Natürlich ist dem transscendenten Schopenhauer nicht die Zeugungsstunde, sondern die Todesstunde die wichtigste im ganzen Leben. Von ihr spricht er in demselben hochfeierlichen, salbungsvollen Tone, wie Kant vom Gewissen.
Der Tod ist die große Gelegenheit, nicht mehr Ich zu sein: wohl Dem, der sie benutzt.
(W. a. W. u. V. II. 580.)
i545 In der Stunde des Todes entscheidet sich, ob der Mensch in den Schooß der Natur zurück fällt, oder aber dieser nicht mehr angehört, sondern – – – – für diesen Gegensatz fehlt uns Bild, Begriff und Wort.
(ib. 697.)
Der Tod des Individuums ist die jedesmalige und unermüdlich wiederholte Anfrage der Natur an den Willen zum Leben: Hast Du genug? Willst Du aus mir hinaus?
(–)
In diesem Sinne gedacht ist die christliche Fürsorge für gehörige Benutzung der Sterbestunde, mittelst Ermahnung, Beichte, Kommunion und letzte Oelung: daher auch die christlichen Gebete um Bewahrung vor einem plötzlichen Ende.
(–)
Das Sterben ist allerdings als der eigentliche Zweck des Lebens anzusehen: im Augenblick desselben wird Alles das entschieden, was durch den ganzen Verlauf des Lebens nur vorbereitet und eingeleitet war.
(ib. 730.)
In der Stunde des Todes drängen alle die geheimnißvollen (wenngleich eigentlich in uns selbst wurzelnden) Mächte, die das ewige Schicksal des Menschen bestimmen, sich zusammen und treten in Action. Aus ihrem Conflikt ergiebt sich der Weg, den er jetzt zu wandern hat, bereitet nämlich seine Palingenesie sich vor, nebst allem Wohl und Wehe, welches in ihr begriffen und von dem an unwiderruflich bestimmt ist. – – – Hierauf beruht der hochernste, wichtige, feierliche und furchtbare Charakter der Todesstunde. Sie ist eine Krisis im stärksten Sinne des Worts, ein Weltgericht.
(Parerga I. 238.)
Mit Plato möchte man sagen: O du Wunderlicher! – Wenn die kleinen Kinder sich fürchten, so muß die Amme singen. Sollte Schopenhauer – sollte er wirklich – – – – –?
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Es ist hier der richtige Ort, um ein Wort über den Selbstmord zu sagen. Schopenhauer, als Mensch, steht demselben vollkommen vorurtheilsfrei gegenüber, was ich ihm hoch anrechne. Nur kalte, herzlose, oder in Dogmen befangene Menschen können einen Selbstmörder verdammen. Wohl uns Allen, daß uns von milder Hand eine Thüre geöffnet worden ist, durch die wir, wenn uns die Hitze im schwülen Saale des Lebens unerträglich wird, in die |
i546 stille Nacht des Todes eingehen können. Nur der crasseste Despotismus kann den versuchten Selbstmord bestrafen.
Wenn die Kriminaljustiz den Selbstmord verpönt, so ist dies kein kirchlich gültiger Grund und überdies entschieden lächerlich: denn welche Strafe kann Den abschrecken, der den Tod sucht? Bestraft man den Versuch zum Selbstmord, so ist es die Ungeschicklichkeit, durch welche er mißlang, die man bestraft.
(Parerga II. 329.)
Dagegen stempelt der Philosoph Schopenhauer, ohne irgend einen stichhaltigen Grund, den Selbstmord überhaupt zu einer zwecklosen That. Er meint:
Ein Lebensmüder hat nicht vom Tode Befreiung zu hoffen und kann sich nicht durch Selbstmord retten; nur mit falschem Schein lockt ihn der finstere, kühle Orcus als Hafen der Ruhe.
(W. a. W. u. V. I. 331.)
Der Selbstmörder verneint nur das Individuum, nicht die Species.
(ib. 472.)
Der Selbstmord ist die willkürliche Zerstörung einer einzelnen Erscheinung, bei der das Ding an sich ungestört stehen bleibt.
(–)
Dies ist falsch. Wie Schopenhauer ex tripode erklärte: der Wille ist metaphysisch, der Intellekt physisch, während uns doch jeder Leichnam deutlich zeigt, daß die ganze Idee zerstört ist, so behandelt er auch den Selbstmord. Er nimmt die Miene an, als ob er ganz genau, aus sicherster Quelle, erfahren habe, was mit einem Selbstmörder nach dem Tode vorgehe. Die Wahrheit ist, daß der Selbstmörder, als Ding an sich, im Tode vernichtet wird, wie jeder Organismus. Lebt er nicht in einem anderen Leibe fort, so ist der Tod seine absolute Vernichtung; im anderen Falle entflieht er nur mit seinem schwächsten Theile dem Leben. Er hält das Rad ein, das sonst noch eine Weile geschwungen hätte, nachdem die bewegende Kraft es verließ.
Man lese auch die Seite 474 im I. Bd. von W. a. W. u. V., wo der in der Askese gewählte Hungertod einen anderen Erfolg, als der gewöhnliche Selbstmord haben soll, und man wird über die Irrfahrten eines großen Geistes erstaunen. –
Diese Voruntersuchungen zur Ethik schließe ich am besten mit einem anderen guten Gedanken Schopenhauer’s:
i547 Die Philosophie soll mittheilbare Erkenntniß, muß daher Rationalismus sein.
(Parerga II. 11.)
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Wir treten jetzt vor die Hauptfragen der Ethik:
1) Ist der Wille frei?
2) Was ist das Fundament der Moral?
Daß der Wille nicht frei sei, ist eine sehr alte, aber stets angefochtene Wahrheit. Christus sprach sie aus, und Paulus, Augustinus, Luther, Calvin, bekannten sich zu ihr. Die größten Denker aller Zeiten haben ihr gehuldigt, und nenne ich: Vanini, Hume, Hobbes, Spinoza, Priestley, Kant und Schopenhauer.
Wir haben nun die Stellung zu prüfen, welche die beiden letzteren Philosophen dem libero arbitrio indifferentiae gegenüber einnehmen.
Nach Kant ist die Welt ein Ganzes von Erscheinungen. Diese Erscheinungen sowohl, als ihre Verknüpfungen untereinander, bringt das denkende Subjekt, aus eigenen Mitteln, hervor (durch Raum, Zeit und Kategorien). Indessen liegt doch jeder Erscheinung ein Ding an sich zu Grunde. Kant hat sich, wie wir wissen, das Ding an sich erschlichen, indem er es an der Hand der Causalität auffand, welche doch nur auf dem Gebiete der Erscheinungen Gültigkeit haben sollte. Auf diesem erschlichenen Verhältniß der Erscheinung zu etwas, das in ihr erscheint, ist nun seine berühmte Unterscheidung des intelligibelen Charakters vom empirischen begründet, die Schopenhauer
zum Schönsten und Tiefgedachtesten, was dieser große Geist, ja, was Menschen jemals hervorgebracht haben
rechnet und für
die größte aller Leistungen des menschlichen Tiefsinns
hält. Vor allen Dingen liegt uns jetzt ob, zu sehen, ob sie dieses Lob verdient oder nicht.
Zunächst leidet sie an einer petitio principii aus den angeführten Gründen; denn Kant legt dem empirischen Charakter einen intelligibelen ohne Weiteres unter: ohne Beweis, den er eben, seiner Philosophie zufolge, gar nicht beizubringen im Stande war. Sehen |
i548 wir indessen hiervon ab und werden wir uns klar darüber, was Kant unter den beiden Charakteren versteht. Er sagt:
Ich nenne dasjenige an einem Gegenstand der Sinne, was selbst nicht Erscheinung ist, intelligibel.
(Kk. d. V. 420.)
Es muß eine jede wirkende Ursache einen Charakter haben, d.i. ein Gesetz ihrer Causalität, ohne welches sie gar nicht Ursache sein würde. Und da würden wir an einem Subjekte der Sinnenwelt erstlich einen empirischen Charakter haben, wodurch seine Handlungen als Erscheinungen durch und durch mit anderen Erscheinungen nach beständigen Naturgesetzen im Zusammenhange ständen, und von ihnen, als ihren Bedingungen abgeleitet werden könnten. – –
Zweitens würde man ihm noch einen intelligibeln Charakter einräumen müssen, wodurch es zwar die Ursache jener Handlungen als Erscheinungen ist, der aber selbst unter keinen Bedingungen der Sinnlichkeit steht und selbst nicht Erscheinung ist.
