Am Donnerstagabend erlauschte ich einen Streit zwischen der Mama und dem Kurt. Der Kurt sagte, das sei keine Art, wie die Mama mit der Ilse umgeht. Die Mama war fuchsteufelswild und rief, der Kurt habe eben keine Autorität! Deshalb sei die Ilse so geworden! Weil er nie Vaterstelle an ihr vertreten habe!
Der Kurt sagte, dass er das ja gern getan hätte. Aber die Ilse habe ihn von Anfang an nicht leiden können. „Das hast du dir bloß eingeredet", rief die Mama. „Ich habe mir gar nichts eingeredet", rief der Kurt. „Du hast es bloß nicht merken wollen! Du merkst ja nie, was du nicht merken willst!"
Dann fing die Mama zu weinen an und schluchzte: „Ich halte das einfach nicht mehr aus! Jeder sagt mir, was ich falsch mache, aber keiner sagt mir, wie ich es besser machen soll!"
Ich ging in unser Zimmer und erzählte der Ilse, was ich gehört hatte.
„Interessiert mich nicht mehr", sagte die Ilse. Und dann redete sie über eine Stunde auf mich ein und ich bekam Herzklopfen und Ohrensausen und Bauchweh vor lauter Aufregung und Angst und Traurigkeit. „Nein, da mache ich nicht mir, protestierte ich. Doch die Ilse sagte, wenn ich ihr nicht helfe, dann bringt sie sich um. Sie will lieber tot sein als weiter hier bleiben. Da ist mir nichts anderes übrig geblieben, als nachzugeben.
Am Freitagnachmittag haben die Ilse und ich in unserem Zimmer gesessen. Sie hat in einem Asterix gelesen, ich in einem Donald Duck. Sie hat nicht gezittert, aber meine Hände haben so stark gezittert, dass sämtliche Ducks gewackelt haben. Um halb vier hat sie dann gesagt: „So, jetzt fang an!“ Ich ging leise in die Abstellkammer und holtejden großen, karierten Koffer. Ich trug ihn in unser Zimmer. „Willst du es dir nicht noch überlegen?", fragte ich. Die Ilse schüttelte den Kopf. So holte ich die große Schachtel mit Legosteinen unter meinem Bett hervor und schleppte sie zum Oliver und zur Tatjana ins Zimmer. „Das schenke ich euch", sagte ich. Die beiden brüllten vor Begeisterung, kippten die Schachtel und gruben im Legosteinhaufen. Es war sicher: Die zwei waren für die nächste Stunde beschäftigt! Dann nahm ich mein Mathe-Heft und ging zur Mama ins Wohnzimmer. Ich hielt ihr das Heft zwischen das Kreuzworträtsel und die Nase und sagte: „Ich kenn mich da nicht aus!“
Die Mama meinte, der Kurt könne das besser, ich solle auf den warten. Ich jammerte, dass der Kurt doch immer so spät heimkomme und dass ich die Hausaufgaben morgen abgeben müsse. Die Mama seufzte und schlug das Heft auf. Ich zeigte auf eine besonders schwierige Aufgabe. Nicht für mich schwierig, sondern für die Mama. Weil die nichts von Mathematik versteht. Die Mama versuchte das Beispiel zu lösen. Aber sie war sehr ungeduldig. Bald schob sie mein Heft weg. „Sinnlos", sagte sie. „Ich bin ein Mathe-Trottel!"
Die Ilse hatte von mir verlangt, dass ich die Mama eine ganze Stunde beschäftige. Es waren aber kaum zehn Minuten vergangen! So fragte ich: „Machen wir das Kreuzworträtsel zu zweit?" Die Mama mochte nicht. „Darf ich dir wenigstens zuschauen?", fragte ich. Da wurde die Mama misstrauisch. „Ist was?", fragte sie. „Willst du mir etwas sagen?" Ich fand, nun sei es besser zu gehen. Ich verließ das Wohnzimmer. In der Diele hörte ich Geschrei aus dem Kinderzimmer.
„Uns beiden hat sie die Steine geschenkt", rief der Oliver. „Nein, nur mir!", brüllte die Tatjana.
Die Tatjana ist wirklich ein widerliches Kind. Und die Einzigen, die das nicht merken, sind der Kurt und die Mama. Ich freute mich richtig, als ich es laut klatschen hörte, weil der Oliver der Tatjana eine runtergehauen hatte. Wenn die Tatjana brüllt, kommt die Mama sofort angerannt. Also lief ich hurtigjn unser Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Die Ilse lehnte an der Wand beim Schrank. Sie hatte den roten Mantel an und die weiße Mütze auf dem Kopf und ihr Gesicht war fast so weiß wie die Mütze. Ich sah sie an. Ich hätte am liebsten geheult. Ich begriff erst jetzt so richtig, was das bedeutete. Was es für mich bedeutete! Aufwachen, und Ilse ist nicht da. Einschlafen, und Ilse ist nicht da. Essen ohne Ilse. Aufgaben machen ohne Ilse. Alles ohne Ilse.
