, das Summen am Himmel wurde stärker, nun begann ein Dröh­nen und Donnern wie ein schweres Gewitter. Der UvD, breit­beinig hinter dem Geschütz, sagte: „Das sind die Batterien in Mühlheim!“ Und da kam endlich Vetters Stimme: „Zünder im Bereich! Zünder eingestellt!“ – „Anton feuerbereit!“ schrie Schmiedling ins Kehlkopfmikrophon.

Schließlich klappte es wie beim Exerzieren. Holt hörte auf der B 2 die Stimme Kutscheras: „Feuer frei!“ Dann kam schon Schmiedling mit dem Ankündigungskommando: „Gruppen­feuer...“ Holts Herzschlag setzte aus. „Gruppe!“ krächzte Schmiedling, die Feuerglocke rasselte, Macht riß die Patrone aus der Zünderstellmaschine und schob sie ins Rohr, der Verschlußkeil fuhr hoch, die ledergepanzerte Hand faßte den Ab­zugshebel ... Mund auf! dachte Holt noch, dann fuhr ihm ein Blitz in die Augen, wie ein Schlag traf ihn die Schallwelle, ein furchtbares, ohrenzerreißendes Krachen, Staub und Qualm überall, und wie im Traum sah Holt das Rohr zurückfahren und die rauchende Kartusche ausspeien. Das Bersten und Schmettern verstummte nicht. Plötzlich war alle Angst wegge­wischt. Holt dachte: Das sind die Nachbarbatterien! Fern in der Wolkenbank hing das durchdringende Surren der Flug­zeugmotoren und vermischte sich mit dem Bersten der Flak­granaten.

„Gruppe!“ schrie Schmiedling. Holt reichte Wolzow eine Patrone, Wolzow nahm sie und grinste, und kaum war der Schuß gefallen, rief Schmiedling: „Feuerpause!“

Holt reckte den Kopf nach der B 2. Dort setzte in diesem Augenblick chaotischer Lärm ein. „Pulk in neun!“ schrie je­mand. Holt blickte zum Himmel. Da! Ein Schwärm winzi­ger Punkte, silberglänzend in der Sonne, schwebte aus der Wolkenbank heraus in den blauen Himmel, und ringsherum, wie hingezaubert, standen die Sprengwolken der Flakgrana­ten. Sie fliegen an uns vorbei! dachte Holt erlöst. Dann ging alles ganz schnell: „Ziel aufgefaßt!“ gellte es auf der B 2, und wieder Kutscheras Stimme: „Feuer frei!“ – „Schießen mit Kmandohülfsgerät!“ rief Schmiedling, und Macht sagte: „Jetzt wird optisch geschossen, jetzt kriegen sie Pfeffer!“ – „Gruppenfeuer!“ rief Schmiedling. „Gruppe!“ Mund auf! dachte Holt wieder. Er sah Vetter an der Kurbel drehen wie einen Leierkastenmann, sah, daß sich das Gesicht des UvD beim Abschuß verzerrte wie im Veitstanz, und sah auch, daß Schmiedling nun seelenruhig war. „Gruppe!“ Holt lief nach einer Patrone zum Bunker. Schmiedling hat ja nur Angst ge­habt, wir könnten versagen!

„Feuerpause!“ Schmiedling sagte: „Die im Norden ham s' besser im Zünderbereich!“ Und freudestrahlend: „Jungs, Kerle san S', dös is guat!... Flugzeug neun!“ rief er erschrocken. Weber riß das Geschütz nach Westen zurück. Vorbeiflug von links nach rechts, schießen mit Kommandohilfsgerät, wie in der Ausbildung, dachte Holt, nur daß es zwischendurch kracht... Er zählte die leeren Kartuschen, elf, zwölf Stück, man schob sie mit den Füßen in die Ecken des Geschützstan­des. Und immer wieder: „Gruppe!“ Ein neuer Pulk zog im Norden an ihnen vorbei. Wozu hab ich Angst gehabt? dachte Holt, und er grinste zu Wolzow hin, und Wolzow grinste zu­rück.

