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Worauf laß ich mich ein? 12 page

Holt saß als K 2 an der Seitenrichtmaschine. Ziesche legte die Geschützführerleitung an. Schmiedling langte nach dem Ladehandschuh, doch Wolzow protestierte. In diesem Augen­blick wurde Feuerbereitschaft befohlen, und in den Städten heulten die Sirenen ... Ziesche erhielt die erste Luftlagemel­dung: Starke Kampfverbände über Holland im Anflug auf den Raum Köln – Essen... Hier fallen Bomben! dachte Holt mit Gottesknechts Worten. Er zog den derben Mantel fest um seinen Körper.

„Die Verbände drehen nach Osten ab“, meldete Ziesche bald darauf. Aber da kläffte auf der B 2 schon der Setter, der Hauptmann schimpfte durch die Nacht. Sekunden später dröhnte wieder das entnervende Motorengeräusch durch die Luft. „Schießen mit Funkmeßgerät!“ rief Ziesche. Aber die Zünderwerte blieben weit über Bereich. Eine halbe Stunde lang zogen die Bomberschwärme im Norden vorüber. Am Ho­rizont stachen die Lichtkegel der Scheinwerfer in den Him­mel. Und fern donnerte schweres Flakfeuer.

„Münster!“ erklärte Ziesche. „Dort stehen aktive Batte­rien, auch 12,8-Zentimeter- und 15-Zentimeter-Eisenbahn-Flak!“ Drei Viertel elf wurde die Feuerbereitschaft aufgeho­ben. In den Städten heulten die Sirenen Vorentwarnung.

Holt blickte über die Erdumwallung hinweg durch die Nacht, über der B 2 lag blasser Lichtschein. Die Gestalt des Haupt­manns huschte wie ein Gespenst am Geschützstand vorbei. Scheinwerfer suchten den Himmel ab und ließen die Wolken­decke aufleuchten. „Die Kampfverbände werfen im Raum Hannover – Braunschweig Bomben“, meldete Ziesche.

„Hau ab, du Pennbruder“, schimpfte Wolzow. „Rutscher, los; mach K 7, der Flakwehrmann pennt mir noch ein!“

Holt blickte auf die Armbanduhr. Das Zifferblatt leuchtete schwach. Kurz vor Mitternacht. Ins Bett! dachte er, aber Zie­sche rief: „Anton verstanden! Es ist wieder Feuerbereitschaft!“ Holt probierte an der Seitenrichtmaschine noch einmal das winzige Lämpchen, das den Richtkreis beleuchtete. Die Sire­nen gaben aufs neue Alarm.

„Rohre Richtung drei!“ rief Ziesche. Schmiedling fragte: „Wolzow, haben S' den Ladehandschuh?“ – „Die Kampfver­bände haben ihre Ziele in Mitteldeutschland verfehlt und flie­gen den Raum Köln – Essen von Osten an“, meldete Ziesche. Er schnauzte die Flakwehrmänner an: „Munition bereithal­ten! ... Still! Luftlage!“ Er horchte. Tiefschwarze Nacht rings­um, leise tuckerte der Motor, der die Akkumulatoren des Funkmeßgerätes mit Strom versorgte. „Anton verstanden!... Schneller Verband fliegt Dortmund an, gefolgt von Bomber­verbänden.“ Schmiedling erklärte: „So a schneller Verband, dös sein Lightnings sein dös, oder Mosquitos, Pfadfinder nen­nen wir dös, weil damit diejenigen vorausfliegn und die Ziel markieren mit die Christbäum!“

In diesem Augenblick flammte im Westen der Himmel brand­rot auf. Die Lohe schlug bis zu den Wolken empor. „Das ist das Stahlwerk, die stechen ab!“ rief Ziesche. Jetzt einen Ofen abstechen, dachte Holt, wo die Bomber anfliegen!