(ib. 421.)
Dieser intelligible Charakter könnte zwar niemals unmittelbar gekannt werden, weil wir Nichts wahrnehmen können, als so fern es erscheint, aber er würde doch dem empirischen Charakter gemäß gedacht werden müssen.
(ib. 422.)
Es handelt sich also um die bestimmte Art der Wirksamkeit eines Subjekts der Sinnenwelt: seine Natur, der gemäß es immer wirken muß. Diese Natur ist sein empirischer Charakter. Als solcher ist er aber nur Erscheinung eines X, eines unausgedehnten, zeitlosen Dinges an sich, das, aller Nothwendigkeit enthoben, in voller Freiheit Grund der Erscheinung ist und nur dem empirischen Charakter gemäß gedacht werden kann.
An den empirischen Charakter müssen wir uns demnach halten, um den intelligibeln, gleichsam an einem kurzen Endchen, erfassen zu können; denn dieser ist unmittelbar nicht zu verkennen.
Im Beispiel vom Lügner (Kk. 431) heißt es:
Man geht seinen empirischen Charakter durch bis zu den Quellen desselben, die man in der schlechten Erziehung, übler Gesellschaft, zum Theil auch in der Bösartigkeit eines für Beschämung |
i549 unempfindlichen Naturells aufsucht, zum Theil auf den Leichtsinn und Unbesonnenheit schiebt.
und aus anderen Stellen geht hervor, daß der empirische Charakter die Receptivität einer gegebenen Sinnlichkeit ist.
Nun sollte man nach Obigem meinen, daß der intelligible Charakter das Substrat dieser in die Erscheinung tretenden Eigenschaften, Charaktereigenthümlichkeiten, kurz, die stets gleiche Beschaffenheit des Herzens sei; denn der empirische Charakter ist nur die Erscheinung des intelligibeln und dieser ist nur die transscendentale Ursache von jenem, mithin kann zwischen beiden, wenn auch der intelligibele seinem Wesen nach nicht unmittelbar zu erkennen ist, kein absoluter Unterschied bestehen.
Trotzdem legt Kant den intelligibelen Charakter in den Kopf des Menschen.
Der Mensch, der die ganze Natur sonst lediglich nur durch Sinne kennt, erkennt sich selbst auch durch bloße Apperception, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann, und ist sich selbst freilich einestheils Phänomen, anderentheils aber, nämlich in Ansehung gewisser Vermögen, ein blos intelligibler Gegenstand, weil die Handlung desselben gar nicht zur Receptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann. Wir nennen diese Vermögen Verstand und Vernunft; vornehmlich wird die letztere ganz eigentlich und vorzüglicher Weise von allen empirisch bedingten Kräften unterschieden, da sie ihre Gegenstände bloß nach Ideen erwägt.
(ib. 426.)
Also ein Erkenntnißvermögen ist der transscendentale Grund der moralischen Eigenschaften eines Menschen, der bestimmten Art seines Willens, seines Begehrungsvermögens.
Hiergegen muß ich mit Entschiedenheit protestiren; nicht nur vom Standpunkte meiner Philosophie aus, sondern auch im Namen Schopenhauer’s, der glänzend nachgewiesen hat, daß zum Wesen des Dinges an sich Intellekt und Selbstbewußtsein nicht nothwendig gehören, diese also niemals der transscendentale Grund einer Erscheinung sein können.
Kant fährt fort:
i550 Die reine Vernunft als ein bloß intelligibles Vermögen ist der Zeitform, und mithin auch den Bedingungen der Zeitfolge nicht unterworfen. Die Causalität der Vernunft im intelligiblen Charakter entsteht nicht, oder hebt nicht etwa zu einer gewissen Zeit an, um eine Wirkung hervorzubringen. Denn sonst würde sie selbst dem Naturgesetz der Erscheinungen, so fern es Causalreihen der Zeit nach bestimmt, unterworfen sein, und die Causalität wäre alsdann Natur, und nicht Freiheit. Also werden wir sagen können: wenn Vernunft Causalität in Ansehung der Erscheinungen haben kann, so ist sie ein Vermögen, durch welches die sinnliche Bedingung einer empirischen Reihe von Wirkungen zuerst anfängt.
(ib. 429.)
Dies ist gleichfalls falsch und entspringt aus der reinen Anschauung a priori Zeit, welche der Sinnlichkeit angehören soll. Wir wissen, daß erstens die Gegenwart die Form der Vernunft ist, und zweitens, daß, unabhängig von der idealen Zeit eines erkennenden Subjekts, das Ding an sich in realer Bewegung lebt. Wenn ich das Ding aus der Zeit heraushebe, so habe ich ihm damit in keiner Weise die reale Bewegung genommen und es zu einem einsam und bewegungslos über dem Strom der Entwicklung schwebenden Wesen gemacht. Der intelligibele Charakter kann also, man setze ihn nun in die Vernunft, oder in den Schopenhauer’schen Willen zum Leben, schlechterdings keine empirische Reihe von Wirkungen von selbst anfangen; denn jede seiner Handlungen, die eine Reihe von Wirkungen hervorbringt, ist selbst immer das Glied einer Reihe, deren Glieder durch die strengste Nothwendigkeit verkettet sind.
Sehen wir indessen auch hiervon ab und denken wir uns, der intelligibele Charakter sei frei. Wie
könnte da wohl die Handlung desselben frei heißen, da sie im empirischen Charakter desselben (der Sinnesart) ganz genau bestimmt und nothwendig ist?
(Kk. d. V. 429.)
Von zwei Möglichkeiten eine nur: entweder hat der intelligibele Charakter (die Denkungsart) ein- für allemal die Natur des empirischen Charakters (der Sinnesart) bestimmt und der empirische Charakter eines Menschen bleibt zeitlebens der selbe, ist nur der in eine Reihe einzelner Acte auseinandergezogene intelligible, |
i551 oder der Mensch nimmt in der Natur eine Ausnahmestellung ein und ist auch als Erscheinung frei, hat das liberum arbtrium.
Kant umgeht diese Alternative und spricht dem intelligibelen Charakter die Fähigkeit zu, den empirischen jederzeit zu bestimmen.
Denn da Vernunft selbst keine Erscheinung und gar keinen Bedingungen der Sinnlichkeit unterworfen ist, so findet in ihr, selbst in Betreff ihrer Causalität, keine Zeitfolge statt, und auf sie kann also das dynamische Gesetz der Natur, was die Zeitfolge nach Regeln bestimmt, nicht angewandt werden. –
In Ansehung des intelligibeln Charakters, wovon der empirische nur das sinnliche Schema ist, gilt kein Vorher oder Nachher, und jede Handlung ist die unmittelbare Wirkung des intelligibeln Charakters der reinen Vernunft, welche mithin frei handelt ... und diese ihre Freiheit kann man nicht allein negativ als Unabhängigkeit von empirischen Bedingungen ansehen, sondern auch positiv durch ein Vermögen bezeichnen, eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen.
(430.)
Und nun folgt das Beispiel vom Lügner, aus welchem klar und deutlich erhellt, daß der intelligibele Charakter den empirischen jederzeit bestimmen kann.
Der Tadel gründet sich auf ein Gesetz der Vernunft, wobei man diese als eine Ursache ansieht, welche das Verhalten des Menschen, unangesehen aller genannten empirischen Bedingungen, anders habe bestimmen können und sollen. – – –
Die Handlung wird dem intelligibelen Charakter des Lügners beigemessen, er hat jetzt, in dem Augenblicke, da er lügt, gänzlich Schuld, mithin war die Vernunft unerachtet aller empirischen Bedingungen der That völlig frei, und ihrer Unterlassung ist diese gänzlich beigemessen.
Ferner (Kk. d. prac. V. 139.)
Dem kategorischen Gebote Genüge zu leisten ist in Jedes Gewalt zu aller Zeit.