„Feuerpause!“ Das Rohr schwenkte zurück nach Norden, fünf und vierzig Grad erhöht. Das Summen der Flugzeugmoto­ren wurde schwach und schwächer. Im Norden grollte schwe­rer Geschützdonner. „Jetzt gibt's Zunder in Recklinghausen!“ sagte Macht. Ziesche, der während des Schießens tatenlos bei Schmiedling gestanden hatte, meinte: „Wenn nicht noch eine neue Welle kommt, sind sie hier durch!“ Schmiedling meldete den Munitionsverbrauch an die B 2, einundzwanzig Schuß. Er steckte sich eine Zigarette an. „Wann die Brüder zruckkimma, denselbigen Weg, da muß dös wieder so klap­pen!“

Sie warfen die leeren Hülsen aus dem Geschützstand. Schmiedling horchte in seinen Kopfhörer. „Anton verstandn! ...Die Feuerbereitschaft is aufghobn!“ Holt sah Kutschera, von seinem Hund gefolgt, die B 2 verlassen und in Richtung Schreibstube verschwinden.

Die Luftwaffenhelfer schleppten fluchend neue Munitions­körbe an die Geschütze. Ein Korb mit den Patronen wog fast einen Zentner. Wolzow meinte: „Das Schießen ist großartig!“ Sie warteten am Geschütz. Schmiedling erhielt eine Luftlage­meldung: „Die Verband, net wahr, die fliegn wohl nach Ber­lin, net wahr, da kommen s’ vielleicht gar net hier zruck!“ – „Von Berlin fliegen sie bei gutem Wetter meist über die Kieler Bucht nach England ab“, sagte Ziesche. Wolzow fragte: „Wenn die noch mal vorbeikommen, lassen Sie mich dann la­den?“ – „I frag 'n Chef“, antwortete Schmiedling, „i hab jetzt a Zutraun zu Ihnen.“

Aber die Bomberpulks flogen über Norddeutschland aus.

Holt, Wolzow und Ziesche gingen Tage später über den Lattenrost durch die Feuerstellung. Da verließen drei Oberhelfer die B 2, als hätten sie dort gewartet, drei große, derbe Burschen. Einer war neulich beim Antreten Günsche genannt worden; die anderen beiden, dachte Holt, indem er die drei argwöhnisch musterte, mochten Zwillingsbrüder sein, so ähn­lich sahen sie einander. Ziesche bog rasch nach links ab und ging wortlos seiner Wege. Holt und Wolzow blieben stehen.

„Hör mal, Neuer...“, sagte Günsche in norddeutschem Dialekt; er war nur wenig kleiner als Wolzow, der ihn sofort unterbrach: „Neuer? Ich heiß Wolzow, das wirst du dir ja wohl noch merken können!“ Herrlich frech! dachte Holt. Bloß nicht einschüchtern lassen! Günsche zog die Brauen hoch, seine Augen funkelten. Die Zwillingsbrüder hinter ihm, zwei kräftige Burschen, pusteten sich mächtig auf und nahmen die Hände aus den Taschen.

Günsche sagte drohend: „Wenn du noch mal den großen Rand riskierst, dann bist du dran mit Selbsterziehung!“ Holt sah, daß Wolzow sich duckte, und sagte schnell: „Laßt uns in Ruhe, ihr Hamburger!“ Günsche fuhr ihn an: „Du hältst die Fresse, du Spund, sonst...“ – „Sonst?“ schrie Wolzow, und dann ging alles sehr schnell. Holt erhielt einen Schlag ins Ge­sicht, aber schon warf er den langen Günsche im Kopfschwung auf den Lattenrost; er sah noch, wie sich Wolzow auf die Zwillingsbrüder stürzte, und dann tobte kläffend der Setter um sie herum, und gleich war auch der Hauptmann da. Die ungeheure Stimme brüllte: „Mensch, was ist denn hier los, was erlauben sich denn die Kerle?“

Holt ließ den verdutzten Günsche los, der sich aufrappelte. Auch Wolzow stand stramm vor dem Hauptmann. Einem der Zwillingsbrüder lief aus der Nase dickes, dunkelrotes Blut über den Mund und auf die Uniform; der andere krümmte sich auf dem Acker und schnappte nach Luft. Hat ihm Gilbert eins auf den Magen gegeben, dachte Holt.

„An den Baum binden und auspeitschen!“ dröhnte Kutsche­ras Stimme. „Die Neuen verprügeln die Alten, wo gibt's denn so was!“ Seine Sympathie lag eindeutig bei den Hamburgern.

