Home Random Page


CATEGORIES:

BiologyChemistryConstructionCultureEcologyEconomyElectronicsFinanceGeographyHistoryInformaticsLawMathematicsMechanicsMedicineOtherPedagogyPhilosophyPhysicsPolicyPsychologySociologySportTourism






Worauf laß ich mich ein? 10 page

Holt und Gomulka krochen gehorsam ins Bett. Gottesknecht löschte das Licht. Im Dunkeln zog sich Wolzow murrend an. Im Einschlafen hörte Holt ihn fluchend zurückkommen und zu Bett gehen.

Am anderen Tag wußte auch Schmiedling davon. „Dös kenn i bei unserm Wachtmeister gar net, daß der a jemand schleifa tuat, in der Nacht scho gar net!“ Er zeigte ehrliches Mitgefühl.

In den Pausen der Ausbildung unterhielt er sich immer auf­geschlossener mit den Jungen und erzählte auch von sich selbst. So erfuhr Holt, daß Schmiedling Landarbeiter auf einem gro­ßen Gut war und daheim eine Frau mit vier Kindern auf ihn wartete. Als einziger Soldat der Batterie war er k. v., kriegsrverwendungsfähig, also seit langem reif für die Front. Er be­hauptete, sich nur in der Heimat halten zu können, weil der Major, „was unser Kmandeur is“, ihm gewogen sei. Das könne sich sofort ändern, die Sympathie sei schnell verscherzt. Da­her müsse seine Bedienung die beste sein, dürfe bei der Be­sichtigung niemals auffallen und habe beim Schießen immer die besten Resultate zu erzielen. Holt hörte nachdenklich, was Schmiedling da erzählte.

„Wenn einer nicht spurt“, sagte er schließlich, „bekommt er's mit uns zu tun!“ Schmiedling nickte dankbar. Heimat sei eben Heimat, selbst im Ruhrgebiet.

Holt und Gomulka wechselten einen Blick. Bisher hatte es Gerüchte gegeben von einem Einsatz in Berlin, aber Holt und Gomulka waren dagegen aufgetreten. Nun plauderte Schmiedling alles aus. Die Wirkung war dementsprechend. Die Jungen schauten betreten vor sich hin. „Teifi, dös is mir halt raus­gerutscht. Dös dürfen S' gar net wissen!“ In der Mittagspause wußten es alle.

3.

Holt wartete ungeduldig auf Post von Uta. Ich bin ihr gleich­gültig, dachte er, sie denkt nicht mehr an mich. Als bei der Postverteilung endlich sein Name aufgerufen wurde, bekam er nur ein Päckchen von seiner Mutter. Sie schickte ihm die erbetenen Zigaretten. Warum schrieb Uta nicht?

Zu seiner Mutter wünschte er sich nicht zurück. Aber er dachte häufiger als früher an seinen Vater, den er fast vier Jahre lang nicht mehr gesehen hatte. Utas Worte: „Jedenfalls scheint er ein Mann von Charakter zu sein“ hatten auf Holt nachhaltig gewirkt. Vielleicht hatte er gar keinen Grund, sich seines Vaters zu schämen. Aber die Entfremdung wurde durch diesen Gedanken nicht geringer.

Wieder verteilte der Wachtmeister beim Mittagessen Post. Holt erhielt als letzter einen Brief. Er wagte kaum, den Um­schlag zu öffnen. In der Stube legte er sich auf sein Bett und las. In der kleinen Stadt ging das Leben weiter, als habe es die Jungen der Klasse VII niemals gegeben. Die Worte, die Holt ungeduldig überflog, waren blank und spöttisch wie immer. Aber zum Schluß wurden sie ernst. „Glaube nicht“, schrieb Uta, „daß dieser Sommer spurlos an mir vorübergegangen ist, aber reden wir nicht davon. Das Wasser zwischen uns Königskindern ist tief. Aber solange Du daran Freude hast, kannst Du mit einer gewissen Anhänglichkeit meinerseits rechnen, es wird Dich, wie ich Dich kenne, zu ungeheuren patriotischen Taten anspornen.“



Er setzte sich am gleichen Abend hin und schrieb, verliebt und überschwenglich.

Sie wechselten nun regelmäßig Briefe. Auf seine Verliebt­heit antwortete sie mit Spott und Ironie. Nie schrieb sie mehr als zwei Seiten, aber auch nie weniger. Er bewahrte den Briefpacken sorgfältig auf; das Kreuz trug er stets in der Brust­tasche.