Mit anderen Worten: der Mensch ist jederzeit frei und die Nothwendigkeit seiner Handlungen ist ein Schein, wie er selbst (als Körper), die Welt, Alles nur Schein ist.
i552 Ein anderes Resultat war nicht zu erwarten vom Standpunkte des nominell kritischen, in der That aber empirischen Idealismus. Mit den Lippen bekennt sich Kant zur Nothwendigkeit, mit dem Herzen zur Freiheit der menschlichen Handlungen. Es ist auch nicht möglich, Freiheit und Nothwendigkeit mit einer Hand in der Welt zu umspannen. Entweder nur Freiheit, oder nur Nothwendigkeit.
Kant selbst muß gestehen:
In der Anwendung, wenn man sie (Freiheit und Nothwendigkeit) als in einer und derselben Handlung vereinigt und also diese Vereinigung selbst erklären will, thun sich doch große Schwierigkeiten hervor, die eine solche Vereinigung unthunlich zu machen scheinen.
(Kk. d. pract. V. 211.)
und:
Die hier vorgetragene Auflösung der Schwierigkeiten hat aber, wird man sagen, doch viel Schweres in sich, und ist einer hellen Darstellung kaum empfänglich. Allein, ist denn jede andere, die man versucht hat, oder versuchen mag, leichter und faßlicher?
(ib. 220.)
Das Problem war übrigens, von Allem abgesehen, zu Kant’s Zeit noch nicht für die Lösung reif. Jeder Mensch hat einen bestimmten Wirkungskreis; der Kant’s war das Gebiet des Erkenntnißvermögens, auf dem er Unsterbliches leistete. In der Moral fiel ihm nur die Aufgabe zu, sämmtliche einschläglichen Fragen zu ventiliren. Er hat es in der umfassendsten Weise gethan, aber nichts Dauerhaftes zu Wege gebracht. Einer anderen frischen Kraft (Schopenhauer) war es vorbehalten, das wahre Ding an sich zu entschleiern, welches doch allein die Quelle aller moralischen Handlungen sein kann. Kant hatte das Ding an sich in der Erkenntnißtheorie als x stehen lassen; in der Ethik dagegen, wo es in einer bestimmenden Weise berührt werden mußte, legte er es in die menschliche Vernunft, wo es offenbar nicht hingehört. Schopenhauer entschleierte es, aber, als ob seine Denkkraft sich hierbei nahezu erschöpft habe, konnte er keine makellose Ethik liefern und mußte es mir überlassen, durch die absolute Trennung des immanenten vom transscendenten Gebiete, die Vereinigung von Freiheit und Nothwendigkeit in einer und derselben Handlung deutlich und überzeugend für Jeden zu erklären.
i553 Nicht den Worten, wohl aber ihrem Sinne nach, ging Kant von einer reinen erkennenden und von einer unreinen sinnlichen Seele aus. Der Mensch gehört zwei Welten an: der Sinnenwelt und der intelligibelen Welt,
in der wir schon jetzt sind, und in der unser Dasein der höchsten Vernunftbestimmung gemäß fortzusetzen, wir durch bestimmte Vorschriften angewiesen werden können.
(Kk. d. prac. Vern. 226.)
Bald giebt er nun jeder Seele einen besondern Willen, bald stellt er beiden nur einen zur Verfügung, bald ist auch der Wille an sich nichts, bald ist er etwas. Folgende Stellen werden dies klarlegen.
Eine Willkür ist bloß thierisch (arbitrium brutum), die nicht anders, als durch sinnliche Antriebe, d.i. pathologisch bestimmt werden kann. Diejenige aber, welche unabhängig von sinnlichen Antrieben, mithin durch Bewegursachen, welche nur von der Vernunft vorgestellt werden, bestimmt werden kann, heißt die freie Willkür (arbitrium liberum), und Alles, was mit dieser, es sei als Grund oder Folge, zusammenhängt, wird practisch genannt. Die practische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden. Denn nicht bloß Das, was reizt, d.i. die Sinne unmittelbar afficirt, bestimmt die menschliche Willkür, sondern wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von Dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden.
(Kk. d. V. 599.)
Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d.i. nach Principien zu handeln, oder einen Willen. Da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts anders als practische Vernunft. Wenn die Vernunft den Willen unausbleiblich bestimmt, so sind die Handlungen eines solchen Wesens, die als objektiv nothwendig erkannt werden, auch subjektiv nothwendig, d.i. der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft unabhängig von der Neigung als practisch nothwendig, d.h. als Gut erkennt. Bestimmt aber die Vernunft für sich allein den Willen nicht |
i554 hinlänglich, ist dieser noch subjektiven Bedingungen (gewissen Triebfedern) unterworfen, die nicht immer mit den objektiven übereinstimmen, mit einem Worte, ist der Wille nicht an sich völlig der Vernunft gemäß (wie es bei Menschen wirklich ist), so sind die Handlungen, die objektiv als nothwendig erkannt werden, subjektiv zufällig, und die Bestimmung eines solchen Willens, objektiven Gesetzen gemäß, ist Nöthigung.
(Kk. d. p. V. 33.)
Außer dem Verhältnisse, darin der Verstand zu Gegenständen (im theoretischen Erkenntnisse) steht, hat er auch eines zum Begehrungsvermögen, das darum der Wille heißt, und der reine Wille, sofern der reine Verstand (der in solchem Falle Vernunft heißt) durch die bloße Vorstellung eines Gesetzes praktisch ist. Die objektive Realität eines reinen Willens, oder, welches einerlei ist, einer reinen practischen Vernunft ....
(ib. 162.)
Wir haben also
1) a. einen thierischen Willen,
b. einen freien Willen;
2) nur einen Willen.
Dieser eine Wille ist
1) indifferent, da er sich bald von der reinen, bald von der unreinen Seele bestimmen läßt;
2) ist er nicht indifferent, sondern
a. der Wille schlechthin, wenn er das Verhältniß des Verstandes zum Begehrungsvermögen ausdrückt;
b. der reine Wille, wenn die Vernunft durch die bloße Vorstellung eines Gesetzes practisch ist.
Es ist nicht möglich, einem Begriff eine größere Vieldeutigkeit zu geben, kurz, die Confusion weiter zu treiben.
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Kant’s Unterscheidung des intelligibelen Charakters vom empirischen verdient also nicht das Lob, das ihr Schopenhauer so reichlich spendete. Kant griff nach der Freiheit und nach der Nothwendigkeit zu gleicher Zeit, und die Folge davon war, daß er weder die eine, noch die andere erfaßte: er setzte sich zwischen zwei Stühle.
i555 Warum nun bekannte sich Schopenhauer zu dieser Lehre? Weil sie seinem metaphysischen Hang zusagte, und weil es so angenehm war, je nach Bedarf, bald die Nothwendigkeit, bald die Freiheit in den Vordergrund stellen zu können.
Er hat indessen die Lehre Kant’s nicht unangetastet gelassen, sondern sie ebenso gewaltsam umgemodelt, wie Plato’s Ideenlehre. Zunächst machte er Kant’s intelligibeln Charakter zum Willen, als Ding an sich, während Kant ganz unzweideutig, klar und bündig sagte, er sei die Vernunft; zweitens ließ er den empirischen Charakter ein- für allemal durch den intelligibelen bestimmt worden sein, während Kant dem intelligibelen die Fähigkeit zusprach, jederzeit sich am empirischen Charakter zu offenbaren. Schopenhauer lehrt:
Der empirische Charakter ist, wie der ganze Mensch, als Gegenstand der Erfahrung eine bloße Erscheinung, daher an die Formen aller Erscheinung, Zeit, Raum und Kausalität, gebunden und deren Gesetzen unterworfen: hingegen ist die als Ding an sich von diesen Formen unabhängige und deshalb keinem Zeitunterschiede unterworfene, mithin beharrende und unveränderliche Bedingung und Grundlage dieser ganzen Erscheinung, sein intelligibler Charakter, d.h. sein Wille als Ding an sich, welchem, in solcher Eigenschaft allerdings auch absolute Freiheit, d.h. Unabhängigkeit vom Gesetze der Kausalität (als einer bloßen Form der Erscheinungen) zukommt. Diese Freiheit aber ist eine transscendentale, d.h. nicht in der Erscheinung hervortretende.
(Ethik 96.)
Demnach steht für die Welt der Erfahrung das Operari sequitur esse ohne Ausnahme fest. Jedes Ding wirkt gemäß seiner Beschaffenheit und sein auf Ursachen erfolgendes Wirken giebt diese Beschaffenheit, kund. Jeder Mensch handelt nach dem wie er ist, und die demgemäß jedes Mal nothwendige Handlung wird, im individuellen Fall, allein durch die Motive bestimmt. Die Freiheit, welche daher im Operari nicht anzutreffen sein kann, muß im Esse liegen.
