Es handelt sich nicht um Entwicklung des Menschen, sondern der Menschheit.
(335.)
Was haben Sie sich hier unter Menschheit gedacht? Gewiß dasselbe, was sich Schopenhauer dachte, d.h. eine hinter dem Individuum schwebende unsichtbare Gattung.
Ich habe in meinem Hauptwerk den Unfug gerügt, welcher in der Wissenschaft mit dem Wort Gattung getrieben wird, und verweise Sie darauf. Die Gattung ist für den echten Denker ein Begriff wie Stecknadel, Tisch, Stuhl. Wer die Gattung in einem anderen Sinne gebraucht, glaubt auch ganz bestimmt an eine einfache Einheit in oder über der Welt; denn eine solche Gattung ist das Verbindungsglied der Welt mit einer erträumten Einheit in oder über ihr.
Ich sage Ihnen: auf die Entwicklung des einzelnen Menschen kommt es ganz allein an; denn die Einwirkung des Einzelnen auf das Ganze ist ganz unberechenbar groß, und die Menschheit ist nur durch die Einzelnen in den Einzelnen. Im Augenblick, wo alle Menschen sterben würden, stürbe auch die Menschheit. Jeder Mensch handelt seinem individuellen Wohle gemäß. Er kann sich selbstverständlich hierbei irren; aber im Moment der Handlung |
ii593 glaubt er immer, daß er seinem Wohle gemäß handelt, welches Wohl natürlich auch dann gewahrt bleibt, wann von zwei Uebeln das kleinere gewählt wird. –
Welches die unbewußte treibende Culturidee in einem bestimmten Zeitabschnitt sein solle, kann nur durch das Unbewußte selbst in Beziehung auf die gerade dann ideell erforderliche Entwicklungsphase bestimmt werden.
(338.)
Diese so zu sagen prästabilirte Harmonie zwischen historischen Aufgaben und Individuen mit der Specialbefähigung, dieselben zu lösen, geht so weit, daß selbst technische Erfindungen (in praktisch verwendbarer Gestalt) immer erst dann, aber dann auch stets gemacht werden, wenn die Vorbedingungen zu einer für die Cultur fruchtbaren Ausnutzung derselben, sowie das Bedürfniß nach derartigen Culturhülfsmitteln gegeben sind.
(340.)
In diesen Sätzen lehren Sie unverhüllt eine göttliche Vorsehung, d.h. Sie wollen uns in die Arme des jüdischen Theismus zurückwerfen. Sie werden im Fortgang Ihres Werks immer retrograder: zuerst warfen Sie uns an die Brust des Cartesius, dann an die Plato’s und nun an die Jehovah’s. Sie Erzromantiker!
Wie fruchtbar, wie segensreich erweist sich hier meine Philosophie! Was Sie sagen, hat seine volle Richtigkeit; aber es beruht nicht auf einer soliden Grundlage, sondern auf einem Hirngespinnst. Die Entwicklung der Menschheit ist vor der Welt von einer gestorbenen Einheit bestimmt worden und wird deshalb in der Welt nur von Individuen bewerkstelligt, welche lediglich nach ihrem Glückseligkeitstrieb handeln. So haben wir denn eine gottlose und doch göttliche Welt, d.h. eine allein existirende Welt, aber durchweht vom göttlichen Athem einer vorweltlichen Einheit. Deshalb auch ist die Resultirende aus allem individuellen, particulären Wollen doch immer nur ein einiger Weltlauf, als ob er die Bewegung einer einfachen Einheit wäre. –
Der socialen Frage gegenüber nehmen Sie selbstverständlich den denkbar engherzigsten Bourgeois- Standpunkt ein, wie Schopenhauer, Ihr Vorbild in allem Schlechten.
Sie entwickeln schülerhaft das große Ricardo’sche Gesetz und sagen dann, daß die wichtigste sociale Aufgabe der Gegenwart darin bestünde: »die Erziehung der Masse durch Schulze-Delitz’sche |
ii594 Vereine, bessere Schulbildung, Arbeiterbildungsvereine u.s.w. zu üben.« (351.)
Aber hier will ich sehr, sehr nachsichtig mit Ihnen sein; denn Sie sind ein Talent, und von Ihnen fordern zu wollen, daß Sie ein Genialer, oder gar ein weiser Held, der am Kreuze für die Menschheit verblutet, sein sollen, wäre unvernünftig. Die sociale Frage, Herr von Hartmann, verlangt für ihre Lösung einen ganz neuen Geist in allen Volksschichten, und dieser Geist kann sich in den Scherben der zersprungenen Formen des Mittelalters nur schwach entwickeln. Es wird Ein Tag sein, wo Ihre Philosophie, Alt-Katholicismus, Neu-Katholicismus, Alt- und Neu-Protestantismus, altes und Reform- Judenthum, Zwei- Kammersystem, liberale und conservative Parteien, sociale Kasten, Schulze-Delitz’sche Vereine, Arbeiterbildungsvereine und die Productionsweise von Gütern unter der Herrschaft des Kapitals zusammen zerbrechen: ein einziger Tag! ob er auch erst in hundert Jahren anbreche. Aber wann er kommt, dann hält sich auch keine der Institutionen mehr, welche entweder aus der alten Zeit in den immer rasender werdenden Strom der Menschheitsentwicklung hereinragen, oder als Palliativ-Mittel gegen das sociale Elend ersonnen worden sind. Es wird ein Zusammensturz ohne Trümmer sein, wie eine Luftspiegelung plötzlich verschwindet: da war sie noch, und auf einmal ist keine Spur mehr von ihr zu entdecken,