Wolzow erklärte eines Tages: „Das einzig Wahre ist La­den!“ Scharf zu laden war für Luftwaffenhelfer verboten. „Dös is a z' schwere Arbeit für a solche Jungs!“ sagte Schmiedling. Die Patronen wogen etwa dreißig Pfund und mußten auch bei siebzig oder achtzig Grad Rohrerhöhung in drei Se­kunden geladen und abgefeuert sein. Aber Wolzow setzte es durch, daß er sich den riesigen, aus fingerdickem Leder ge­nähten Ladehandschuh auf die rechte Hand ziehen und vor­führen durfte, was Holt als wohlformuliertes Sprüchlein zum hundertstenmal in den Geschützstand brüllte: „K 3 faßt bei Ertönen der Feuerglocke eine in der Zünderstellmaschine lade­fertig gemachte Patrone mit der rechten Hand am Patronen­boden, mit der linken Hand am Schwerpunkt des Geschosses und führt sie mit der geballten rechten Faust ins Rohr ein. Unter gleichzeitiger Linksdrehung des Oberkörpers zieht ei mit der rechten Hand ab.“

Das Feuerleitgerät gab nun beim Gefechtsexerzieren Richt­werte an die Kanonen. Eine uralte Klemm-Schulmaschine brummte als Ziel über der Stadt herum.

Sie fühlten sich bald als erprobte Flaksoldaten. „Wir alten Krieger“, sagte Wolzow immer häufiger im Gespräch. Was sie an den Geschützen gelernt hatten, das war in Fleisch und Blut übergegangen. Täglich lernten sie Neues. Es gab starres und bewegliches Sperrfeuer. Nahfeuer mit besonderer Munition, die durch gelbe Ringe auf den Patronenböden gekennzeichnet war. Mitten im gefechtsmäßigen Exerzieren mußten sie den Verschlußkeil ausbauen, weil angeblich der Schlagbolzen ge­brochen war, was in der Praxis kaum jemals vorkam; aber Schmiedling bevorzugte gebrochene Schlagbolzen; weil dies eine beliebte Aufgabe bei der Besichtigung sei... Er stand dabei, die Uhr in der Hand, und stoppte die Zeit. Gleicher Beliebtheit erfreuten sich Versager, welche hundert Meter weit aus der Stellung getragen werden mußten, was die Be­dienung in Deckung abzuwarten hatte ...

Das Geschütz- und Munitionsreinigen war erträglich. Schmiedling hockte dabei und erzählte. Er zeigte Bilder seiner Frau und seiner vier Kinder. Man lobte, wie „kräftig“ die Kleinen seien. Dieses Stichwort hatte Schmiedling selbst ge­geben. Er hatte Holt das Bild seiner Frau gezeigt, ein kleines, vom vielen Herumreichen abgenutztes Phot. „Sehen S’ Ihnen die amol an, net wahr, dös is a kräftige Frau, wie S’fei ka beßre net wem findn!“ Warum hebt er so hervor, daß sie kräf­tig ist? dachte Holt. Darauf kommt es bei einer Frau doch nicht an! „Wissen S’, die schafft am sölbigen Hof, als Groß­magd, da wo i als Schweizer gearbeit hab ... Dös is a Glück, wenn a Frau so anpacken kann! Dös haut hin!“ Er sagte noch mehrfach: „Dös haut hin... Die beiden Buabn arbeitn a scho mit, die treiben dös Vieh auf d’ Alm, net wahr!“

Wieder sah Holt mit einem nachdenklichen Blick auf den Obergefreiten.

Aber die Stunden am Geschütz, da man beieinandersaß, eine Patrone mit „Fliegerfett blau“ einrieb und dabei plauder­te, waren selten. Müde, wie zerschlagen, fielen die Jungen abends ins Bett und rappelten sich ein paar Stunden später wieder auf, wenn die Glocke zur Nachtübung rief, und Got­tesknecht setzte das nächtliche Gefechtsexerzieren stets ohne vorherige Benachrichtigung an.