(ib. 97.)
Es ist klar, daß Schopenhauer in seiner wichtigen Schrift: »Ueber die Freiheit des Willens«, welche ohne Frage
zum Schönsten und Tiefgedachtesten gehört, was je geschrieben worden ist,
i556 die Lehre Kant’s wesentlich verbesserte – aber seine Unterscheidung des intelligibeln vom empirischen Charakter ist doch nicht die Kant’s. Die tiefe Kluft zwischen beiden Erklärungen umgeht er stets geflissentlich; nur zweimal, vom Unwillen fortgerissen, beklagt er sich ganz kurz:
Der Wille, den Kant höchst unstatthaft, mit unverzeihlicher Verletzung alles Sprachgebrauchs, Vernunft betitelt.
(W. a. W. u. V. I. 599.)
Man sieht in der Kantischen Ethik, zumal in der Kritik der practischen Vernunft, stets im Hintergrunde den Gedanken schweben, daß das innere und ewige Wesen des Menschen in der Vernunft bestände.
(Ethik 132.)
In der angeführten vortrefflichen Schrift beweist Schopenhauer unwiderleglich und unumstößlich, daß der Wille, als empirischer Charakter, niemals frei ist. War die Sache auch nicht neu, so hat er doch das unbestreitbare Verdienst, die Controverse über Freiheit und Unfreiheit menschlicher Handlungen für alle Vernünftigen definitiv abgethan zu haben. Die Unfreiheit des Willens gehört fortan zu den wenigen Wahrheiten, die sich die Philosophie bis jetzt erkämpft hat. Von der transscendenten Freiheit werde ich gleich sprechen.
Sollte indessen Schopenhauer wirklich, wenigstens dieses einzige Mal, consequent bei seiner Ansicht stehen geblieben sein? Leider ist dies nicht der Fall. Auch die Nothwendigkeit der menschlichen Willensakte hat er durchlöchert; denn er ließ die transscendentale Freiheit des menschlichen Willens, von der er doch oben sagte, daß sie eine
nicht in der Erscheinung hervortretende
sei, indem das
Operari sequitur esse ohne Ausnahme für die Welt der Erfahrung
fest stehe, erst in zwei Fällen, dann nur in einem in die Erscheinung, als deus ex machina treten.
Diese Freiheit, diese Allmacht – – – kann nun auch, und zwar da, wo ihr, in ihrer vollendetsten Erscheinung, die vollkommen adäquate Kenntniß ihres eigenen Wesens aufgegangen |
i557 ist, von Neuem sich äußern, indem sie nämlich entweder auch hier, auf dem Gipfel der Besinnung und des Selbstbewußtseins, das Selbe will, was sie blind und sich selbst nicht kennend wollte, wo dann die Erkenntniß, wie im Einzelnen, so im Ganzen, für sie stets Motiv bleibt; oder aber auch umgekehrt, diese Erkenntniß wird ihr ein Quietiv, welches alles Wollen beschwichtigt und aufhebt. Dies ist die Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben, welche, als in Hinsicht auf den Wandel des Individuums allgemeine, nicht einzelne Willensäußerung, nicht die Entwicklung des Charakters störend modificirt, sondern entweder durch immer stärkeres Hervortreten der ganzen bisherigen Handlungsweise, oder umgekehrt, durch Aufhebung derselben, lebendig die Maxime ausspricht, welche, nach nunmehr erhaltener Erkenntniß, der Wille frei ergriffen hat.
(W. a. W. u. V. I. 363.)
Dagegen heißt es 113 Seiten weiter (476):
In Wahrheit kommt die eigentliche Freiheit, d.h. Unabhängigkeit vom Satze des Grundes, nur dem Willen als Ding an sich zu, nicht seiner Erscheinung, deren wesentliche Form überall der Satz vom Grunde, das Element der Nothwendigkeit, ist. Allein der einzige Fall, wo jene Freiheit auch unmittelbar in der Erscheinung sichtbar werden kann, ist der, wo sie Dem, was erscheint, ein Ende macht.
Also hier sagt Schopenhauer deutlich: nur in der Verneinung, seiner selbst ist der Wille frei; in der ersten Stelle war er es auch in der Bejahung.
Consequent zu sein, ist die größte Obliegenheit eines Philosophen, und wird doch am Seltensten angetroffen.
(Kant, Kk. d. U. 122.)
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Die Zerlegung des individuellen Willens in einen intelligibelen und einen empirischen Charakter ist nach meiner Philosophie unstatthaft.
Der individuelle menschliche Wille tritt mit einem ganz bestimmten Charakter in das Leben und verbleibt bis zum Tode in realer Entwicklung. Von einem Punkte der Bewegung zum andern, oder subjektiv ausgedrückt, von einer Gegenwart zur andern, bewegt sich |
i558 dieser Charakter, dem ich hier Unveränderlichkeit geben will, als Einer. Jede seiner Handlungen ist das Produkt aus seiner Beschaffenheit und einem zureichenden Motiv. Was also in jeder Handlung hervortritt, ist nur Ein Charakter. Will man diesen empirisch nennen, weil man nur durch Erfahrung sein Wesen kennen lernt, so mag man es thun; aber die Annahme, daß der empirische Charakter nur der scheinbar in der Zeit auseinandergezogene zeitlose intelligibele sei, muß ich als absurd verwerfen; denn sie hätte nur dann einen Sinn, wenn die Zeit wirklich eine reine Anschauung a priori wäre, was ich genügend widerlegt zu haben glaube. Ist dagegen das Ding an sich in realer Entwicklung begriffen und die Zeit nur diejenige ideale Form, welche uns gegeben wurde, um die reale Succession verfolgen und erkennen zu können, so hat die subtile Unterscheidung alle Bedeutung verloren, und es darf nur von Einem Charakter gesprochen werden, den man nennen mag wie man will.
Was nun die transscendentale Freiheit betrifft, welche Schopenhauer in seiner schönen Schrift: »Ueber die Freiheit des Willens« in das Esse gelegt und dem Operari abgesprochen hat, so habe ich sie auch aus dem Esse nehmen müssen. Ich kenne weder einen wunderbaren Occasionalismus, noch eine hochwichtige furchtbare Todesstunde, in der sich die Palingenesie des Menschen vorbereitet
nebst allem Wohl und Wehe, welches in ihr begriffen und von dem an unwiderruflich bestimmt ist.
In der Zeugungsstunde allein wird der Charakter des Menschen bestimmt, und zwar mit Nothwendigkeit. Es treten zwei ganz bestimmte Menschen zusammen und zeugen einen ganz bestimmten dritten, welcher aufzufassen ist als ein verjüngtes altes Wesen (Glied einer Entwicklungsreihe). Dieses neue Individuum entwickelt sich nun nach den Worten des Dichters:
Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen,
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
i559 Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
(Goethe.)
Jedes Wesen hat demnach eine Beschaffenheit (ein Esse), die es sich nicht mit Freiheit hat wählen können. Aber jedes Sein giebt Anweisung auf ein anderes, und so kommen wir schließlich zum reinen Sein einer transscendenten Einheit, der wir, ehe sie zerfiel, Freiheit zusprechen müssen, welche wir jedoch nicht begreifen können, so wenig wie die absolute Ruhe. Insofern aber Alles was ist, ursprünglich war in dieser einfachen Einheit, hat Alles sich auch sein Esse mit Freiheit gewählt, und jeder Mensch ist deshalb verantwortlich für seine Thaten, trotz seinem bestimmten Charakter, aus dem die Handlungen mit Nothwendigkeit fließen.
Dies ist die einzig mögliche, durchaus richtige und so lange vergeblich gesuchte Lösung eines der schwierigsten Probleme der Philosophie, nämlich des Zusammenbestehens von Freiheit und Nothwendigkeit in einer und derselben Handlung.
Kant gab dem Menschen Freiheit zu jeder Zeit, Schopenhauer (von dessen Inconsequenz ich absehe) Freiheit in der Todesstunde, und ich nahm ihm alle und jede Freiheit, die echte Freiheit auf das transscendente Gebiet verweisend, welches untergegangen ist und der klaren Welt der Vielheit, der Bewegung und der ausnahmslosen Nothwendigkeit Platz machte: der Quelle aller unserer Erkenntnisse und aller Wahrheit.