Wolzow redete auf Rutscher ein: „Hör zu... Wehe, ich find keine Patrone im Stelltopf! Ziesche! Sorg dafür, daß Mu­nition rankommt!“ – „Der schnelle Verband hat Dortmund passiert!“ rief Ziesche. „Bomber suchen Ausweichziele!“ Die Dortmunder Batterien, erzählte Schmiedling, schössen nicht auf Pfadfinder. „Kutschera schießt, wo's was z' schießn gibt... Sehen S'...“, redete er drauflos, „da sin die Bomber den Dreck net losgeworn, da kommen s' jetzt zu uns!“ Zie­sche verkündete: „Der Batteriechef spendiert zwei Flaschen Schnaps für die Bedienung, die alle Gruppen mitschießt.“ – „Wolzow!“ rief Schmiedling. „Geben S' lieber doch den Hand­schuh her!“ Holt hörte es in seinem Kopfhörer knistern und knacken. Ziesche brüllte: „Flugzeug drei! Schießen mit Funk­meßgerät!“ Eine klare, ruhige Stimme sprach in Holts Kopf­hörer: „Fünfzehn-null-null, fünfzehn-null-null, fünfzehn­zehn. ..“ Eine kleine Drehung am Handrad, und Holt rief: „Seite eingestellt!“ Ziesches „Anton feuerbereit!“ hörte er noch und „Gruppenfeuer... Gruppe!“, dann schmetterte schon der Schuß, ein greller Blitz zerriß die Nacht, Holt wurde von seinem Sitz emporgehoben und fiel schwer darauf nieder ... „Gruppe!“ Die Feuerglocke schlug, der Schuß brach, und im Kopfhörer sagte die klar artikulierte Stimme: „Seite steht bei fünfzehn-zehn!“ – „Wechselpunkt!“ brüllte Ziesche. Holt fuhr mit dem Geschütz um hundertachtzig Grad herum. „Seite steht bei siebenundvierzig-zehn ...“ – „Gehendes Ziel... Gruppe!“ Wieder krachte es, und als schweren Donner hörte Holt die Abschüsse der anderen fünf Kanonen ...

Es war totenstill. Das Feuer anderer Batterien zählte nicht neben dem Inferno der eigenen Abschüsse. „Feuerpause!“ Ziesche murrte: „Unfug, auf Mosquitos zu schießen! Die sind ja viel zu schnell!“ Wolzow tobte im Geschützstand her­um: „Ich trete dir in den Arsch, wenn das nicht besser klappt mit der Munition!“ – „Ruhe!“ schrie Ziesche. „Da! Da!“ Holt erstarrte.

Im Westen bebte die Nacht von schwerem Flakfeuer. Die Dunkelheit wich, es wurde blendend hell. Die Wolkendecke im Westen gleißte wie Silber, und strahlend regnete Licht herab ... das war herrlich, das nahm den Atem, das drückte nieder in wilder Angst... „Leuchtzeichen! Jetzt geht's los!“ Vetters Stimme, von der Zünderstellmaschine her: „Werner, Gilbert, o Gott!“ Schmiedling stöhnte: „Jesus... Maria... Ihr Apostel, alle Heilgen... beschützt die armen Menschen!“ – „Das gilt Oberhausen!“ schrie Ziesche. Oberhausen, das wußte Holt auf einmal seltsam deutlich, lag kaum fünfzehn Kilometer entfernt...

Der Hauptmann, im Lichtschein, stand plötzlich barhäup­tig im Geschützstand, in den weiten Fahrermantel gehüllt. Er stieß Wolzow mit der Faust in die Rippen, und Wolzows Ge­sicht verzerrte sich zu einem Grinsen. Der Hauptmann bellte: „Gleich geht's los! Schmiedling, halten Sie sich bereit, Mensch, wenn der Wolzow schlappmacht!“ Dann ging er. Schmiedling rief: „Die zwoa Flaschen, Wolzow, die san uns sicher!“

Das Flakfeuer im Westen war verstummt. Jetzt brach Ge­schützdonner nahe im Osten los. „Bochum schießt! Die Bomber sind da!“ Schon zitterte der Himmel im Motorenlärm. „Flugzeug drei! Schießen mit Funkmeßgerät, direkter Anflug!“ Wieder, beruhigend und klar, die Stimme in Holts Kopfhörer: „Seite steht bei sechzehn-achtzig!“ Holt meldete: „Einge­stellt!“ Da war auch Gomulkas Stimme, wer weiß wie lang nicht mehr vernommen. Und wieder: „Gruppenfeuer...“ – Gruppe! dachte Holt und öffnete den Mund, aber statt dessen sagte es im Kopfhörer bedauernd: „Düppel-Störung... Funk­meßgerät Ziel verloren... Feierabend!“ – „Funkmeßgerät fällt aus!“ schrie Ziesche. „Starres Sperrfeuer, Seite sech­zehn-achtzig, Höhe fünfundfünfzig, Zünder zwohundert-zehn!“ – „Eingestellt!“ schrie es, und dann Ziesches unkenntliche Stimme: „Barrikadenfeuer... Barrikade ... marsch!“ Da zuckte der Blitz in die Augen, es krachte und schmetterte unaufhörlich, und zwischen den Abschüssen heulte Wolzow: „Munition her! – Barrikade halt! Seite achtundvierzig-sech-zig!“ Holt riß das Geschütz wieder um hundertachtzig Grad herum. „Barrikade... marsch!“ Es knisterte im Kopfhörer. „Machen wir halt weiter, 's geht wieder! Seite steht bei achtundvierzig-zwanzig!“ – „Seite hat Werte, Seite einge­stellt!“ Ist das meine Stimme? Schießen mit Funkmeßgerät, Gruppe! Mund auf, und wieder das unerträgliche Schmettern der Abschüsse, von Wolzow durchheult: „Munition her!“