Schmiedling zeigte am Geschütz einen unerschöpflichen Einfallsreichtum. „Das kann er sich gar nicht alles ausden­ken!“ sagte Gomulka. „Das muß wohl alles vorkommen.“ Mitten im nächtlichen Exerzieren ließ Schmiedling das Funkmeßgerät ausfallen: Düppel-Störung! „Dös is, wann die daheroben so a Silberpapierzeugs runterschütten, was die Stan­niolstreifen sin, da kann dös Fu-MG net messen!“ Er befahl eine neue Art des Sperrfeuers, Barrikadenfeuer, der Befehl lautete: „Barrikade – marsch!“, und bei fest eingestellten Richtwerten mußten die Ladekanoniere laden und feuern, immerfort laden und feuern... „Jetzt is d’Munition am Gschütz zu Ende is die, holen S’ Patronen von der Zwotausstattung ran, aber dalli!“ Sie liefen, Exerzierpatronen im Arm, durch die Nacht, vom Geschützstand zu den weit ent­fernten Bunkern der Zweitausstattung und zurück, eine Stunde lang, hin und her, bis sie vor Anstrengung keuchten und ihnen die Knie zitterten. Dabei pfiff Schmiedling auch noch auf seiner Trillerpfeife, und sie mußten sich mit der Patrone im Arm hinwerfen – aber wehe, wenn dabei die Patrone den Erdboden berührte! –, denn jeder Pfiff bedeutete eine Bombe.

Bei einer solchen Gefechtsübung kam der dicke Vetter zu dem Spitznamen „Leiche“. Schmiedling ließ einen der fin­gierten Tiefangriffe mit Nahfeuer abwehren; beim Nahfeuer hatten die Richtkanoniere das Ziel übers Rohr direkt anzu­visieren. („Wobei jeder Schuß ’n Kilometer danebenhaut“, sagte Wolzow.) Alles klappte, hundertmal geübt; doch da tauchte die alte Klemm plötzlich tief, ganz tief im Süden über dem Stadion auf, knatterte über die Stellung hinweg, und Schmiedling brüllte: „Tiefangriff Richtung sechs! Volle Deckung!“ Auch das war schon hundertmal geübt worden. Aber heute passierte Vetter ein Mißgeschick. Er warf sich nicht der anfliegenden Maschine entgegen in die Deckung des ho­hen Erdwalles, sondern hopste eine Weile unentschlossen im Geschützstand herum und suchte dann auf der entgegenge­setzten, auf der falschen Seite Deckung, während die Klemm über ihre Köpfe hinwegbrauste. Schmiedling wurde zornig. Er scheuchte die anderen wieder ans Geschütz, Vetter aber rief er zu: „Vetter, werden S’ wohl liegenbleiben! Sie san tot! Tot san Sie! Sie depperte Leich, Sie depperte!“

Holt sagte später zu Gomulka: „Es ist ein unheimlicher Spitzname ...“ Aber es blieb dabei, und auch Gottesknecht rief: „Vetter, Sie Leiche, Sie sollen ja lebensmüde sein!“

Überhaupt: Gottesknecht! Er wußte alles, er sah und hörte alles und tauchte stets im unpassendsten Augenblick auf. An den „Gastagen“, da man von früh bis abends mit aufgesetzter Gasmaske herumlaufen mußte, wurde Gottesknecht zur Plage. Man hatte ihnen französische Beutemasken gegeben, deren großer und schwerer Filter in einer umgehängten Tasche ge­tragen wurde und durch einen Gummischlauch mit der Maske verbunden war. Die Jungen schafften sich Erleichterung, indem sie die Filter lockerschraubten, um mehr Luft zu bekom­men. Aber dann war plötzlich Gottesknecht da, faßte in die Umhängetasche, und es hagelte Nicht genügend.

Während des harten Dienstes verfolgten die Jungen mit be­sonderer Spannung die Nachrichten über den Luftkrieg. Tag und Nacht flogen die Bomber über die Grenzen, minde­stens nachts die „Störflugzeuge“, unter denen sich niemand etwas Genaues vorstellen konnte. Immer häufiger wurde das „rheinisch-westfälische Gebiet“ als Angriffsziel genannt. „Das sind wir“, sagte Holt zu Gomulka. Es war nun schon Oktober. „Hast du gehört? Gestern nacht wieder mehrere Städte, be­sonders Bochum.“ Wolzow las aus der Zeitung vor, eine Luftschlacht über Bremen habe die Angriffe im ganzen nicht verhindern können.

Holt dachte an seine Verwandtschaft in Bremen. Der Stief­bruder seiner Mutter war dort Generaldirektor einer Werft. Die Hamburger Verwandten hatten die Angriffe unbescha­det überstanden.

