Während sich die traditionelle Linguistik hauptsächlich mit den sprachlichen Produkten, den Wörtern, Sätzen und Texten, befasst, fragt die kognitive Linguistik danach,
?was in unserem Geist bezüglich der Sprache vorhanden ist
und
?wie es verarbeitet wird bei der Sprachproduktion und -rezeption.
Sprache wird als geistiger Besitz und das mentale Lexikon als „menschlicher Wortspeicher" (Aitchison, 1997, S.44) bzw. „sprachlicher Wissensbestand im Langzeitgedächtnis" (Dietrich, 2002, S. 20) angesehen.
Über den Begriff des mentalen Lexikons gibt es in der Psychologie, wie auch Engelkamp (1995, S. 99) feststellt, keine einheitliche Auffassung. Unklar ist, ob „die Bedeutungen, die Wortrepräsentationen oder beides zusammen das mentale Lexikon" bilden. Engelkamp ist der Meinung, dass eine Reihe von experimentellen Befunden für die Trennung der Wortmarken von den Wortbedeutungen sprechen, vgl. z. B. auch das „auf der Zunge liegen" von Wörtern. Außerdem ist es angebracht, von einer „Trennung eines Systems, das Wörter beim Lesen verarbeitet, und eines, das Wörter beim Hören verarbeitet" auszugehen (Engelkamp, 1995, S. 112). Dies verlangt, eine
Unterscheidung von akustischen (gehörten Wörtern) und visuellen Wortmarken (gelesene Wörter) vorzunehmen.
Das mentale Lexikon unterscheidet sich grundlegend von den Buchlexika:
• Das mentale Lexikon ist nicht alphabetisch geordnet, aber gut organisiert. Letzteres zeigt sich daran, dass Sprecher/innen in Millisekunden Wörter erkennen.
Versprecher deuten darauf hin, dass der „menschliche Wortspeicher anders als
Wörterbücher nicht nur nach Lautung oder Schreibung organisiert sind. Auch
die Bedeutung muss eine Rolle spielen, da man recht häufig Wörter mit ähnlicher Bedeutung verwechselt" (Aitchison, 1997, S. 13-14).
• Das mentale Lexikon ist nicht begrenzt, sondern vielmehr ständig erweiterbar.
Es umfasst qualitativ viel mehr als alle Buchlexika.
• Das mentale Lexikon ist deshalb nicht statisch, sondern dynamisch.
Aitchison (1997, S. 18-19) fasst deshalb zusammen:
Ein Wörterbuch verhält sich zum mentalen Lexikon ungefähr so wie ein Urlaubsprospekt, in dem ein Badeort beschrieben wird, zu dem Badeort selbst. [...]. Außerdem gibt uns ein Wörterbuch einen fälschlich geordneten, statischen und unvollständigen Eindruck.
Charakteristische Eigenschaften von mentalen Wörtern sind, dass sie reflexhaft und ganzheitlich erkannt werden.
Bekannte Wörter in Schriftform werden als Einheiten und nicht als Buchstabenketten wahrgenommen. Schon in den vierziger Jahren fand man in Experimenten, dass dieses reflexartige Erkennen so stark ausgeprägt ist, dass Personen ins Stocken geraten, wenn sie die Farben benennen sollen, in denen eine Reihe von Wörtern gedruckt ist, also wenn das Wort R-O-T etwa grüngedruckt dasteht (Miller, 1996, S. 144).
Die Fähigkeit, Wörter zu erkennen, basiert auf dem Vertrautheitseffekt, d. h. sie wird durch Lernen erworben.