Wie lange mochte das alles gedauert haben? Zielwechsel und Wechselpunkt und zwischendurch Barrikadenfeuer, weil die Stanniolstreifen vom Himmel regneten und das Funkmeß­gerät immer wieder ausfiel... Stunden, Jahre, eine Ewigkeit? Jetzt war Grabesstille. Im Westen, wo der märchenhafte Glanz der Leuchtzeichen am Himmel gehangen hatte, schlugen nun blutigrot die Brände zur Wolkendecke empor. „Vorbei!“ sagte irgendwer. Und Ziesche ganz heiser: „Oberhausen... das brennt und brennt!“

Von der B 2 wehte der Ruf durch die Nacht: „Feuerbereit­schaft aufgehoben!“ Holt taumelte vom Richtsitz hoch. Er stolperte über die leeren Hülsen, die überall umherlagen. Er war fast taub. Nun riß er den Kopfhörer herunter und nahm den Gehörschützer aus dem Ohr. Sein Gesicht war naß. Hab ich geweint? Der gewaltige, unheimliche Brand im Westen er­hellte schwach den Geschützstand. Holt starrte in das ferne Flammenmeer. Da sind jetzt Menschen, mitten im Feuer, dachte er. Aber keine Vorstellung verband sich mit diesem Gedanken . . . Gomulkas Gesicht war fremd und gealtert. Zie­sche rief: „Munitionsverbrauch!“ – „Wer soll denn die Kar­tuschen zählen, jetzt in der Nacht?“ sagte Wolzow. Ziesche schrie ungeduldig: „Zählt doch die leeren Körbe in den Bunkern!“

Schmiedling saß auf einem Holm und kümmerte sich um nichts, rauchte und sagte zu Holt: „Da hab i halt's Große Los gzogen, mit der Bedienung!“

„Munitionsverbrauch!“ schrie Ziesche wieder. „Diese Flakwehrmänner, faul wie die Pest!“ schimpfte Wolzow. End­lich kam die Meldung: „Vierunddreißig leere Körbe!“ Das waren hundertzwei Schuß. Ziesche gab eine letzte Luftlage­meldung: „Alle Verbände im Abflug über Holland. Gefechts­schaltung aufgehoben.“ Die Luftwaffenhelfer durften ins Bett. Batteriekommando und Flakwehrmänner schleppten Munitionskörbe an die Kanonen und beseitigten die Schäden, die der Luftdruck der Abschüsse an Geschützständen und Ba­racken angerichtet hatte.

Holt ging mit Gomulka durch die brandrote Nacht. „Ehr­lich, Sepp... Hattest du Angst?“ Gomulka zögerte mit der Antwort. „Ja, ich hatte Angst...“ – „Es ist wohl auch keine Schande“, sagte Holt. „Man muß nur damit fertig werden.“

„Herhören! Was sich heut nacht an Frieda abgespielt hat, das genügt fürs Kriegsgericht!“ Kutschera stand vor der ange­tretenen Batterie, die Hände in den Manteltaschen. „Macht, wozu sind Sie Waffenmeister, wenn die Spritze bei dem bißchen Schießen auseinanderfällt?“ Er brüllte immer, aber jetzt war seine Stimme ungeheuer: „Wenn die Kanone nicht besser in Schwung kommt, sperr ich die ganze Bedienung ein!“ Der Hund erhob sich auf die Vorderpfoten und knurrte. Kutschera trat mit dem Stiefel nach ihm. „Du hältst 's Maul, Mensch ... Die andern Geschütze waren gut. Bei Anton ging's rund, da war die Tollwut ausgebrochen?“ Die Oberhelfer flüsterten miteinander. „Der Wolzow ist ein Gauner!“ dröhnte Kutscheras Stimme. Und zu Gottesknecht: „Geben Sie ihm Extra­ausgang.“ Ein paar Sekunden stand er unschlüssig vor der Batterie. „Ach, Quatsch!“ sagte er, drehte sich um, und der Morgennebel verschluckte ihn.