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Ehe wir zum Fundament der Moral übergehen können, haben wir die Unveränderlichkeit des Willens zu prüfen.
Die schönste Blüthe oder besser: die edelste Frucht der Schopenhauer’schen Philosophie ist die Verneinung des Willens zum Leben. Man wird immer mehr erkennen, daß erst auf Grund dieser Lehre ernstlich davon die Rede sein kann, die Philosophie an die Stelle der Religion treten, sie bis in die untersten Schichten des Volkes eindringen zu lassen. Was hat die Philosophie vor Schopenhauer dem nach Erlösung laut rufenden Herzen des Menschen geboten? Entweder erbärmliche Hirngespinnste über Gott, Unsterblichkeit der Seele, Substanz, Accidenzien, kurz einen Stein; oder sorgfältige, sehr scharfsinnige, durchaus nothwendige Untersuchungen |
i560 des Erkenntnißvermögens. Aber was fragt der Mensch in Momenten des Erstaunens über sich selbst, wann die Besinnung die Oberhand gewinnt und eine leise traurige Stimme in ihm spricht:
Ich leb’ – und weiß nicht wie lang;
Ich sterb’ – und weiß nicht wann;
Ich fahr’ – und weiß nicht wohin;
nach den subjektiven Formen, Raum und Zeit, nach dem Causalitätsgesetz und der Synthesis eines Mannigfaltigen der Anschauung? Das Herz will etwas haben, woran es sich anklammern kann, einen unerschütterlichen Grund im Sturm des Lebens, Brod und wieder Brod für seinen Hunger. Weil das Christenthum diesen Hunger stillte, mußte die griechische Philosophie, im Kampf mit ihm, unterliegen, und weil das Christenthum einen unerschütterlichen Grund gab, wann Alles wankte und zitterte, während die Philosophie der Schauplatz unfruchtbaren Gezänkes und wüthenden Kampfes war, warfen sich oft die hervorragendsten Geister, flügellahm und matt, in die Arme der Kirche. Aber man kann jetzt nicht mehr glauben, und weil man nicht mehr glauben kann, wirft man mit den Wundern und Mysterien der Religion ihren unzerstörbaren Kern fort: die Heilswahrheit. Gänzlicher Indifferentismus bemächtigt sich der Gemüther, welchen Kant sehr treffend »die Mutter des Chaos und der Nacht« genannt hat. Diesen unzerstörbaren Kern der christlichen Religion hat nun Schopenhauer mit starker Hand ergriffen und in den Tempel der Wissenschaft, als heiliges Feuer, gebracht, welches als neues Licht für die Menschheit hervorbrechen und sich über alle Länder ausbreiten wird, denn es ist so beschaffen, daß es Einzelne und Massen begeistern und ihre Herzen in helle Flammen versetzen kann.
Dann wird die Religion ihren Beruf erfüllt und ihre Bahn durchlaufen haben: sie kann dann das bis zur Mündigkeit geleitete Geschlecht entlassen, selbst aber in Frieden dahinscheiden. Dies wird die Euthanasie der Religion sein.
(Parerga II. 361.)
Aber die Verneinung des Willens zum Leben, diese herrlichste Frucht der Philosophie Schopenhauer’s, muß erst vor ihm selbst in Sicherheit gebracht werden, denn er greift sein Kind beständig an und bedroht sein Leben.
i561 Was sich der Verneinung des Willens zum Leben zuerst entgegenwirft, ist die geleugnete Individualität.
Wenn die Individualität nur ein Schein ist, wenn sie mit dem erkennenden Subjekt steht und fällt, so liegt der Schwerpunkt des menschlichen Wesens in der Species, in der Schopenhauer’schen Objectivation oder Idee Mensch (vom Einen ungetheilten Willen will ich ganz absehen); folglich kann das Individuum nicht anders erlöst werden als durch die Species, d.h. nicht anders, als durch den Willen sämmtlicher Menschen, da
die Gattung ihr Dasein wieder nur in den Individuen hat,
oder mit anderen Worten: das Individuum, das nur noch den einen Wunsch hat: ausgestoßen zu sein für immer aus der Reihe der Lebendigen, muß warten, bis es allen Menschen beliebt, den gleichen Wunsch zu haben. Eine Philosophie, welche Dieses lehrt, kann nie die christliche Religion ersetzen, welche den Einzelnen jederzeit aus der Masse heraushebt und ihn erquickt und labt mit der Hoffnung auf individuelle Befreiung.
Ich habe gewiß nicht nöthig, das Grundfalsche der Sache nochmals nachzuweisen. Die reale Individualität ist so gewiß, wie irgend ein Lehrsatz der Mathematik.
Auch kann man, auf Grund einer anderen Erklärung Schopenhauer’s, sagen: Wenn in jedem Individuum der Eine untheilbare Wille ganz enthalten ist, so müßte, wenn ein Mensch sich wirklich freiwillig verneint, die ganze Welt untergehen. Aber obgleich schon Mancher seinen Willen verneint hat, steht die Welt noch immer fest und sicher.
Der zweite Grundirrthum, welcher die Verneinung des Willens illusorisch macht, ist die geleugnete reale Entwicklung.
Liegt das innerste Wesen des Individuums bewegungslos, zeitlos, hinter seiner Erscheinung, so ist die Erlösung schlechterdings unmöglich. Die Verneinung kann nur auf die Bejahung folgen. Der Zustand des sich bejahenden Willens kann nicht zugleich mit dem Zustand des sich verneinenden Willens sein. Der Mystiker sagt: »Wenn das Licht herein soll, muß erst die Finsterniß hinaus.« Setzt man das Vorher und Nachher bei Seite, so bringt man das Individuum in zwei entgegengesetzte Zustände in einer Gegenwart, was kein menschliches Gehirn denken kann. Hier, bei dieser wichtigen |
i562 Lehre der Philosophie (der Verneinung des Willens zum Leben), erweist sich klarer als irgendwo sonst die Unmöglichkeit einerseits der Kantischen reinen Anschauungen, Raum und Zeit, und andererseits die Fruchtbarkeit meiner Erkenntnißtheorie.
Eng verknüpft mit der geleugneten realen Entwicklung ist drittens die Lehre Schopenhauer’s von der Unveränderlichkeit des empirischen Charakters.
Der Charakter des Menschen ist konstant: er bleibt der selbe, das ganze Leben hindurch.
Der Mensch ändert sich nie.
(Ethik 50.)
Dagegen spricht er dem Menschen die Fähigkeit zu, seinen Charakter ganz aufzuheben.
Der Schlüssel zur Vereinigung dieser Widersprüche liegt darin, daß der Zustand, in welchem der Charakter der Macht der Motive entzogen ist, nicht unmittelbar vom Willen ausgeht, sondern von einer veränderten Erkenntnißweise. So lange nämlich die Erkenntniß keine andere, als die im principio individuationis befangene, dem Satze vom Grunde schlechthin nachgehende ist, ist auch die Gewalt der Motive unwiderstehlich: wann aber das principium individuationis durchschaut, die Ideen, ja das Wesen der Dinge an sich, als derselbe Wille in Allem, unmittelbar erkannt wird, und aus dieser Erkenntniß ein allgemeines Quietiv des Wollens hervorgeht; dann werden die einzelnen Motive unwirksam, weil die ihnen entsprechende Erkenntnißweise, durch eine ganz andere verdunkelt, zurückgetreten ist. Daher kann der Charakter sich zwar nimmermehr theilweise ändern, sondern muß, mit der Konsequenz eines Naturgesetzes, im Einzelnen den Willen ausführen, dessen Erscheinung er im Ganzen ist: aber eben dieses Ganze, der Charakter selbst, kann völlig aufgehoben werden, durch die oben angegebene Veränderung der Erkenntniß.
(W. a. W. u. V. I. 477.)
Der Mensch tritt mit ganz bestimmten Willensqualitäten in das Dasein. Er ist, weil er das Leben überhaupt will; in zweiter Linie will er das Leben in einer bestimmten Form. Daß sein Wille ganz bestimmte Züge hat, ist keinem Zweifel unterworfen. Jeder klare Kopf erkennt dies, auch ohne philosophische Bildung, und erinnere |
i563 ich nur an Nero’s Vater, der, wie Sueton berichtet, mit wirklich großartiger Objektivität erklärte: »aus seinem und der Agrippina Charakter habe nur ein verächtliches und gemeinschädliches Wesen geboren werden können.« Die Willensqualitäten sind aber im Kinde nur als Keime vorhanden. Dies ist wichtig und deshalb fest zu halten.