Schon wenige Tage später hörte man von einer siegreichen Luftschlacht über Schweinfurt. „,Die deutsche Luftabwehr hat am 14. Oktober wiederum ihre ständig wachsende Stärke bewiesen und den feindlichen Angriffsverbänden gezeigt, daß ihrer Vernichtungswut Grenzen gesetzt sind“, las Wolzow vor. Die Nachricht verbreitete Optimismus. „,Wir registrie­ren nüchtern einen Markstein in der Entwicklung des großen Luftkampfes ...’, und hier: ,Die Piloten abgeschossener Ma­schinen haben völlig demoralisiert von der »Flakhölle« ge­sprochen!‘“ Vor diesen Nachrichten verblaßten die Meldun­gen von den Fronten. Wen interessierte schon die „Ausdehnung der Schlacht im Osten“? – „Ich denke, wir werden gerade zur großen Wende des Luftkrieges zurechtkommen“, sagte Holt, „wenn bloß erst die Ausbildung ein Ende hätte!“

Schmiedling malte täglich die Folgen einer fehlgeschlagenen Besichtigung aus. Das Ausbildungsprogramm war erfüllt, es gab nichts Neues mehr.

Die Batterie, an deren Geschützen sie ausgebildet wurden, hatte in der vergangenen Zeit ein paarmal Alarm gehabt. „Ge­fechtsschaltung“ war die erste Alarmstufe; kamen die Bomber näher, wurde „Feuerbereitschaft“ befohlen, aber das war in den fünf Wochen nicht vorgekommen. Der Alarm der Bat­terie 329 hatte die Jungen von der 107/III bisher nicht be­troffen.

Eines Tages waren sie, wie üblich, zum Unterricht in der Kantine versammelt, und Gottesknecht ritt sein Steckenpferd Flakschießlehre. Der etwas schwerfällige Hampel hatte gerade das dritte Nicht genügend einstecken müssen, als die Alarm­klingel losschrillte. Da packte Gottesknecht seine Dienstvor­schriften ein und sagte: „Wissen Sie was? Heute machen wir mit.“ Es fuhr ihnen in die Glieder.

Die Batterie, am Tage nur mit vier Geschützen feuerbereit, wurde des Nachts durch Arbeiter und Angestellte aus der Stadt, durch sogenannte Flakwehrmänner, verstärkt, so daß alle sechs Geschütze besetzt werden konnten. Heute nun rannten die Jungen an die beiden Geschütze. Gottesknecht zog mit sei­nen acht Mann auf die Befehlsstelle.

Schmiedlings Bedienung war aufgeregt, am aufgeregtesten aber war Schmiedling selbst. „Machen S’ mir ka Schand net, i bitt Sie!“ Wohl zehnmal versicherte er: „Wenn’s was geben sollt. . . Dös Schießen is fei net schlimm is dös net!“ Da sie noch keine Gehörschützer empfangen hatten, verteilte er Watte.

Als Ladekanonier war ihnen ein Obergefreiter, der „Schreib­stubenhengst“, zugeteilt worden. Wolzow nahm ihm den Ladehandschuh weg, Schmiedling, an der Geschützführerleitung, sagte: „Benehmen S’ Ihnen net so frech! Da muß i erst an Antrag auf Sondererlaubnis muß erst amol eingreicht wem, eh Sie scharf laden dürfen!“ – „Gefechtsschaltung aufgehoben“, brüllte jemand von der B 2.

Am nächsten Morgen, beim Appell, rief Gottesknecht: „Ich hab eine Überraschung! Unser Dienstplan sieht vier Stun­den Gefechtsexerzieren vor, geht Punkt zehn Uhr los, mit Zieldarstellung. Da fliegt ein ganz toller Bomber für uns; zeigen Sie mal, was Sie gelernt haben! Grinsen Sie nicht, Holt! Warum grinsen Sie?!“ – „Herr Wachtmeister, der tolle Bom­ber wird wieder die alte Klemm sein, die fällt uns bestimmt mal auf den Kopf!“ – „Mangelhaft!“ rief Gottesknecht. „Heute fliegt tatsächlich eine Ju 88, weil es das letztemal ist!“