Auf dem Fahrweg warteten die Munitionswagen. Die Jun­gen schleppten bis zum Mittagessen Patronenkörbe zu den Bunkern der Zweitausstattung. Den Nachmittag verschliefen sie.

Tag und Nacht trieb sie die Glocke ans Geschütz. Dies war ihr Leben, für lange Zeit.

 

5.

Im November brachten die Nächte klirrenden Frost. Der zähe Nebel, der morgens über der Stellung hing, wich oft bis zum späten Mittag nicht. Täglich zogen die Bomberpulks über den Himmel. Die ständigen Alarme, die Nächte am Geschütz und das Feuer, mit dem Hauptmann Kutschera jede Maschine bedachte, waren den achtundzwanzig Jun­gen schnell zur Gewohnheit geworden. Am Mittag des 5. November waren Essen, Gelsenkirchen und Münster schwer bombardiert worden, und die Bomben, die den um­liegenden Industriewerken galten, fielen bis dicht an die Feuer­stellung.

Eine Woche später lag Holt des Nachmittags auf seinem Bett. Wolzow las in seinen strategischen Lehrbüchern, die anderen spielten Skat. Ziesche las aus der Zeitung vor. „ ,Es gibt höchstens einzelne Verbrecher in Deutschland, die durch einen Sieg der Alliierten etwas gewinnen wollen, und mit diesen Verbrechern werden wir fertig!’ ... Was das ist?“ sagte er auf Gomulkas Frage. „Ja, schläfst du denn? Die Füh­rerrede vom 9. November!“ Er las weiter: „Hier, zum Luft­krieg ! ,... die Herren mögen es glauben oder nicht, aber die Stunde der Vergeltung wird kommen!’ – ,... die Männer sind aufgesprungen, haben die Arme zum Gruß erhoben und riefen mit feuchtblanken Augen stolz und beglückt Heil um Heil ihrem geliebten Führer zu..’“ – „Lies lieber mal den Wehrmachtsbericht“, sagte Gomulka ungerührt, „über den Fall von Kiew kann man nämlich auch feuchtblanke Augen bekommen!“ Ziesche warf ihm einen bösen Blick zu und las mit seiner heiseren, etwas hohen Stimme: „,Sonnenschein kann jeder vertragen, aber wenn es wettert und stürmt, dann zeigen sich erst die harten Charaktere, und dann erkennt man auch den Schwächling... ’“ Holt war so müde, daß er nur noch Satzfetzen vernahm: „,... am Ende steht der Sieg ... niemals verzagen... von hier hinausgehen mit der fanatischen Zu­versicht ... fanatischen Glauben ... daß es gar nichts anderes geben kann als unseren Sieg! ’“ Die Alarmglocke schrillte. Vetter riß fluchend die Fenster auf.

Am frühen Abend, wie üblich, kam Zemtzki nach Baracke Dora zu Besuch. Er war rasch zum stellvertretenden Gefechts­schreiber avanciert, und da er des Nachts die Ringleitung ab­hörte, die alle Batterien der Untergruppe miteinander ver­band, war er immer gut informiert. „Ich hab’s eben von der Untergruppe“, sagte er. „Die Handley Page Halifax, die Dienstag nacht runtergekommen ist, die ist den Jägern zuge­sprochen worden!“ Vetter rief empört: „Den Jägern? So was!“ Während der letzten Zeit waren drei viermotorige Bomber in der näheren Umgebung abgestürzt. Jedesmal hatte es einen wüsten Streit zwischen den Batterien gegeben, doch Kutschera verzichtete darauf, Abschüsse für seine Batterie zu beanspruchen. Schmiedling erklärte es so: „Was unser Kmandeur is, der Major Behling, der kann unseren Chef net leiden.“ Der Streit der Batterien erreichte in der Regel nur, daß die in der Nähe stationierten Jagdverbände ihre Ansprüche anmeldeten und den Abschuß zugesprochen bekamen.