Plötzlich stand Gottesknecht an seiner Seite, und Kutschera drehte ihm unwillig den Kopf zu. Wenn er uns jetzt in den Rücken fällt, dachte Holt, dann hat Gilbert recht, dann ist Gottesknecht ein Aas. Aber Gottesknecht sagte, leise, wie es seine Art war: Verzeihung, Herr Hauptmann, ich hab's von der B 2 angesehen. Die Neuen trifft diesmal weniger Schuld. Günsche hat den ersten Schlag geführt.“

„So!“ sagte Kutschera unzufrieden, und einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle er den Wachtmeister zurecht­weisen. Aber dann sagte er: „Da misch ich mich nicht ein... Günsche!“ schrie er, und zu den Zwillingen: „Pingels, ihr Arschlöcher! Mensch, wenn ihr euch so blöd anstellt, dann laßt euch halt von den Spunden verdreschen!“ Riesenhaft, von seinem Hund gefolgt, stiefelte er davon. Gottesknecht sagte: „Jetzt ist Ruhe, meine Herren, sonst mach ich mit und bestraf euch alle zusammen!“ Günsche, als auch Gottesknecht verschwunden war, zischte: „Das kommt euch teuer zu stehn!“ Wolzow sagte: „Halt die Fresse...“ Auf einmal schrie er, nach vorn geneigt, mit geballten Fäusten, und Holt hatte Wolzow noch nie so in Wut gesehen: „Ihr sollt mich kennenlernen! Ich schlag euch reif
fürs Krankenhaus!“ – „Schluß!“ sagte Holt und zog Wolzow davon.

In der Stube räumten Holt und Wolzow ihre Spinde ein. „Wenn sie uns nicht in Frieden lassen, knöpf ich sie mir ein­zeln vor“, drohte Wolzow. Ziesche, leicht ironisch, meinte: „Nimm dir nicht zuviel vor. Hinter den Hamburgern sind starke Kerle!“ – „Du willst auch was?“ Wolzow musterte Ziesche. Holt sagte: „Du bist vorhin einfach davongerannt! Sind wir zusammen an einem Geschütz? Leben wir zusammen auf einer Bude?“ – „Ich bin Oberhelfer, ich Verderb mir's nicht mit meinen Kameraden.“ – „Oberhelfer wird nach einem halben Jahr jeder!“ entgegnete Holt.

Wolzow knallte seinen Spind zu. „Ich hab's beim Wachtmeister Verschissen, wieso, weiß ich nicht. Ich hab's womög­lich auch beim Chef verschissen. Jetzt ist mir alles egal! Ich nehm's mit der ganzen Batterie auf. Laß sie draußen antreten, deine Herren Oberhelfer, meinetwegen können sie alle auf ein­mal kommen ... Meinst du“, schrie er Ziesche an, „ich mach mir was draus, wenn zur Abwechslung ich mal die Fresse voll kriege? Da müssen sie mich totschlagen, oder aber es heißt da­nach: Auge um Auge, Zahn um Zahn, solang ich noch einen Finger rühren kann.“ – „Soll ich's ausrichten?“ fragte Zie­sche. – „Wenn du dich nicht schnell auf unsere Seite stellst...“, drohte Holt. Vetter rief im Hintergrand: „Du Pickelhering, Mensch, dich reiben wir zu Mus!“

„Tun Sie das nicht!“ sagte Gottesknecht, der plötzlich in der offenen Tür stand. „Herrn Oberhelfers Mütterchen weint sich sonst die Augen aus.“ Todsicher hat er schon lange auf dem Flur gestanden und gehorcht, dachte Holt... Wozu sind wir in einer so entlegenen Baracke? Man muß ein Warnsystem einrichten!

Gottesknecht blickte sich in der Stube um. Endlich rief Zie­sche „Achtung!“ und meldete. Gottesknecht schnüffelte mit erhobener Nase. „Die Herren haben geraucht! Pfui, das ist verboten!“ Dann trat er vor einen offenen Spind, es war Ziesches Spind, faßte mit spitzen Fingern ein Buch, zog es her­aus und schaute nach dem Titel. „Flex...“, sagte er, „,Der Wanderer zwischen beiden Welten', aha! Wer liest denn da so kerndeutsche Bücher?“