Es geht los, dachte Holt, es ist soweit! Und er sah auf Wolzow, der Ruhe und Gelassenheit ausstrahlte. Gottesknecht fuhr fort: „Ich schau mir während des Exerzierens die Ge­schützbedienungen an, mit allen Schikanen. Wenn es klappt...“ Er zögerte, dann fuhr er ganz sachlich fort: „... dann tragen Sie anschließend sämtliche Klamotten auf die Kammer. Un­sere Batterie hat im Raum Essen, Wattenscheid und Gelsen­kirchen Stellung bezogen, ideale Gegend! Wir fahren heut nacht!“

Alle wußten es, aber da Gottesknecht es aussprach, traf es doch wie ein Hieb. Gottesknecht rief: „Heiliger Antonius! Was ziehen Sie denn für Gesichter! Was denken Sie, wie schön das dort wird! Ich versprech Ihnen eine ganz ruhige Tour, wenn nicht grad geschossen wird oder wenn Sie nicht grad Schulunterricht haben, das geht dort nämlich weiter, oder wenn nicht grad Munition abgeladen wird oder wenn nicht grad Bombentrichter zugeschaufelt werden müssen oder wenn nicht grad was anderes ist. – Ruhe im Glied! Wolzow, quat­schen Sie nicht. Sie wollen Offizierssohn sein? Der Schand­fleck der Batterie sind Sie!“

„Herr Wachtmeister“, sagte Wolzow, „den ,Schandfleck’ laß ich mir nicht gefallen, das ist...“

„Wolzow! Treten Sie vor! Nach links weg, marsch, marsch ... hinlegen... auf... hinlegen!“ Er wandte sich zum rechten Flügel. „Schmiedling, machen Sie weiter, los, schleifen Sie Ihren Liebling mal ’n bißchen, so ein frecher Kerl, zehn Minuten, aber mit allem Drum und Dran!“ Und zu Wolzow, der bewegungslos auf dem Boden lag: „Gaaaas! So ist’s schön, jawohl, nein, Sie hier nicht, bloß der Wolzow, damit sich ihm das Ende der Ausbildung einprägt!“

Wolzow hatte die Gasmaske übers Gesicht gestreift. Gottes­knecht rief: „Schmiedling, sehen Sie nach, ob die Maske dicht ist, der Wolzow ist raffiniert! Herrgott, Schmiedling, wie ma­chen Sie denn das? Da drückt man einfach den Schlauch zu­sammen, wenn er dann nach fünf Minuten noch lebt, sitzt die Maske nicht dicht!“

Die Jungen lachten. Der Wachtmeister sagte: „Ist das nicht schön, daß wir alle so prachtvolle Laune haben? – Holt! Warum lachen Sie nicht mit?“

„Herr Wachtmeister, der Wolzow ist mein Freund, da kön­nen Sie nicht erwarten, daß ich mich amüsier, wenn er ge­schliffen wird!“

„Herrlich muß das sein, so ’n treuer Freund!“ rief Gottes­knecht. „Wie sagten Sie? Das kann ich nicht erwarten? Ha­ben Sie eine Ahnung, was ich alles kann! Holt, los, Gaaaas!“ Holt riß die Gasmaske heraus und setzte sie auf. „Schmied­ling, nehmen Sie Kastors Pollux gleich mit! Verstehen Sie nicht? Den Holt sollen Sie auch ein bißchen schleifen!“ Und er rief: „Geteiltes Leid, Wolzow, ist halbes Leid. Wie bin ich zu Ihnen?“

Holt und Wolzow keuchten über den Acker. Nach einer Viertelstunde schickte Schmiedling sie in die Baracke. „Teifi, war dös wieder amol nöti?“

In der Stube war der bevorstehende Einsatz alleiniges Ge­sprächsthema. So stark sich ein jeder auch gebärdete: die Auf­regung grenzte an Angst. Wolzow sagte: „Ob dir was ge­schieht oder nicht, das steht fest, da kannst du gar nichts machen! Soll dir was passieren, dann passiert’s so oder so, ob du bei der Flak im Ruhrgebiet bist oder an der Ostfront.“ – „Allah ist groß“, sagte Gomulka, „alles steht im Buche des Lebens verzeichnet! Deine Schicksalsergebenheit hat was für sich.“ – „Mein Vater hätte dir vielleicht Geschichten erzäh­len können“, rief Wolzow, „aus zwei Kriegen, von Leuten, die geglaubt haben, sie können ihrem Schicksal entgehen!“

Es komme, wie’s kommen muß, dachte Holt.