Heute regte sich Wolzow auf. Er liebäugelte, wie alle, mit dem Flakschießabzeichen, das den schweren Batterien nach etwa sechs Abschüssen verliehen wurde.

„Es ist eine Gemeinheit!“ piepste Zemtzki. Dann räusperte er sich und gab seiner Stimme einen möglichst tiefen Klang, denn Gottesknecht hatte ihm einmal „wegen unmilitärisch hoher Stimme“ Nicht genügend gegeben. „Ich war Dienstag nacht Flugmelder! Die Jäger waren seit einer Stunde abge­flogen, als die Halifax runterkam!“ – „Eine himmelschreiende Sauerei ist das!“ schimpfte Wolzow. Er zog sich aus und ging zu Bett. Laut Dienstplan wurde morgens halb sieben geweckt, aber je nach Dauer des nächtlichen Alarms durften sie länger schlafen. Meist holte sie der LvD, Luftwaffenhelfer vom Dienst, ein Oberhelfer, der dem UvD assistierte, gegen halb acht aus den Betten. Acht Uhr begann der Schulunterricht. Bis dahin mußten Betten gebaut und die Stuben aufgeräumt werden, sonst warf der UvD alles durcheinander.

Der Schulunterricht war eine Farce. Fast täglich wurde er vom Alarm gestört. Fünf Tage in der Woche fanden sich Lehrer einer Gelsenkirchener Oberschule morgens in der Batterie ein und unterrichteten jeden Tag drei Stunden lang ein anderes Fach. Dienstags war der sogenannte „Schultag“. Alle Luftwaffenhelfer der Batterie gingen zum Chemie- und Physikunterricht nach Gelsenkirchen; die Batterie war unter­dessen nicht feuerbereit.

Wenn die Lehrer in den Wohnbaracken unterrichteten, quälte man sich über die drei Stunden hinweg und wartete auf das Klingelzeichen zur Gefechtsschaltung.

Den ersten „Schultag“ hingegen hatten die Jungen aus Holts Klasse in der Gelsenkirchener Schule verbracht, aber nur aus Unkenntnis der Gebräuche. Die Oberhelfer fuhren zwar auch in die Stadt, schickten jedoch nur ein paar Mann in die Schule. Auch Holts Klasse betrachtete den Dienstagvormittag nun als Feiertag. Man saß von neun bis eins im Cafe, wo man Orangeade zu sich nahm und mit den Freundinnen ver­abredet war, mit den Schülerinnen der Essener, Gelsenkir­chener und Wattenscheider Mädchenschulen. Kutschera ließ an den Schultagen eine Anwesenheitsliste führen, die er von Zeit zu Zeit kontrollierte, und Branzner, der selbst nie den Unterricht versäumte, entschuldigte Holt und seine Freunde mit tausend Ausreden, von „krank“ bis „unabkömmlich“. Sehr beliebt waren völlig unsinnige Entschuldigungen: „Holt muß heute den Rohrmantel waschen“, „Wolzow und Gomulka feh­len wegen zu hoher Gebrauchsstufe“.

Man hatte ein kleines Cafe in Gelsenkirchen ausfindig ge­macht, „Cafe Italia“, an der Rotthausener Straße, nach Essen hinaus. Ringsum lag alles in Trümmern. Das Cafe hatte bisher alle Bombennächte überlebt. Es gab, zu Wolzows Freude, so­gar ein Billard. Man nahm auch Verbindung mit einer Mäd­chen-Oberschule auf. Unter den siebzehnjährigen Schülerin­nen – die jüngeren Jahrgänge waren evakuiert – gehörte es zum guten Ton, mit einem Luftwaffenhelfer befreundet zu sein. Sogar Vetter fand Anschluß und ließ zweideutige Spotteleien über sich ergehen, denn das Mädchen, das ihn aus­erkoren hatte, war dürr wie ein Haselstecken. Auch Wolzow saß eines Tages mit einer üppigen Blondine zusammen und verkündete am Abend in der Stube laut, daß er sich mit ihr verabredet habe und daß sich dann allerhand abspielen werde. Aber die Freude dauerte nicht lange. „Alles aus!“ sagte er zu Holt. „Ich hab ihr bloß mal ’n bißchen unter die Bluse gewollt, da hat sie sich angestellt wie sonstwas!“ Er zog sich wieder zu seinen strategischen Lehrbüchern zurück. Am fol­genden Dienstag ging er sogar in die Schule und brachte da­durch Branzner in Verlegenheit, der ihn schon „wegen Be­obachtung des Rohrrücklaufs“ entschuldigt hatte.