„Ich, Herr Wachtmeister!“

„Soso! Ich hab übrigens auch was zu lesen für Sie, von meiner Frau, die wäscht sich immer mit Seesand-Mandelkleie, schaun Sie sich mal den Prospekt an, vielleicht geht davon Ihre Akne weg!“ Die Jungen lachten, Ziesche errötete unaufhalt­sam. „Wolzow, Holt... mitkommen!“ sagte Gottesknecht. Er ging vor ihnen den Lattenrost entlang. „So. Da wolln wir mal... Nach Norden weg, marsch, marsch!“

Eine Sekunde verständnislosen Zögerns, dann liefen Holt und Wolzow den Hang hinab. „Achtung!“ Sie standen wie die Bäume, Front zu Gottesknecht, der sich breitbeinig auf dem Lattenrost aufgepflanzt hatte. „Hinlegen!“ Sie warfen sich auf den Acker: „So, jetzt wird schön flott zu mir hergerobbt!“ Sie krochen den steilen Hang empor. „Auf!“ befahl Gottes­knecht.

Er sah ihnen in die Augen, er war nicht böse. „Der Wolzow hat noch immer Wut! Schade!“ Und beinahe besorgt: „Ich hab doch recht, Wolzow, nicht wahr? Sie sind wütend!“

„Jawohl, Herr Wachtmeister!“

„Sehen Sie! Ich seh das an den Augen, das hab ich von einem Schäfer, der erkannte auch alles an der Pupille, Schwanger­schaften, Bauchgrimmen, Hodenbrüche ... Wir machen also, noch n' bißchen weiter, bis Wolzow keine Wut mehr hat, eher kann ich mich mit ihm ja nicht ruhig unterhalten. Holt, Sie leisten ihm Gesellschaft, damit er sich nicht so einsam fühlt. Sie haben doch Lust, mitzumachen?“ fragte er, und wieder klang seine Stimme ehrlich besorgt. „Jawohl, Herr Wacht­meister!“ – „Fabelhaft! Sehen Sie, Wolzow, das ist Freund­schaft! Sie laufen jetzt den Hang runter, bis zur Chaussee, hundertzwanzig Meter, alles genau vermessen! Dann kommen Sie den Hang wieder hoch, Häschen-hüpf, kennen Sie das?“ – „Jawohl, Herr Wachtmeister!“ – „Enorm! Aber ordentlich tief runter, die Arme im Vorhalt, schön in die Kniebeuge!... Gesundheitlich geht's Ihnen doch gut?“ – „Jawohl, Herr Wachtmeister!“ – „Na also. Wolzow, Sie werden das den ganzen Nachmittag machen müssen, Sie werden ja immer wü­tender! Traben Sie erst mal los!“

Sie liefen im Laufschritt den Hang hinab. „Gilbert, der will was! Reg dich nicht auf!“ – „Er soll mir den Buckel runterrutschen!“ gab Wolzow zurück.

Sie hüpften den Hang empor. Holts Oberschenkel began­nen zu schmerzen, die Muskeln verkrampften sich, die Knie zitterten haltlos. Wolzow war Holt voraus. Der Hang stieg steil an, Holt wurde der Atem knapp. Das kommt vom Rau­chen, ging es ihm durch den Sinn. Er kämpfte gegen den Wunsch an, sich hinzuwerfen und auszuruhen. Mit empfin­dungslosen Beinen und schmerzendem Rücken, atemlos und erschöpft, langte er beim Lattenrost an.

„Na, wie war's?“ fragte Gottesknecht. Er rauchte eine Zi­garette, die Mütze ins Genick geschoben, offenbar bester Lau­ne. „Nicht wahr, Wolzow, das ist eine Viecherei?“ – „Es strengt ganz schön an“, sagte Holt, „man ist zuwenig trai­niert!“ – „So? Da müssen wir das öfter machen, an mir soll's nicht liegen!“ Er wandte sich an Wolzow. „Na, haben Sie noch Wut?“

Wolzow antwortete nicht. Gottesknecht schmunzelte. „Herr Wachtmeister“, sagte Wolzow. „Ich melde, daß ich vom Häschen-hüpf die Schnauze voll hab!“