Kurz vor zehn rief Schmiedling sie an die Geschütze. Got­tesknecht war eine halbe Stunde bei Schmiedlings Kanone zu Gast. Er fand nichts auszusetzen. Noch einmal wurde das Pro­gramm durchexerziert. Holt, so hatte es sich eingebürgert, war K 2, Gomulka richtete die Höhe, Vetter hockte an der Zünderstelimaschine. Wolzow war K 3. Gottesknecht sah, wie spielerisch leicht Wolzow auch bei maximaler Rohrerhö­hung die schwere Patrone ins Rohr schob. „Na, Schmiedling, da haben Sie eine brauchbare Bedienung ausgebildet!“ Schmied­ling gab das Lob weiter: „Ihr seid’s fixe Kerle! Wir müssen zsammenbleibn!“

In den HJ-Uniformen, in denen sie angekommen waren, lagen sie auf blanken Strohsäcken herum und schrieben eifrig Briefe. Gegen Abend holten sie Verpflegung, dann stand schon Gottesknecht in der Tür. „Meine Herren, wenn ich Sie höf­lichst bitten darf... Der Wagen ist vorgefahren! Nehmen Sie tränenreichen Abschied.“

Ein großer dreiachsiger LKW jagte durch die Nacht. Auf den heißen, trockenen Sommer war der Oktober gefolgt, wol­kenverhangen, oft regnerisch und kühl. Bei Regen und triefen­der Nässe hatten sie am Geschütz gehockt, dann wieder wa­ren strahlende Herbsttage heraufgedämmert, warm und wol­kenlos. Diese Nacht aber war dunkel, kalt und sternenlos. Mit abgeblendeten Scheinwerfern raste der Wagen westwärts.

4.

Der Wagen hielt in der Dämmerung auf einer Anhöhe. Es war morgens gegen fünf. Die Luft, von weißem Nebel gesät­tigt, schmeckte nach Ruß und Rauch. Klamm die Anzüge, die Glieder steif vor Kälte, so standen sie herum. Undeutlich im Nebel erkannte Holt mehrere dicht nebeneinanderstehende Baracken. Er fror und fand sich nicht zurecht.

Ein Obergefreiter tauchte aus dem Nebel, um die linke Achsel die gelbe Schnur des UvD. „Servus, Fritz!“ rief Schmied­ling erfreut. „Dös is unser Waffenmeister, der Obergefreite Macht!“ – „Leise“, sagte Macht, ein Mann von fünfund­dreißig Jahren, klein, dick und blond, „leise! Dort drüben schläft der Chef!“ Er wandte sich an die Jungen: „Sie werden eingekleidet.“ – „War was los heut nacht?“ fragte Schmiedling. „Hier war Ruhe“, antwortete Macht, „aber im Norden hat’s Zunder gegeben.“ – „Und sonst?“ – „Jede Nacht“, sagte der Waffenmeister, „und fast jeden Tag.“ Und zu den Jungen: „Mitkommen!“

In einer der Baracken war die Kammer untergebracht. Durch Fensterläden schimmerte Licht. Irgendwo in der Nähe erhob sich wütendes Hundegebell. Eine dröhnende Stimme rief: „Halt ’s Maul, Mensch!“ – „Das ist der Chef!“ flü­sterte Macht. „Seid bloß still!“

Sie erhielten Uniformen, eine Ausgehmontur mit einreihi­gem, auf Taille gearbeitetem Mantel, und auch ein Blechhüchschen mit Gehörschützern. Obergefreiter Schnitzler, der Kammerunteroffizier, war ein dünner, behender Mann mit raschem Mundwerk. „Meckern Sie nicht! Wenn was nicht paßt, tauschen Sie’s um!“ Mit Kleidern bepackt, verließen sie die Kammer und zogen sich in einer leerstehenden Baracke um.

Die Wohnbaracke A, Anton genannt, stand etwa fünfzig Meter von der Kammer entfernt. Holt war bald fertig. Er ging ein paar Schritte den Fahrweg entlang, blieb stehen und sah sich um.