Doktor Klage, der Mathematiklehrer aus Essen, war etwa fünfunddreißig Jahre alt, ein ruhiger und ernster Mensch, der sich Mühe gab, die Jungen trotz der ungünstigen Umstände im Unterricht voranzubringen. Er hatte sich durch seine be­stimmte, dabei ausgesucht höfliche Art, mit den Jungen um­zugehen, beinahe etwas wie Anerkennung verschafft und war der einzige unter den Lehrern, der seinen wöchentlichen Be­such in der Batterie nicht als leere Formalität auffaßte. Holt bewunderte insgeheim die Geduld, mit der sich Klage auch den zurückgebliebenen und den aufsässigen Schülern wie Wol­zow und Vetter widmete. Zur Zeit schrieb der Lehrplan Trigonometrie vor, und Doktor Klage brachte es tatsächlich fer­tig, in Holt, zum erstenmal seit Jahren, ein Interesse am Un­terrichtsstoff wachzurufen.

Aber Wolzow fand nur Schimpfwörter für den schon grau­haarigen Mann, der als leidend galt, wobei freilich niemand genau über die Natur dieses Leidens Bescheid wußte; es soll­ten Nierensteine sein, wurde gemunkelt. An manchem Tage saß Doktor Klage mit eingefallener, bleicher Gesichtshaut hin­ter seinem Tisch, von Koliken geplagt, und die Schmerzen ließen glänzende Schweißtropfen auf seine Stirn treten. „Alles Theater, alles Verstellung“, sagte Wolzow, „der Bursche drückt sich vor der Front!“ Er haßte Klage, mit dem er schon in den ersten Tagen Streit gehabt hatte. Damals hatte er an der Tafel eine Aufgabe lösen sollen, war aber auf seinem Platz sitzen geblieben, als gehe ihn der Unterricht nichts an. Doktor Klage, dem Wolzows rüde Art noch nicht bekannt war, stand dicht neben Wolzows Bank und wiederholte: „Wolzow, bitte gehen Sie...“ – „Lassen Sie mich in Ruhe!“ schrie Wolzow und sprang so wild von seinem Sitz auf, daß der Lehrer mit einer unwillkürlichen Bewegung der Abwehr zu­rückwich; bei dieser Bewegung aber stieß er versehentlich Wolzow vor die Brust.

„Prügeln wollen Sie mich!“ schrie Wolzow. „Sie wollen mich prügeln...?“ Holt, der hinter ihm saß, faßte ihn am Koppel. „Gilbert, gib Ruh!“ – „Prügeln, wo gibt’s denn so was!“ krähte Vetter in seiner Ecke. Wolzow, durch Holts Ein­mischung etwas zur Besinnung gebracht, verließ die Baracke mit den Worten: „Als der beste Ladekanonier der Batterie hab ich’s doch nicht nötig, mich von dem prügeln zu lassen!“

Doktor Klage beschwerte sich bei Kutschera. Kutschera fiel den Lehrern in solchen Fällen regelmäßig mit seiner Re­densart in den Rücken: „Schießen ist wichtiger als Latein!“ Diesmal verhörte er, lediglich um der Form zu genügen, einen Zeugen, wobei er sich ausgerechnet Vetter herausgriff, und rief beim Nachmittagsappell: „Mal herhören! Der Wolzow hat sich mit ’m Lehrer geprügelt! Wo gibt’s denn so was!“ Und dann: „Ich hab einen ausgefragt, der erzählt’s so rum, aber der lügt! Der Doktor Klage erzählt’s andersrum, aber der lügt auch! Wenn beide Seiten lügen, seh ich keinen Grund, mich einzumischen!“ Sprach’s, pfiff seinem Hund und zog sich in seine Behausung zurück. Wolzow triumphierte: „Der Chef hat diesen Drückeberger durchschaut.“

Anfang Dezember wurde Klage Flakwehrmann in der 107. Batterie. Es war eine kalte und sternklare Nacht. Ziesche hatte Nachturlaub, Rutscher lag mit Mandelentzündung im Revier. Da aber mehrere Luftwaffenhelfer erkrankt waren, wurden nur fünf Geschütze besetzt. Und plötzlich erschien Doktor Klage bei Geschütz Anton und sagte: „Guten Abend.“ Es verschlug ihnen allen die Sprache. Klage mochte wieder seine Kolik haben, denn er sah krank und erschöpft aus.