Dem bestimmten Charakter eines Menschen ist die Erkenntniß beigegeben, ohne welche er sich nicht nach außen bewegen könnte. Alle Motive, welche ihn bewegen können, müssen, ehe sie zu ihm gelangen, durch die Erkenntniß.
Von diesen beiden Grundwahrheiten müssen wir ausgehen.
Die Keime zu festen Willensqualitäten sind weich und können beeinflußt werden. Hierauf beruht die Wichtigkeit der Erziehung. Eine Willensqualität kann gestärkt, eine andere geschwächt, eine dritte geradezu zum Verdorren gebracht, eine andere wieder geweckt werden, die schon am Ersticken war.
Das Mittel, dessen sich der Erzieher bedient, um seinen Zweck zu erreichen, ist, ganz allgemein ausgedrückt, die Sensibilität, welche, wie wir wissen, in einem dreifachen Verhältnisse zum Willen steht. Zuerst ist sie sein abhängiger Lenker, dann begleitet sie seine Thaten mit dem Gefühl, drittens eröffnet sie dem menschlichen Willen, durch das Selbstbewußtsein, sein tiefstes Inneres.
Der Erzieher giebt dem Kinde zunächst Fertigkeiten und einen gewissen Ueberblick über reale Verhältnisse. Dadurch macht er dessen Geist zu einem mehr oder weniger geschickten Lenker und giebt dem Willen selbst die Möglichkeit einer freieren Bewegung. Dann benutzt er die Sensibilität, um durch Züchtigung die Keime zu Willensqualitäten in der angegebenen Weise zu gestalten. Endlich klärt er das Kind durch die Religion über den Werth des Lebens auf. Ist er ein Denker, so wird er ihm sagen: »das höchste Gut ist der Friede des Herzens – alles Andere ist Nichts. Ueber dem Frieden des Herzens aber steht die völlige Vernichtung, deren irdisches Bild der traumlose Schlaf ist. So lange du leben mußt, vergiß dich selbst und wirke für Andere. Das Leben ist eine schwere Last und der Tod Erlösung.« Er braucht nicht zu befürchten, daß sein Zögling sich sofort in’s Wasser stürzt und den Tod sucht. Jugend will Leben und Dasein, aber die Worte werden dem Manne vielleicht einfallen und zum Motiv für ihn werden.
i564 Die Welt selbst vollendet die Erziehung. Tritt ein wild aufgewachsenes Individuum in sie ein, so wird sie sein erster Erzieher und ihr Wesen entspricht dem verwahrlosten Subjekt; denn, bildlich zu reden, ist sie kalt wie Eis und ohne Erbarmen. Mit eiserner Faust schleudert sie den Unerfahrenen und Eigensinnigen auf die Seite und hämmert auf die festgewordenen, kaum noch veränderlichen Willensqualitäten. Ist das Individuum zu spröde, so zerbricht es; ist es schlau, von Geburt an, so entflieht es und rächt sich; ist es gutherzig und beschränkt, so duldet man es und saugt es aus.
Den Einfluß der Erkenntniß auf den Willen giebt nun Schopenhauer völlig zu. Er sagt:
Da die Motive, welche die Erscheinung des Charakters, oder das Handeln, bestimmen, durch das Medium der Erkenntniß auf ihn einwirken, die Erkenntniß aber veränderlich ist, zwischen Irrthum und Wahrheit oft hin und her schwankt, in der Regel jedoch im Fortgange des Lebens immer mehr berichtigt wird, freilich in sehr verschiedenen Graden, so kann die Handlungsweise eines Menschen merklich verändert werden, ohne daß man daraus auf eine Veränderung seines Charakter zu schließen berechtigt wäre.
(W. a. W. u. V. I. 347.)
Alles, was die Motive können, ist, daß sie die Richtung seines Strebens ändern, d.h. machen, daß er das, was er unveränderlich sucht, auf einem anderen Wege suche, als bisher. Daher kann Belehrung, verbesserte Erkenntniß, also Einwirkung von außen, zwar ihn lehren, daß er in den Mitteln irrte, und kann demnach machen, daß er das Ziel, dem er, seinem innersten Wesen gemäß, einmal nachstrebt, auf einem ganz anderen Wege, sogar in einem ganz anderen Objekt als vorher verfolge: niemals aber kann sie machen, daß er etwas wirklich Anderes wolle, als er bisher gewollt hat.
(ib.)
Bloß seine Erkenntniß läßt sich berichtigen; daher er zu der Einsicht gelangen kann, daß diese oder jene Mittel, die er früher anwandte, nicht zu seinem Zwecke führen, oder mehr Nachtheil als Gewinn bringen: dann ändert er die Mittel, nicht die Zwecke. – – Ueberhaupt liegt allein in der Erkenntniß die Sphäre und der Bereich aller Besserung und Veredelung .... Dahin arbeitet alle Erziehung. Die Ausbildung der Vernunft, |
i565 durch Kenntnisse und Einsichten jeder Art, ist dadurch moralisch wichtig, daß sie Motiven, für welche ohne sie der Mensch verschlossen bliebe, den Zugang öffnet. So lange er diese nicht verstehen konnte, waren sie für seinen Willen nicht vorhanden.
(Ethik 52.)
Bisweilen werden Leidenschaften, denen man in der Jugend nachgab, später freiwillig gezügelt, bloß weil die entgegengesetzten Motive erst jetzt in die Erkenntniß getreten sind.
(W. a. W. u. V. I. 349.)
In diesem von Schopenhauer zugestandenen mächtigen (indirekten) Einfluß der Erkenntniß auf den Willen ist nun die Abänderlichkeit des Charakters implicite enthalten; denn wenn der Wille, durch die Erkenntniß veranlaßt, eine seiner Qualitäten für immer zur Unthätigkeit verurtheilt, so muß sie allmählich rudimentär werden: es ist, als ob sie gar nicht vorhanden wäre.
Man kann auch allgemein sagen: Jeder Mensch ist Wille zum Leben, folglich liegt auch in jedem Menschen die Möglichkeit, alle Qualitäten des Willens zu äußern. Durch Vererbung und Ausbildung sind einige hervorstechend in ihm, alle anderen sind nur als Keime vorhanden mit der Fähigkeit, sich zu entwickeln.
Man darf jedoch nicht die Abänderlichkeit des Charakters in weite Grenzen legen.
Die Abänderlichkeit ist eine Thatsache. Schon das verjüngte alte Sein ist ein abgeändertes Sein, indem zwei Willen und zwei Intelligenzen auf einander wirkten und eine neue Verbindung von Willen und Geist hervorbrachten. Die junge Idee tritt später in’s Leben (im weitesten Sinne) und bildet sich. Kann sie sich ganz frei von den Einflüssen ihrer jeweiligen Umgebung halten? Es ist nicht möglich.
Wir ziehen hieraus folgende Schlüsse:
1) der Mensch tritt mit starken und schwachen Keimen zu Willensqualitäten in’s Leben;
2) die starken können geschwächt, die schwachen gestärkt werden durch Erziehung, Beispiel, die Welt;
3) in jedem Augenblick seines Lebens hat jedoch der Mensch ein bestimmtes Ich, d.h. er ist die Verbindung eines bestimmten Willens mit einem bestimmten Geiste, welches |
i566 Ich, bei zureichendem Motiv, mit Nothwendigkeit handeln muß. Der Mensch handelt immer mit Nothwendigkeit und ist nie frei, auch nicht, wenn er seinen Willen verneint.
Einen anderen Beweis für die Umbildungsfähigkeit des Charakters hat Schopenhauer durch den erworbenen Charakter geliefert, den er neben den intelligibelen und den empirischen stellte; denn der erworbene Charakter tritt auf, wenn der Mensch gewisse Anlagen des empirischen besonders pflegt, andere dagegen verkümmern läßt. Ich muß übrigens darauf aufmerksam machen, daß Schopenhauer’s Darstellung des erworbenen Charakters eine verfehlte ist. Er spricht nämlich ganz allgemein von der Ausbildung natürlicher Eigenschaften, ohne diese unter dem Gesichtspunkte der Ethik zu sichten.
