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Viel Hausarbeit und ein goldenes Herz an einer Kette

 

Am Nachmittag läutete in der Diele das Telefon. Die Mama hob den Hörer ab. Fünfmal rief sie „Schratt" hinein, doch es meldete sich niemand. Eine halbe Stunde später klingelte das Telefon wieder. Diesmal hob ich ab. Eine Männerstimme fragte: „Kann ich die Ilse sprechen?" „Ilse, für dich!", rief ich zu unserem Zimmer hin. Die Mama lief zu mir und nahm mir den Hörer weg. „Wer spricht, bitte?", rief sie. „So melden Sie sich doch end­lich!" Dann warf sie den Hörer auf die Gabel und wollte von mir wissen, ob das eine Frauenstimme oder eine Männerstimme gewesen sei. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Durch die offene Zimmertür sah ich die Ilse. Sie war vom Bett gesprungen, als ich sie gerufen hatte. „Eine Mädchenstimme", sagte ich zur Mama. „Es hat so gerauscht in der Leitung, aber ich glaube, es war die Ulli!" Die Ilse schaute mich an. Mir kam vor, als wollte sie sagen: Gut so! Mach so weiter! „Sicher war es die Ulli", sagte ich.

Die Ilse kam in die Diele. Weder zu mir noch zur Mama, sondern zur Wand sagte sie: „Wir wollen zusammen Mathe lernen, ich muss zu ihr gehen!" „Du bleibst daheim", rief die Mama. „Ich habe es ihr aber versprochen", sagte die Ilse. Die Mama begann höhnisch zu lachen und sagte, die Ilse solle sich lieber an die Versprechen und Verpflichtungen der eigenen Familie gegenüber halten, „Welche Verpflichtungen sind denn das? Und wen meinst du denn eigentlich mit eigener Familie?" Die Ilse fragte mindestens genauso höhnisch wie vorher die Mama. Die Mama und die Ilse starrten einander an, und mir fiel plötzlich auf, dass sie einander sehr ähnlich sahen. Die Mama sah wie eine alte Ilse aus. Sogar den Katzenblick von der Ilse hatte sie, als sie sagte: „Also merk dir! Ab jetzt gehst du nicht mehr weg. Wenn es sein muss, bringe ich dich sogar zur Schule und hole dich wieder ab. Du wirst mir nicht über den Kopf wachsen!"

Ich kenne meine Schwester! Und ich merkte, gleich wird etwas geschehen. Ich dachte: Entweder brüllt sie jetzt los, oder sie schlägt etwas kaputt. Ich hatte sogar Angst, sie könnte auf die Mama losgehen. Aber sie tat etwas ganz anderes. Sie nahm den Hörer vom Telefon und wählte. Ich stand neben ihr und sah, dass sie die Nummer vom Papa eintippte. Anscheinend war die Frau vom Papa am Telefon, denn die Ilse sagte: „Ich möchte den Papa sprechen." „Das ist doch die Höhe", schrie die Mama und wollte der Ilse den Hörer aus der Hand reißen. Die Ilse ließ den Hörer nicht los. Dreimal sagte sie: „Papa, ich ...", dann hatte sie den Kampf um den Hörer verloren. Die Mama hatte den Hörer in der einen Hand, mit der anderen hielt sie sich die Ilse vom Leib. Und sie keifte in den Hörer hinein, dass sich die Ilse im Moment schrecklich benehme, dass sie sich nun anscheinend bei ihrem Vater beschweren wolle, dass dazu aber gar kein Anlass sei.



Was der Papa sagte, war nicht zu hören. Viel sagte er jedenfalls nicht, denn gleich fing die Mama wieder zu reden an. Sie jammerte, dass die Ilse erst um zwei Uhr in der Nacht heimgekommen sei und dass sie unentwegt lüge und frech sei. Und falls der Papa für so ein Benehmen Verständnis habe, dann möge er auch die Verantwortung dafür übernehmen.

Dann war sie still und nickte ein paarmal und dann hielt sie der Ilse den Hörer hin. „Na, rede doch mit deinem Vater", sagte sie. Die Ilse nahm den Hörer. Ich konnte die Stimme vom Papa hören. Sehr schnell redete er. Was er sagte, verstand ich natürlich nicht. Die Ilse hielt den Telefonhörer bloß ein paar Sekunden lang, dann ließ sie ihn einfach fallen. Die Mama fing ihn auf, bevor er zu Boden fiel.

Mit ganz steifen Schritten ging die Ilse in unser Zimmer. Sie warf sich quer über ihr Bett und begann zu heulen. Ganz laut und schluchzend. Ich setzte mich zu ihr. „Was hat er denn gesagt?", fragte ich. „Er hat gesagt, dass ich brav sein soll und dass es die Mama gut meint", schluchzte die Ilse. Sie richtete sich auf. „Aber ich scheiß auf ihr Gutsein", schluchzte sie. „Da ist nichts gut dran! Alles ist besser als das da!"

Die nächste Woche war furchtbar. Die Mama hielt die Ilse wie einen Kettenhund, der auf Hausarbeit abgerichtet wird. Die Ilse musste staubsaugen und Schuhe putzen, Geschirr waschen und Schränke aufräumen. Sie machte das, ohne zu protestieren. Und sie kam auch pünktlich, zehn Minuten nach Schulschluss, heim. Nur: Die Ilse ging gar nicht in die Schule! Am Montagmorgen auf dem Schulweg hatte sie zu mir gesagt: „Erika, sei lieb und sag in der Schule, dass ich Grippe habe!" Ich wollte nicht. Die Ilse erklärte mir, sie müsse sich unbedingt mit der Amrei treffen. Und sie könne das nur am Vormittag, weil sie die Mama ja am Nachmittag nicht weglässt. Ich wollte trotzdem nicht. „Dann bleib ich eben unentschuldigt weg", sagte die Ilse und lief hinter der Straßenbahn her, die gerade anfuhr. „Ilse, so warte doch!", rief ich. Aber sie blieb nicht stehen. Sie drehte sich nicht einmal um. Natürlich meldete ich meine Schwester dann doch krank. Das hatte sie anscheinend auch nicht anders erwartet, denn zu Mittag, als sie heimkam, fragte sie mich: „Na, alles OK?" „Sie lassen dir baldige Besserung wünschen", flüsterte ich. Die Ilse ging auch am nächsten Tag nicht in die Schule. Und am übernächsten auch nicht. Sie ging die ganze Woche nicht in die Schule. „Grippe dauert immer eine Woche", sagte sie. Und dass die Amrei auch Schule schwänze, erzählte sie mir.

Sie erzählte mir auch, was sie an den Vormittagen alles erlebte. Lauter merkwürdige Sachen waren das. Sogar einen entlaufenen Hund fingen sie ein. Und als Belohnung schenkte ihr der Hundebesitzer ein goldenes Herz an einer Kette. Zuerst wollte ich das gar nicht glauben. Doch die Ilse zeigte mir die Kette mit dem Herz. Sie trug sie unter dem Pulli. Damit sie die Mama nicht sieht.

 

P e n s u m 4

 


Date: 2015-12-24; view: 1840


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