Es tagte. Bald mußte die Sonne aufgehen. Der Morgenwind trieb den Nebelvorhang zur Seite, der Blick auf die Stellung wurde frei. Holt prägte sich die Lage der Batterie fest ein. Ein kahler Höhenrücken, der Boden schmutziggrau, die Äcker mager und steinig. Im Osten stand Wald, dürre, kahle Stäm­me, die trostlos an die üppigen, unwegsamen Wälder in den Bergen erinnerten. Vier weit auseinanderliegende Wohnbarac­ken bildeten ein großes Rechteck, dessen Seiten von West nach Ost etwa hundertfünfzig, von Süd nach Nord nicht mehr als fünfundsiebzig Meter messen mochten. Holt sah im Morgen­licht links von sich Anton, rechts Berta, und dort stand noch ein gemauertes Häuschen, an dem das Wort „Kantine“ zu lesen war. Zwischen Anton und Berta lag der Barackenhaufen von Kammer, Schreibstube, Küche und Chefunterkunft. Nach links, zu Anton, führte ein Lattenrost, nach rechts, zu Berta und der Kantine, ein breiter Fahrweg, der hier nach Süden bog, talwärts ein Eisenbahngleis schnitt und dann auf eine Straße mündete. Jenseits der Straße zog sich ein Kanal von Osten nach Westen; dort hing noch weißer, undurchsichtiger Nebel. Im Norden von Berta, am Westhang der Anhöhe, sah Holt Baracke Cäsar, und im Norden von Anton konnte er Baracke Dora erkennen, davor einen großen, einsamen Baum. Inmitten dieses Rechtecks lag die Feuerstellung, die hohe Erd­aufschüttung der B 2, umgeben von den sechs Geschützstän­den. Hinter der B 2 war das Funkmeßgerät eingegraben. Im Westen der Feuerstellung wölbten sich in einer Reihe von Nord nach Süd die vier großen Munitionsbunker der Zweit­ausstattung aus dem Acker.

Ringsum, im Tal, sah Holt sich von dem Panorama eines gewaltigen Industriegebietes umgeben, überall Schlote, Rie­senschornsteine, die grauen Qualm ausspien, wieder und wieder Schlote, Hochöfen, die rote Flammen brennender Gichtgase in den Himmel warfen, Lufterhitzer, Kokereien, riesige Hallen der Stahlwerke am Horizont, dazwischen För­dertürme mit kreisenden Seilscheiben, Riesenretorten der Raf­finerien, Abraum- und Kohlenhalden wie die heimischen Berge, und dies alles von Dunst und Rauch überlagert, von Qualm­wolken, die träge mit dem Winde davonwehten, durch ein Gewirr von Bahnanlagen verbunden und ringsum eingeschlos­sen von einem endlosen Häusermeer: Essen im Süden und We­sten, Gelsenkirchen im Norden und Nordosten, Wattenscheid im Osten. Die Städte liefen ineinander, und Häuser, Industriewerke, Schlote, Hallen und Geleise nahmen kein Ende, so weit der Blick reichte.

Das ist nun auch mir anvertraut, dachte Holt. Ein Gefühl des Stolzes bewegte ihn. Aber in seinem Rücken schrie eine derbe Stimme:„Stehn Sie hier nicht rum!“ Ein Unteroffizier trat vor ihn hin, ein dreißigjähriger Mann, das Käppi tief in die Stirn gedrückt. „Name!“ Und dann: „Worauf warten Sie, Holt? Haun Sie ab, Sie Spund, in zehn Minuten ist Morgen­appell!“

Die Batterie trat auf dem breiten Weg an, der am Rande der Feuerstellung von der Schreibstube zur Kantine führte. Am rechten Flügel stand das Batteriekommando, ein Unter­offizier und zehn Obergefreite. Die achtundzwanzig Neuen, wie sie von den anderen genannt wurden, standen müde und übernächtig im Glied. Holt sah sich die Oberhelfer an, die schon länger zur Batterie gehörten, und er dachte respektvoll: Die haben Hamburg mitgemacht!

Das Antreten ging nicht ganz reibungslos vor sich. Wolzow geriet mit einem der Oberhelfer aneinander, der ihn einfach zur Seite schieben wollte. „Benimm dich!“ sagte Wolzow schließlich. „Du hältst deine Fresse, Neuer!“ – „Mensch!“ rief Wolzow. „Spiel dich nicht auf, sonst kracht’s!“ – „Ruhe im Glied!“ brüllte der Unteroffizier, Engel mit Namen. „Wollt ihr wohl die Schnauze halten?“ Von hinten raunte es: „Laß ihn, Günsche, machen wir andermal!“

Das gibt Ärger, dachte Holt. Er sah Wolzow verächtlich den Mund verziehen. Hinten murmelte jemand: „Der Neue soll sich wundern!“

Engel meldete dem Wachtmeister. Gottesknecht, vor der Front, musterte schweigend die angetretenen Jungen. Dann stürzte aus der Chefunterkunft, bei der Schreibstubenbaracke, mit tollem Gebell ein brauner Setter, raste zu der angetrete­nen Batterie, umkreiste sie kläffend und lief zur Schreib­stube zurück, aus der in diesem Augenblick der Batteriechef, Hauptmann Kutschera, trat.