Die durch unsere individuelle Natur ohnehin nothwendige Handlungsweise haben wir jetzt auf deutlich bewußte, uns stets gegenwärtige Maximen gebracht, nach denen wir sie so besonnen durchführen, als wäre es eine erlernte, ohne hierbei je irre zu werden durch den vorübergehenden Einfluß der Stimmung, oder des Eindrucks der Gegenwart – – – ohne Zaudern, ohne Schwanken, ohne Inkonsequenzen. – – –
Haben wir erforscht, wo unsere Stärken und wo unsere Schwächen liegen, so werden wir unsere hervorstechenden natürlichen Anlagen ausbilden, gebrauchen, auf alle Weise zu nutzen suchen, und uns immer dahin wenden, wo diese taugen und gelten; aber durchaus und mit Selbstüberwindung die Bestrebungen vermeiden, zu denen wir von Natur geringe Anlagen haben.
(W. a. W. u. V. I. 360.)
Solche allgemeinen Sätze passen nicht in eine Ethik. Man wende sie versuchsweise auf einen Charakter an, dessen hervorstechender Zug Hang zum Diebstahl ist: er soll denselben besonnen und methodisch durchführen, ohne Zaudern, ohne Schwanken, ohne Inkonsequenzen, und wenn die Ehrlichkeit in ihm zu sprechen wagt, so soll er sie mit Selbstüberwindung zum Schweigen bringen. Fürwahr: difficile est, satiram non scribere.
Schließlich erwähne ich noch, daß Schopenhauer, weil er die reale Entwicklung leugnete und sich besonders deswegen auf die |
i567 Unveränderlichkeit des Willens steifte, behaupten mußte, daß die Verschiedenheit der Charaktere nicht zu erklären sei (W. a. W. u. V. II. 604). Sie ist aber sehr wohl zu erklären, wie ich in meiner Politik gezeigt habe.
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Wir stehen jetzt vor der Hauptfrage der Ethik: der Frage nach ihrem Fundament.
Auch hier muß ich von Kant zuerst sprechen, aber mit wenigen Worten, da Schopenhauer’s vortreffliche Kritik der Kantischen Ethik dieselbe vernichtet hat. Kant’s Verfahren ist dieses:
daß er zum Resultat machte, was das Princip oder die Voraussetzung hätte sein müssen (die Theologie) und zur Voraussetzung nahm, was als Resultat hätte abgeleitet werden sollen (das Gebot).
(Ethik 126.)
und der Hauptfehler seiner Grundlage der Moralität
ist Mangel an realem Gehalt, ist gänzlicher Mangel an Realität, und dadurch an möglicher Wirksamkeit.
(ib. 143.)
Dagegen wird es von Nutzen sein, drei Resultate der Kantischen Ethik anzumerken. Das eine ist, daß wir durch die Vernunft, durch deutliche Erkenntniß in Begriffen, einen Einfluß auf unseren Willen haben.
Wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von Dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden.
(Kk. d. V. 599.)
Das zweite ist, daß nur volle Uneigennützigkeit einer Handlung moralischen Werth geben kann. Kommt auch nur im Entferntesten der Egoismus in’s Spiel, so hat die Handlung im günstigsten Falle Legalität, nie Moralität. Das dritte Resultat ist, daß deshalb eine wirklich moralische Handlung gar nicht im Leben vorkommt.
In der That ist es schlechterdings unmöglich, durch Erfahrung einen einzigen Fall mit völliger Gewißheit auszumachen, da die Maxime einer sonst pflichtmäßigen Handlung lediglich auf |
i568 moralischen Gründen und auf der Vorstellung seiner Pflicht beruht habe.
Es kann nie mit Sicherheit geschlossen werden, daß wirklich gar kein geheimer Antrieb der Selbstliebe, unter der bloßen Vorspiegelung jener Idee, die eigentliche bestimmende Ursache des Willens gewesen sei.
(Kk. d. prakt. V. 27.)
Und weil dies der Fall ist, mußte eben Kant’s so rein begonnene Ethik als Moraltheologie endigen.
Ohne einen Gott und eine gehoffte Welt sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung.
(Kk. 607.)
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Schopenhauer tadelt Plato’s und der Stoiker Behauptung, daß Tugend gelehrt werden könne, und setzt der Ethik nur den Zweck
die in moralischer Hinsicht höchst verschiedene Handlungsweise der Menschen zu deuten, zu erklären und auf ihren letzten Grund zurückzuführen.
(Ethik 195.)
Auch er geht von der Ansicht aus, daß nur Uneigennützigkeit einer Handlung moralischen Werth verleihe und erklärt offen:
Die Abwesenheit aller egoistischen Motivation ist das Kriterium einer Handlung von moralischem Werth.
(Ethik 204.)
Besehen wir jetzt das Schopenhauer’sche Fundament der Moral.
Dem Anscheine nach giebt er der Moral nur eine Grundlage; untersucht man jedoch schärfer, so findet man zwei Fundamente, nämlich
1) das Mitleid,
2) die Durchschauung des principii individuationis,
was ich nachzuweisen habe. Er sagt:
Wie ist es irgend möglich, daß das Wohl und Wehe eines Andern, unmittelbar, d.h. ganz so wie sonst nur mein eigenes, meinen Willen bewege, also direkt mein Motiv werde, und es |
i569 sogar bisweilen in dem Grade werde, daß ich demselben mein eigenes Wohl und Wehe, diese sonst alleinige Quelle meiner Motive, mehr oder weniger nachsetze? – Offenbar nur dadurch, daß jener Andere der letzte Zweck meines Willens wird, ganz so wie sonst ich selbst es bin: also dadurch, daß ich ganz unmittelbar sein Wohl will und sein Wehe nicht will, so unmittelbar, wie sonst nur das meinige. Dies aber setzt nothwendig voraus, daß ich bei seinem Wehe als solchem geradezu mitleide, sein Wehe fühle, wie sonst nur meines, und deshalb sein Wohl unmittelbar will, wie sonst nur meines. Dies erfordert aber, daß ich auf irgend eine Weise mit ihm identificirt sei, d.h. daß jener gänzliche Unterschied zwischen mir und jedem Andern, auf welchem gerade mein Egoismus beruht, wenigstens in einem gewissen Grade aufgehoben sei. Da ich nun aber doch nicht in der Haut des Andern stecke, so kann allein vermittelst der Erkenntniß, die ich von ihm habe, d.h. der Vorstellung von ihm in meinem Kopf, ich mich so weit mit ihm identificiren, daß meine That jenen Unterschied als aufgehoben ankündigt. Der hier analysirte Vorgang – – – ist das alltägliche Phänomen des Mitleids.
(Ethik 208.)
Man kann diesen Satz nicht lesen, ohne den Scharfsinn zu bewundern, der nöthig war, um denselben zu erzeugen. Wie fein wird darin die Erkenntniß, als Durchschauung des principii individuationis, in das einfache Phänomen des Mitleids hineingespielt. Das Mitleid ist hiernach kein reiner Zustand des Willens, wie Trauer, Angst, wie die Unlust überhaupt, nicht der Ausfluß eines durch ein Motiv bewegten barmherzigen Willens, sondern – – ja wenn ich ihm nur einen Namen geben könnte: es ist Gefühl und übersinnliche Erkenntniß zu gleicher Zeit. Der Vorgang ist ein ganz anderer. Beim Anblick eines großen Jammers, des Leidens eines Menschen oder Thieres, empfinden wir in uns ein gewaltiges Weh, das uns das Herz zerreißt und in vielen Fällen, namentlich wo ein Thier leidet, größer ist als das des Leidenden. Weder erkennen, noch fühlen wir uns in irgend einer Weise identisch mit dem Leidenden, sondern wir empfinden lediglich in uns ein ganz positives Weh, von dem wir uns dadurch zu befreien suchen, daß wir den Leidenden leidlos machen. Folglich handelt das Individuum, welches sich dadurch von einem |
i570 Leid befreit, daß es einem anderen Menschen hilft, durchaus egoistisch. Es hilft sich im wahren Sinne des Worts selbst, ob es gleich dem Anderen hilft; denn nur indem es dem Anderen hilft, kann es sich selbst helfen.