Ich wollte ihr sagen, dass sie bleiben muss, weil ich sie brauche. Weil ich sonst ganz allein bin. Weil wir doch zusammengehören und weil ich nicht weiß, wie ich ohne sie leben soll. Ich sagte es nicht. Es ist ja nicht ihre Schuld, dass ich sie viel mehr liebe als sie mich. Die Ilse kaute an ihrem Zeigefinger und horchte auf das dreistimmige Gebrüll aus dem Kinderzimmer. Endlich verstummte das Geschrei. Eine Tür fiel zu. Und noch eine Tür. Jetzt ist sie wieder im Wohnzimmer", sagte ich. Die Ilse nahm den Finger aus dem Mund und ging zum Fenster. Sie schaute auf die Straße hinunter. Ich stand neben ihr.
„Kommt die Amrei mit demTaxi?", fragte ich. Die Ilse nickte. „Hat sie die Fahrkarten?", fragte ich. Die Ilse nickte. „Wirst du mir schreiben?", fragte ich. Die Ilse nickte. Plötzlich sagte sie: „Ist schon da", drehte sich um, schnappte ihren Koffer und war weg. Die Wohnungstür fiel leise zu. Nicht einmal „ Auf Wiedersehen" hatte sie zu mir gesagt. Ich blieb beim Fenster. Ich sah keine Amrei und kein Taxi. Bloß ein roter BMW parkte vor unserem Haus. Die Ilse kam aus dem Haustor. Sie schaute nicht zu mir herauf. Sie machte die hintere Tür vom BMW auf und schob den Koffer hinein. Dann stieg sie vorne, neben dem Fahrer, ein. Und ich Trottel dachte mir: Es gibt also auch Taxis, die auf dem Dach keine leuchtende Schrift haben!
Der rote BMW fuhr ab und ich fing zu heulen an. Ich schaute, durch die Tränen durch, hinter dem BMW her, bis er nicht mehr zu sehen war. Dann ging ich vom Fenster weg und hob ein paar Sachen auf, die die Ilse liegen gelassen hatte: einen Lippenstift, ein Taschentuch, einen BH mit ausgeleiertem Gummiteil und einen Knopf. Ich warf die Sachen in den Papierkorb, setzte mich an meinen Schreibtisch und machte Hausaufgaben. Mit dem Kugelschreiber schrieb ich. Hätte ich die Füllfeder genommen, hätten die Tränen, die dauernd aufs Papier tropften, alles verwischt. Ziemlich lange saß ich so da und rechnete. Als die Mama die Tür aufmachte, weinte ich schon langst nicht mehr. „Wo ist die Ilse?", fragte die Mama. „Sie ist sich ein liniertes Heft kaufen gegangen", antwortete ich.
„Wann?", fragte die Mama. Ich sagte, dass ich nicht auf die Zeit geachtet habe. „Hat sie denn Geld?", fragte die Mama. Seit dem großen Krach hatte ihr die Mama ja kein Taschengeld mehr gegeben.
Ich sagte, dass ich das auch nicht wisse. Die Mama ging in die Küche. Nach einer halben Stunde kam sie wieder. „So lange braucht man nicht zum Heftkaufen", sagte sie.
Dann fragte sie mich: „Hast du geweint?" Ich murmelte etwas von einem Schnupfen und nieste dazu.
Dann kam der Kurt aus der Redaktion nach Hause. Die Mama erzählte ihm sofort, dass die Ilse weggegangen sei. Trotz Verbot!
Der Kurt setzte sich ins Wohnzimmer, mixte sich einen Martini und sagte zur Mama: „Sei mir nicht böse, aber darauf habe ich schon lange gewartet. Wenn man fünfzehn Jahre ist, lässt man sich nicht einsperren wie ein Hase im Stall!" Und dann sagte er noch:
„Und wenn sie kommt, mach bloß nicht wieder so ein Theater wie das letzte Mal!“
Wir aßen um acht Uhr Abendbrot. Dann brachte die Mama den Oliver und die Tatjana ins Bett und dann begann sie, mich zu verhören. Mir war scbeußlich zumute, aber ich blieb dabei, dass ich gar nichts weiß. Die Mama tat mir Leid. Ich merkte, dass sie nicht bloß wütend war, sondern" Angst hatte.