Gottesknecht rief: „Die Schnauze voll! Holt, haben Sie's gehört? Wolzow, das ist ein Wort, dafür gibt's Sehr gut, da haben Sie mir eine Riesenfreude gemacht!“ Er zog sein Notiz­buch. „Herr Wachtmeister!“ sagte Wolzow. „Das Sehr gut nützt mir nichts, ich hab noch Ausgehverbot!“ – „Gehabt!“ sagte Gottesknecht. „Ab heute dürfen Sie ausgehn, weil Sie mir diese Riesenfreude gemacht haben! Daß Sie heute das erstemal beim Militär die Schnauze voll hatten, das muß außer­dem gefeiert werden, da lad ich Sie am Sonnabend in der Kan­tine zum Bier ein, Sie auch, Holt, weil Sie diesem Kastor ein so getreuer Pollux sind. Wissen Sie was, Wolzow? Ich mach meinen Frieden mit Ihnen, jetzt haben Sie eine ganz große Nummer bei mir! Wissen Sie, warum ich so einen Zahn auf Sie gehabt habe?“ – „Kann mir's schon denken“, knurrte Wolzow, ganz unmilitärisch, „wegen Onkel Hans!“

„Diese Offizierssöhnchen“, sagte Gottesknecht, „die hab ich gerne! Da war mal einer, Vater Major, sofort ging's los, ich war noch Unteroffizier. Dauernd hat er sich bei seinem Vater beschwert, und der Alte hat sich hinter unseren Chef geklemmt, so daß ich pausenlos Genickschläge bekam. Seit­her hab ich ein Mißtrauen, das werden Sie verstehen. Wolzow, bei Ihnen hab ich gedacht, er wird mir das ganze OKL auf den Hals hetzen. Nein! Hat er nicht gemacht! So dumm ist er nicht, hab ich gedacht, daß er die Generalität in einem Brief aufhetzt, der durch meine Hände geht. Da bin ich vor acht Tagen extra mit dem Auto hinter der Frau von der Kantine hergefahren, der Sie den frankierten Brief mitgegeben haben. Jetzt hab ich ihn erwischt, dachte ich. Ja, Essig! ,Ist prima hier', stand drin. Ich war richtig enttäuscht!" Wolzow undHolt lachten. „Warum haben Sie den Brief eigentlich nicht mitder Feldpost geschickt?“ – „Weil ich was zum Rauchen brauchte“, sagte Wolzow, „und weil Sie die Post immer drei Tage auf der Schreibstube herumliegen lassen!“ – „Ihre nicht mehr“, sagte Gottesknecht, „die geht jetzt mit Eilkurier ab! Ihre auch, Holt!“ Er schmunzelte: „Muß ja ein tolles Mädchen sein, Ihre Uta!“

„Herr Wachtmeister...“ Holt fühlte, wie er rot wurde. „Ich bitte Sie... Dieser Briefwechsel ist wirklich privat!“ – „Ist übrigens ein Brief da“, sagte Gottesknecht. Er langte in die Brusttasche und drückte Holt einen der schmalen, festen Umschläge in die Hand. „Wie bin ich zu Ihnen? Suchen Sie sich mal einen Vorgesetzten, der den Postillon d’amour spielt.“

Plötzlich wurde er ernst. „Der Schmiedling beantragt, daß Sie scharf laden dürfen, Wolzow, und der Chef hat ja gesagt, aber er schaut sich das beim nächsten Alarm selber an. Damit Sie Bescheid wissen!“ – „In Ordnung, Herr Wachtmeister.“ – „Und nun zur Sache“, meinte Gottesknecht nachdenk­lich. „Sie machen mir 'sLeben schwer, Wolzow! Sie haben sich die Alten, die Oberhelfer, zu Feinden gemacht, die wer­den Sie furchtbar verhauen! Der Chef liebt das. Er nennt das Selbsterziehung.“ – „Herr Wachtmeister“, sagte Wol­zow überlegen, „ich will nicht angeben, aber da ist keiner, vor dem ich Angst hab.“ – „Aber es werden ein Dutzend kommen!“ – „Ich hab auch meine Freunde. Holt kann Jiu-Jitsu, und wenn Gomulka mal die Ruhe verliert, da drischt er ganz schön dazwischen!“