Es kann mir nicht einfallen, den Thaten, die aus einem barmherzigen Willen fließen, moralischen Werth abzusprechen; aber wenn eine Handlung lediglich dadurch moralisch ist, daß sie nicht auf Egoismus beruht, wie Schopenhauer will, so sind die Thaten aus Mitleid nicht moralisch, man wende sich wie man wolle.
Schon hieraus ergiebt sich, daß das Mitleid nicht das oberste Princip der Moral sein kann. Dies will ich jetzt im Einzelnen nachweisen. Zunächst sieht sich Schopenhauer genöthigt, die Vernunft, das wahre Aschenbrödel seiner Philosophie, zu Hülfe zu rufen.
Jedoch ist keineswegs erforderlich, daß in jedem einzelnen Falle das Mitleid wirklich erregt werde, wo es auch oft zu spät käme: sondern aus der ein für alle Mal erlangten Kenntniß von dem Leiden, welches jede ungerechte Handlung nothwendig über Andere bringt .... geht in edlen Gemüthern die Maxime: neminem laede hervor, und die vernünftige Ueberlegung erhebt sie zu dem ein für alle Mal gefaßten festen Vorsatz, die Rechte eines Jeden zu achten. –
Denn obwohl Grundsätze und abstrakte Erkenntniß überhaupt keineswegs die Urquelle, oder erste Grundlage der Moralität sind, so sind sie doch (!) zu einem moralischen Lebenswandel unentbehrlich.
(Ethik 214.)
Ohne fest gefaßte Grundsätze würden wir den antimoralischen Triebfedern, wenn sie durch äußere Eindrücke zu Affekten erregt sind, unwiderstehlich preisgegeben sein.
(ib. 215.)
Zweitens gesteht Schopenhauer selbst zu,
daß die Verwerflichkeit der widernatürlichen Wollustsünden nicht aus demselben Princip mit den Tugenden der Gerechtigkeit und Menschenliebe abzuleiten sind.
(ib. Vorrede XIX.)
Drittens finden die meisten Handlungen der Gerechtigkeit keinen Platz auf dem Fundament. Man denke an die vielen Fälle, wo Personen betrogen werden können, ohne daß sie es je zu erfahren |
i571 im Stande sind. Jeder Schlechte weiß in solchen Fällen, daß er kein Leid hervorbringt, wie sollte ihn nun das Mitleid abhalten können zu betrügen? Und nun gar, wenn es sich um keinen Mitmenschen, sondern um den Staat handelt. Ein Betrug, am Staate verübt, ein Wilddiebstahl, Steuerdefraudation, ist von jeher in den Augen der Welt die verzeihlichste Sünde gewesen. Der Staat wird täglich geprellt und Mitleid mit dem armen Staate hat noch keinen Hallunken vom Betrug abgehalten. Schopenhauer hat den Fall wohl erwogen, aber er half sich mit einem Kniff:
Die bloße Rechtsverletzung, als solche, wird zwar auch vom Gewissen und von Andern gemißbilligt werden, aber nur sofern die Maxime, jedes Recht zu achten, welche den wahrhaft ehrlichen Mann macht, dadurch gebrochen ist.
(Ethik 236.)
Hier ist einfach zu fragen: Ist die Vernunft, oder das Mitleid das oberste Princip der Ethik? Wenn das Mitleid, so kann ein Wilddiebstahl keine unmoralische Handlung sein.
Schließlich ist das Fundament zu schmal, weil die Heiligkeit nicht darauf stehen kann. Aber Schopenhauer ist nicht verlegen. Er hat das Mitleid gewaltsam zu einer Folge der Durchschauung des principii individuationis gemacht und läßt nun, gleichsam als letzte Stufe, die Heiligkeit, die Verneinung des Willens zum Leben, aus dieser Durchschauung hervorgehen. Dies ist jedoch falsch und es handelt sich, wie ich oben sagte, wirklich um ein zweites Fundament der Moral neben dem Mitleid, welches ein Willenszustand ist, nichts weiter. Die Barmherzigkeit steht mit der Erkenntniß genau in derselben Verbindung, wie alle anderen Qualitäten: die Erkenntniß liefert ihr das Motiv sich zu äußern.
Was ist nun eigentlich die Durchschauung des principii individuationis?
Die Tugend geht zwar aus der Erkenntniß hervor, aber nicht aus der abstrakten, durch Worte mittheilbaren.
(W. a. W. u. V. I. 434.)
Die ächte Güte der Gesinnung, die uneigennützige Tugend und der reine Edelmuth gehen nicht von abstrakter Erkenntniß aus, aber doch von Erkenntniß: nämlich von einer unmittelbaren und intuitiven, die nicht wegzuraisonniren und nicht anzuraisonniren ist, von einer Erkenntniß, die eben, weil sie nicht ab|strakt
i572 ist, sich auch nicht mittheilen läßt, sondern jedem selbst aufgehen muß, die daher ihren eigentlichen adäquaten Ausdruck nicht in Worten findet, sondern ganz allein in Thaten, im Lebenslauf des Menschen.
(ib. 437.)
Wem, der die Theologia Deutsch gelesen hat, fallen da nicht die Worte des edlen Franckforter’s ein:
Und was da offenbaret würde, oder was da gelebt würde, davon singt und sagt Niemand. Es ward auch mit Munde nie ausgesprochen, noch mit Herzen nie gedacht oder erkannt, wie es in der Wahrheit ist.
In der That befindet sich Schopenhauer hier mitten im mystischen Fahrwasser: fort ist alle Immanenz und ausgelöscht »des Menschen allerhöchste Kraft«. Es liegt eine bittere Ironie darin, daß gerade derjenige Mann, welcher nicht Worte des Hohns und der Verachtung genug finden konnte für die »Nachkantische Afterweisheit,« die Weisheit der »Charlatane und Windbeutel,« auf dem Gipfelpunkt seiner Philosophie eine »intellektuale Anschauung« ergreifen mußte, um sein Werk abschließen zu können.
Sehen wir indessen von Allem ab und nehmen wir an, die Heiligkeit entspringe aus einer intuitiven Erkenntniß: ist sie nun frei von Egoismus? O nein! Der Heilige will sein Wohl, er will vom Leben befreit sein. Er kann auch gar nicht anders wollen. Er kann aus tiefstem Herzensgrunde wünschen, daß alle Menschen erlöst werden möchten, aber die eigene Erlösung bleibt Hauptsache. Ein heiliger Christ ist zunächst um das Heil seiner Seele besorgt, und ihr, durch entsprechende Thaten, das ewige Leben zu sichern, ist sein Hauptstreben.
Und so sehen wir auch die Schopenhauer’sche Ethik, wie die Kantische, trotz allen energischen Protesten, auf dem Egoismus aufgerichtet, der realen Individualität, weil es eben nicht anders möglich ist. Die Sätze:
Die Abwesenheit aller egoistischen Motivation ist das Kriterium einer Handlung von moralischem Werth;
und
Nur was aus Pflicht geschieht, hat einen moralischen Werth;
sind hohle, nichtssagende Phrasen, in der einsamen stillen Studier|stube
i573 entstanden, die aber das Leben und die Natur, kurz die Wahrheit, nicht unterschreibt: es giebt nur egoistische Handlungen.
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Ich will jetzt kurz die Moral, rein immanent, begründen.
Alle Tugend beruht entweder auf einem in dem Fluß des Werdens gewordenen guten Willen: eine edle Willensqualität wurde auf irgend eine Weise erweckt, vererbte sich und wurde dann unter günstigen Umständen immer fester, bis in einem Individuum ein wahrhaft barmherziger Wille in die Erscheinung trat; oder sie beruht auf der Erkenntniß: eine Erkenntniß klärt irgend einen Menschen über sein wahres Wohl auf und entzündet sein Herz. Ein ursprünglich guter Wille ist also nicht Bedingung einer moralischen Handlung. Moralische Handlungen können aus dem Mitleid fließen, müssen es aber nicht.
Der Egoismus des Menschen äußert sich nicht nur darin, daß er sich im Dasein erhalten will, sondern auch darin, daß er die »größtmögliche Summe von Wohlsein, jeden Genuß, zu dem er fähig ist« will, aber auch darin, daß er von Schmerzen, die er nicht umgehen kann, die kleinsten will. Hieraus ergiebt sich die Aufgabe für den Intellekt von selbst: er hat das allgemein