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Süddeutsche.de Kultur

Grass’ Gedicht im Wortlaut

Was gesagt werden muss

04.04.2012 12:03 Süddeutsche.de Kultur

Das Gedicht von Günter Grass

Günter Grass warnt in der „Süddeutschen Zeitung“ vor einem Krieg gegen Iran. In seinem Gedicht mit dem Titel “Was gesagt werden muss” fordert der Literaturnobelpreisträger deshalb, Israel dürfe keine deutschen U-Boote mehr bekommen.

Warum schweige ich, verschweige zu lange,

was offensichtlich ist und in Planspielen

geübt wurde, an deren Ende als Überlebende

wir allenfalls Fuβnoten sind.

 

Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag,

der das von einem Maulhelden unterjochte

und zum organisierten Jubel gelenkte

iranische Volk auslöschen könnte,

weil in dessen Machtbereich der Bau

einer Atombombe vermutet wird.

 

Doch warum untersage ich mir,

jenes andere Land beim Namen zu nennen,

in dem seit Jahren – wenn auch geheimgehalten –

ein wachsend nukleares Potential verfügbar

aber auβer Kontrolle, weil keiner Prüfung

zugänglich ist?

 

Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes,

dem sich mein Schweigen untergeordnet hat,

empfinde ich als belastende Lüge

und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt,

sobald er miβachtet wird;

das Verdikt „Antisemitismus“ ist geläufig.

 

Jetzt aber, weil aus meinem Land,

das von ureigenen Verbrechen,

die ohne Vergleich sind,

Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird,

wiederum und rein geschäftsmäβig, wenn auch

mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert,

ein weiteres U-Boot nach Israel

geliefert werden soll, dessen Spezialität

darin besteht, allesvernichtende Spengköpfe

dorthin lenken zu können, wo die Existenz

einer einzigen Atombombe unbewiesen ist,

doch als Befürchtung von Beweiskraft sein will,

sage ich, was gesagt werden muβ.

 

Warum aber schwieg ich bislang?

Weil ich meinte, meine Herkunft,

die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist,

verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit

dem Land Israel, dem ich verbunden bin

und bleiben will, zuzumuten.

 

Warum sage ich jetzt erst,

gealtert und mit letzter Tinte:

Die Atomkraft Israel gefährdet

den ohnehin brüchigen Weltfrieden?

Weil gesagt warden muβ,

was schon morgen zu spät sein könnte;

auch weil wir – als Deutsche belastet genug –

Zulieferer eines Verbrechens werden könnten,

das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld

durch keine der üblichen Ausreden

zu tilgen wäre.

 

Und zugegeben: ich schweige nicht mehr,

weil ich der Heuchelei des Westens

überdrüssig bin; zudem ist zu hoffen,

es mögen sich viele vom Schweigen befreien,

den Verursacher der erkennbaren Gefahr

zum Verzicht auf Gewalt auffordern und

gleichfalls darauf bestehen,

daβ eine unbehinderte und permanente Kontrolle



des israelischen atomaren Potentials

und der iranischen Atomanlagen

durch eine internationale Instanz

von den Regierungen beider Länder zugelassen wird.

 

Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern,

mehr noch, allen Menschen, die in dieser

vom Wahn okkupierten Region

dicht bei dicht verfeindet leben

und letztlich auch uns zu helfen.

 

Süddeutsche.de Kultur


Date: 2016-01-14; view: 817


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