„Batterie... stillstann!“ schrie Gottesknecht. Er kann also auch schreien, dachte Holt... „Zur Meldung an den Herrn Hauptmann Augen ... rechts!“ Gruß und Meldung: „Batte­rie mit zwei Unteroffizieren, zehn Mann und achtundzwanzig Luftwaffenhelfer angetreten.“

Der Hauptmann legte mit nachlässiger Bewegung die Hand an den Mützenschirm, trat näher und rief mit einer ungeheu­ren Stimme: „Morn, Batterie!“, und: „Morn, Herr Haupt­mann!“ scholl es im Chor zurück. „Lassen Sie rühren“, sagte Kutschera. Auch wenn er nur leise sprach, dröhnte seine Stimme weit über den Platz. Gottesknecht kommandierte: „Batterie ... rührt euch!“ Dann blieb er links hinter dem Chef stehen. Kutschera schaute eine Weile gelassen die Front auf und ab.

Holt betrachtete den Gewaltigen: Das war ein riesiger, an die zwei Meter großer Mann, fünfzigjährig, eine furchtein­flößende Gestalt. Der graue, weite Fahrermantel reichte bis zu den Knöcheln und wies keine Rangabzeichen auf. Nur an der Schirmmütze trug er die silberne Paspel der Offiziere. Die Mütze saß schief auf dem langen Schädel, der aus dem Fahrermantel bleich emporwuchs, und überschattete das Pferdegesicht, das schmal und derb konturiert war; alles in diesem Gesicht zog sich in die Länge, die fleischige Nase, der breitlippige Mund. Die Augen, tief im Schatten des Müt­zenschirms, blickten kalt und drohend. Der Setter lag ihm zu Füßen, den Kopf auf die Vorderpfoten gelegt.

„Hört mal her“, sagte der Hauptmann. Er öffnete kaum den Mund, aber seine Stimme war dröhnend und durchdringend. Er hatte die Hände in den Manteltaschen vergraben. „Jetzt wird eingeteilt. Wenn das länger als eine halbe Stunde dauert, passiert was. Punkt acht...“ – er nahm die Linke aus der Manteltasche und blickte auf die Armbanduhr – „melde ich die Batterie einsatzbereit. Wird höchste Zeit; hier ist bißchen was los. Das kotzt mich an, wenn die Schweine da oben rumkurven, und ich kann ihnen keins draufgeben.“ Er erklärte den Kampfauftrag: „Schutz der umliegenden Industrieanlagen und Wohnviertel.“ Dann verstummte er unvermittelt; er wollte sich abwenden, und der Hund sprang schon auf die Füße. Aber Kutschera hielt mitten in der Bewegung inne und dröhn­te: „Ein Wort an die Neuen! Wenn sich einer beim ersten Gefecht die Hosen vollscheißt, das ist mir egal. Aber wehe, einer macht schlapp! Wenn die Brüder nicht spurn, dann sol­len ihnen die Oberhelfer das beibiegen. Selbsterziehung ist noch immer das solideste.“

Ein Freibrief, dachte Holt und schielte verstohlen zur Seite; er sah die Oberhelfer grinsen und Blicke wechseln... Die Stimme des Hauptmanns riß ihn aus seinen Gedanken: „Noch was! Heut nachmittag Batterieexerzieren mit Zieldarstellung. Da schau ich mir die Neuen an. Vielleicht kommen ein paar Amis vorbei, das ist immer noch das solideste . . . Ach was!“ sagte er plötzlich und wandte sich ab. Der Hund sprang bel­lend hoch. „Sei still, Mensch!“ Der Hauptmann verschwand in Richtung Schreibstube.


Date: 2016-03-03; view: 912


<== previous page | next page ==>
Worauf laß ich mich ein? 9 page | Worauf laß ich mich ein? 11 page
doclecture.net - lectures - 2014-2024 year. Copyright infringement or personal data (0.012 sec.)