Wolzow überwand seine Verblüffung, zog sich den Lade­handschuh aus und sagte gedehnt: „Na, dann wolln wir mal.“ Er wandte sich an Schmiedling: „Hab mir ’n Ellbogen ver­knackst!“ Er übernahm die Funktion des Geschützführers.

Sie schössen ein paar Gruppen auf einen Verband schnel­ler Kampfflugzeuge. In der Feuerpause drückte sich Vetter an Wolzow heran und hetzte: „Der Klage sitzt die ganze Zeit im Bunker!“ – „Sehr schön!“ sagte Wolzow befriedigt. Er schrie: „Wo ist Flakwehrmann Klage?“ Klage tauchte, die Hände auf den Leib gepreßt, aus dem Mannschaftsbunker. „Sie haben sich gedrückt! Los, räumen Sie die Kartuschen weg!“ – „Wolzow“, sagte der Lehrer, „ich...“ – „Das ist der Geschützführer“, rief Vetter, „da wird pariert!“ Wolzow brüllte: „Zehnmal um den Geschützstand! Marsch, marsch!“ Holt fand keine Zeit mehr, sich einzumischen, denn Klage murmelte etwas Unverständliches und ging zur B 2.

Aber bei Kutschera fand er kein Recht. Der Hauptmann hatte eben vom Major eine Anfrage bekommen, worauf die Hundertsieben eigentlich bei Feuerverbot schieße, da seien, verdammt noch mal, Jäger am Feind! Kutschera hatte also üble Laune und fuhr den Lehrer an: „Verrückt! Befehl verwei­gern ... wo gibt’s denn so was! Beschweren Sie sich morgen auf dem Dienstweg!“

Das Funkmeßgerät faßte einen anfliegenden Verband. „Zemtzki“, brüllte Kutschera, „melden Sie der Untergruppe, wir haben nischt verstanden! Gottesknecht, los, Feuer frei!“

Klage lief, als er wieder in den Geschützstand trat, unter die Rohrmündung und mitten in den ersten Schuß hinein; die Druckwelle warf den geblendeten Mann in eine Ecke.

„Er hat sich schon wieder gedrückt“, stellte Wolzow fest, und nun jagte er seinen Mathematiklehrer um den Geschütz­stand, vom Machtrausch besessen. Holt und Gomulka schlepp­ten Patronen. Als sie merkten, was sich an der Kanone ab­spielte, war es zu spät.

Doktor Klage ging am nächsten Tag zum Kommandeur und ließ sich in eine andere Batterie versetzen.

Holt dachte über diesen Vorfall nach. Er erinnerte sich an manches Gespräch mit Peter Wiese. „Eigentlich“, so sagte er zu Gomulka, „sollten die Lehrer unsere Erzieher sein...“ Gomulka schwieg. Dann sagte er: „Weißt du, der Wol­zow ...“ Er verstummte, mit zusammengepreßtem Mund.

An dem gespannten Verhältnis zwischen Wolzow und den Oberhelfern hatte sich nichts geändert. Aber es blieb vor­erst bei Drohungen, über die Wolzow spottete: „Die trauen sich nicht!“ Da gab es einen neuen Streitfall.

Jeder Luftwaffenhelfer hatte innerhalb eines Jahres An­spruch auf einen vierzehntägigen Erholungsurlaub, den So-benannten „großen Urlaub“. Darüber hinaus gab es regel­mäßig Tag- oder Nachturlaub für diejenigen, die am Einsatz­ort zu Hause waren. Der Tagurlaub reichte von mittags zwei, der Nachturlaub von abends sechs bis morgens sieben. Die Neuen erhielten Ausgang von abends oder von mittags bis Mitternacht.