„Sehen Sie“, sagte Gottesknecht, „das ist es, wovor ich Angst habe! Nicht, daß Sie mal den Hintern voll kriegen, da hätte ich sogar eine irrsinnige Freude dran! Aber Partei­kämpfe, wie im alten Rom... Saalschlachten, Verletzte wo­möglich ... Oder Sie schlagen gar einen tot, Wolzow! Und alles auf Kosten der Feuerbereitschaft! Bisher war's ganz harmlos, aber hier fallen auch Bomben! Da muß eine Bat­terie in Schwung sein.“ – „Herr Wachtmeister, wir haben nicht angefangen!“ sagte Holt. – „Ich weiß...“ – „Die solln uns in Ruhe lassen“, rief Wolzow. „Wir schießen nicht schlechter als die Alten. Ich hab nichts gegen die, aber man soll uns in Ruh lassen und anerkennen.“ – „Ich war in Berta bei den Hamburgern“, sagte Gottesknecht. „,Der Wolzow bekommt eine Abreibung, der Holt gleich mit', sagen die. Ich hab's verboten, aber was nützt das? Der Chef hat nichts da­gegen!“ – „Dann muß alles seinen Gang nehmen, Herr Wachtmeister!“

„Einen Weg gibt's“, sagte Gottesknecht sinnend, und er sah Wolzow fest an, „und das ganze Theater fällt aus wegen Nebel. Wenn der Chef es den Hamburgern verbietet! Jemand muß den Chef von oben... verstehen Sie? Wolzow, ich laß Sie in der Schreibstube ganz allein mit Ihrem Onkel telefo­nieren!“

„Ein General hat andre Sorgen, Herr Wachtmeister!“

„Schade“ sagte Gottesknecht. Er rückte das Koppel zurecht. „Geben Sie Bescheid, das Batterieexerzieren fällt aus. Ge­schützreinigen, dann ist dienstfrei. Mahlzeit.“

Sie verständigten Gomulka und gingen vorsichtshalber am Abend zur Leitungsprobe zu dritt durch die Stellung. Aus einem alten Lattenrost rissen sie ein paar Holzprügel und hiel­ten sie griffbereit in der Stube. Ziesche sah die Vorbereitungen stillschweiged an. „Wenn du für die Hamburger spionierst“, sagte Holt, „dann .. .“ Vetter hatte eine Idee. „Dann stecken wir dich jede Nacht ins Löschwasserfaß!“ Ziesche schwieg.

Holt holte sich aus der Schreibstube seine Erkennungs­marke und brachte auch für Wolzow Post mit. Nun hatte er Zeit, Utas Brief zu lesen.

„Mein Onkel ist zum Generalleutnant befördert worden“, rief Wolzow. „Das nenne ich eine Offizierskarriere!“ Ziesche war überrascht. „General? Deswegen die große Klappe!“ – „Nur keinen Neid!“ brummte Wolzow gutgelaunt.

Holt lag auf seinem Bett. Sie sei recht einsam, schrieb Uta. Dann und wann gehe sie zu Wieses, das sei der einzige ge­sellige Verkehr. Mit Interesse verfolge man alle Nachrichten über das Leben bei der Flak. Warum schreibt sie so sach­lich? dachte Holt. Warum geht sie nicht ein bißchen aus sich heraus? Endlich ein paar herzliche Worte: Seine Briefe empfange sie mit Freude, er möge bleiben, wie er sei, ihr Leben verlaufe sehr eintönig grau, er bringe ein wenig Helligkeit hinein ... Er lag unbeweglich und träumte ... Als er erwachte, war es abends gegen neun. Gomulka fegte. Zehn Uhr war Zapfenstreich. Vetter, Rutscher und Wolzow spielten Skat. Wolzow sagte über die Schulter: „Verpenntes Luder! Deine Kaltverpflegung ist im Spind.“

Laut Vorschrift waren die Spinde verschlossen zu halten, ein offener Spind bedeutete „Verleitung zum Kameradendiebstahl“. Hier nahm man das nicht so genau.

Holt wollte noch an Uta schreiben, aber da gellte schon die Alarmklingel. Sie waren nur sechs Luftwaffenhelfer am Ge­schütz, Kirsch, Branzner, Kattner und Weber gehörten nachts zu Berta. Als Ersatz waren ihnen fünf Flakwehrmänner als Munitionskanoniere zugeteilt. Die unausgeschlafenen, abge­arbeiteten Männer setzten sich in den Mannschaftsbunker und rauchten.


Date: 2016-03-03; view: 1026


<== previous page | next page ==>
Worauf laß ich mich ein? 10 page | Worauf laß ich mich ein? 12 page
doclecture.net - lectures - 2014-2024 year. Copyright infringement or personal data (0.011 sec.)