Um diesen Ausgang gab es Streit. Wilde aus Hamburg, ein enger Freund Günsches, führte die Ausgangslisten. Holt fand rasch heraus, daß die Hamburger vor allem sich selbst mit Ausgang versorgten. Daraufhin nahm Wolzow die Sache in die Hand. Als Ziesche Nachturlaub hatte, wurde beraten. Vet­ter sagte: „Wir sollten keinen Stunk machen! Wenn wir erst die Alten sind, dann sind wir immer mit Ausgang dran!“ Go­mulka protestierte. „Wenn ich mal die Listen führe, dann muß es gerecht zugehen!“ Holt unterstützte ihn. Sie beschlossen, den Oberhelfer Wilde hereinzulegen. Drei Wochen lang führ­ten sie Buch, bis der Beweis vollständig war. In drei Wochen hatte Günsche dreimal Ausgang, Holt einmal, Pingel-Otto viermal, Kirsch zweimal. Am Abend schrieben die neun Mann vom Geschütz Anton Beschwerden. Kollektive Beschwerden galten als Meuterei; die Beschwerden durften nicht einmal gesammelt abgegeben werden. Also schrieb jeder seinen Text, und dann erschienen sie, anderthalb Stunden lang, einer nach dem anderen, auf der Schreibstube und übergaben ihre Briefe dem verblüfften UvD. Der Wortlaut war fast der gleiche, das Beweismaterial war identisch. Auf dem vorgeschriebenen Dienstweg gerieten die Beschwerden an Gottesknecht. Er be­suchte sie noch am selben Abend in der Stube. Zum Schein machte er Spindappell, warf einigen die Sachen durcheinander und verurteilte Wolzow und Vetter wegen „unerlaubten Grin­sens beim Spindappell“ zu fünfundzwanzig Kniebeugen. Dann gab er allen Sehr gut „wegen Köpfchens“.

Der Hauptmann ließ sich zwei Tage Zeit. „Er will seinen Lieblingen nicht weh tun“, sagte Wolzow. Dann schrie Kutschera beim Morgenappell: „Oberhelfer Wilde, vortreten! Die Kerle von Anton, diese Banditen, haben sich beschwert, Sie führen die Ausgangslisten falsch. Hab das geprüft. Die Be­schwerden stimmen!“ Und zu Gottesknecht: „Wilde vierzehn Tage Ausgangssperre!“ Er brüllte den verdatterten Oberhel­fer an: „Mensch, wenn Sie schon Schmu machen, dann so, daß man mich nicht mit dem Salat belästigen kann!“

Ziesche hatte sich abends bei den Hamburgern in Baracke Berta herumgetrieben und sagte: „Da habt ihr euch was ein­gebrockt! Die sind vor Wut außer sich!“ Vorsichtshalber gin­gen Holt, Wolzow und Gomulka nur noch zu dritt durch die Stellung.

Holt hatte Ausgang. Es war ein Samstag. Er fuhr mit der Straßenbahn nach Essen. Vielleicht treff ich ein paar von den Mädchen, dachte er und bummelte, den Stahlhelm am Arm, die Kaiserstraße entlang. Die Menschen hatten es eilig. Das macht der ewige Alarm, dachte er. Ein paar HJ-Führer, die ihm begegneten, übersah er, aber einen Major der Panzer­truppe mit dem Deutschen Kreuz in Gold grüßte er ehrfürch­tig. Dann blieb er vor einem Kino stehen. „Der große König“, von Veit Harlan, auf den Bildern Gustav Fröhlich und Kristina Söderbaum. Reichswasserleiche, dachte er.

Er sah einen Luftwaffenhelfer an der Seite eines zierlichen Mädchens vorübergehen. Das ist doch Ziesche! dachte er, und er beschleunigte seine Schritte, überholte die beiden und grüßte.

Es war kein Mädchen, was der blonde, etwas gedunsene Ziesche am Arm führte, es war eine dunkelhaarige Frau von vielleicht fünfundzwanzig Jahren. Sie wandte Holt ein schma­les, mädchenhaftes Gesicht zu und sah ihn aus dunklen Augen fragend an, ehe sie mit einem Kopfnicken seinen Gruß er­widerte. Sie standen mitten auf dem Gehweg, und um sie her flutete der Menschenstrom. Ziesche räusperte sich, dann stellte er vor: „Ein Kamerad, Werner Holt. Meine Mutter!“

„Möchtest du freundlicherweise hinzufügen“, sagte die zier­liche Frau rasch und ein wenig gereizt in süddeutscher Mund­art, „daß ich deine Stiefmutter bin? Man könnte sonst“ – sie wandte sich an Holt – „dieses Trampeltier hier“ – sie stieß Ziesche mit dem Ellenbogen an – „für meinen leiblichen Sohn halten!“


Date: 2016-03-03; view: 1089


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