3) Die drei Grundfarben Roth, Gelb und Blau bilden zusammen die volle Thätigkeit der Retina, denn Gelb und Blau = Grün, Grün und Roth = volle Thätigkeit. Roth ist +7/12, Gelb +9/12, Blau –4/12, macht zusammen +12/12= 1. Dem entsprechend müssen sich die von ihnen geforderten Complementärfarben, Grün, Violett und Orange, aufheben, was in der That der Fall ist: Grün ist –5/12, Violett –3/12, Orange +8/12= 0.
Diese auffallenden Resultate zwingen geradezu zur Anerkennung des Schemas. Versucht man dieselben Zusammensetzungen mit den Schopenhauer’schen Brüchen, so wird man überall auf irrationale Zahlenverhältnisse stoßen, was der beste Beweis gegen sie ist.
Dies tangirt aber in keiner Weise das große Verdienst Schopenhauer’s. Er hat hier entschieden Bahn gebrochen und ihm allein gebührt der Kranz. Wann aber, frage ich, wird endlich die Goethe- Schopenhauer’sche Theorie Anerkennung finden und das Newton’sche Gespenst aus der Physik mit Schimpf und Schande hinausgejagt werden?
Schopenhauer ist bei dem Vorgang in der Retina stehen geblieben. Zwar beginnt und endigt er das erste Capitel seiner Schrift mit der feierlichen Erklärung: alle Anschauung ist eine intel|lektuale,
i427 aber thatsächlich ist die Anschauung der Farben bei ihm eine sensuale. Es war mir vorbehalten, den Farben einen unerschütterlichen Grund im Intellekte, durch die Verstandesform Materie, zu geben und so die Theorie erst zu einem Abschluß zu bringen.
Die subjektive Natur der Farbe und ihre Entstehung im Auge ist hiernach festgestellt. Was ist aber ihre objektive Natur, d.h. welche Ursache im Objekt bewirkt, daß sich die Thätigkeit der Retina qualitativ verschiedenartig theilen muß; denn eine Nöthigung durch das Objekt findet zweifelsohne statt.
Die objektive Ursache der physischen Farben hat Goethe richtig bezeichnet. Sie ist vermindertes Licht. Innigste chemische Durchdringung des Lichtes mit der Finsterniß, jedoch nicht unmittelbar, sondern mittelst des Dazwischentretens eines Dritten, der Trübe, bringt die Farben hervor. Hemmt eine Trübe dem Auge das Licht, so entstehen, je nach der Dichtigkeit der Trübe, Gelb, Orange, Roth; sieht dagegen das Auge durch eine beleuchtete Trübe in die Finsterniß, so entstehen Grün, Blau, Violett.
Die objektive Natur der chemischen, also der den Körpern inhärirenden Farben ist wohl auf die gleiche Ursache zurückzuführen. Schopenhauer sagt:
Licht und Wärme sind Metamorphosen von einander. Die Sonnenstrahlen sind kalt, so lange sie leuchten: erst wann sie, auf undurchsichtige Körper treffend, zu leuchten aufhören, verwandelt sich ihr Licht in Wärme ........ Die, nach Beschaffenheit eines Körpers, speziell modificirte Weise, wie er das auf ihn fallende Licht in Wärme verwandelt, ist, für unser Auge, seine chemische Farbe.
(74.)
Ich halte dies jedoch nicht für ganz richtig. Meine Ansicht ist vielmehr, daß jeder Körper eine zu seinem Wesen gehörige bestimmte Fähigkeit hat, das auffallende Licht theilweise in Wärme zu verwandeln, oder besser: seinen Zustand, auf Kosten der Bewegung, die wir Licht nennen, zu modificiren. Hierdurch wird das Licht geschwächt, ein Theil seiner Energie wird ihm entzogen und wir haben, wie bei den physischen Farben, ein vermindertes Licht, welches, vom Körper zurückgeworfen, eben der specifische Reiz ist, der unsere Retina zwingt, ihre Thätigkeit qualitativ in zwei Hälften zu spalten. Je weniger Licht ein Körper in Wärme verwandelt, desto heller wird er uns erscheinen und umgekehrt. Den Körpern, |
i428 unabhängig vom Subjekt, Farbe zuzusprechen, ist absurd; aber ganz unzweifelhaft liegt in ihnen allein die Fähigkeit, im Auge Farben zu erzeugen, so daß eine bestimmte Farbe entschieden auf eine bestimmte, zum Wesen des Körpers gehörige Eigenschaft Anweisung giebt.
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Nach diesen nothwendig gewesenen Zwischenerörterungen wenden wir uns zur Synthesis der Vernunft zurück. Die eine große Verbindung, die Zeit, welche sie, auf dem Gebiete des inneren Sinnes, an dem sich bewegenden Punkte der Gegenwart, vollzog, ist uns in der Erinnerung.
Nehmen wir zum Gegenstand der Untersuchung einen blühenden Apfelbaum in solcher Entfernung von uns, daß er sich ganz auf der Retina abzeichnet. Nach Schopenhauer steht er als ausschließliches Werk des Verstandes vollkommen fertig vor uns; nach Kant haben wir ohne die Vernunft (bei ihm Verstand) nur eine »Rhapsodie von Wahrnehmungen«, »ein Gewühl von einzelnen Erscheinungen«, welche nie ein Ganzes ausmachen würden. Ich werde beweisen, daß Kant Recht hat.
Schopenhauer blickt vornehm und kühl ablehnend auf die tiefsinnige Lehre Kant’s von der Verbindung eines Mannigfaltigen der Anschauung herab und beklagt sich, daß Kant nie gehörig erläutert, noch gezeigt habe, was denn dieses Mannigfaltige der Anschauung, vor der Verbindung durch den Verstand, sei. Die Klage ist aber durch Nichts gerechtfertigt und es scheint, als ob er absichtlich die klarsten Stellen der transscendentalen Analytik ignorire. Ich erinnere an die oben angeführten, namentlich an diese:
Man glaubte die Sinne lieferten uns nicht allein Eindrücke, sondern setzten solche auch zusammen und brächten Bilder der Gegenstände zu Wege, wozu ... noch etwas mehr, nämlich eine Function der Synthesis derselben erfordert wird.
Hätte Kant nur immer so deutlich geschrieben: vieles Wunderliche und Wahnwitzige würde nicht auf den Markt gekommen sein!
Auf die Synthesis näher eingehend, meint Schopenhauer: Alle Dinge seien in Raum und Zeit, deren Theile ursprünglich nicht getrennt, sondern verbunden seien. Folglich erscheine auch jedes Ding |
i429 schon ursprünglich als Continuum. Wollte man aber die Synthesis dahin auslegen,
daß ich die verschiedenen Sinneseindrücke von einem Objekt doch nur auf dieses eine beziehe, ... so ist dies vielmehr eine Folge der Erkenntniß a priori vom Causalnexus, ... vermöge welcher alle verschiedenen Einwirkungen auf meine verschiedenen Sinnesorgane mich doch nur auf eine gemeinsame Ursache derselben ... hinleiten.
(W. a. W. u. V. I. 530.)
Beides ist falsch. Wir haben bereits gesehen, daß die Zeit ursprünglich kein Continuum ist, sondern von der Vernunft erst zu einem solchen verbunden werden muß; der mathematische Raum, den wir gleich kennen lernen werden, ist ebenfalls zusammengesetzt. Ferner kann der Verstand, vermöge seiner Function, nur die Ursache zu einer Veränderung im Sinnesorgan suchen; er kann aber nicht erkennen, daß verschiedene Wirkungen von einem Objekt ausgehen, denn er ist keine verbindende und denkende Kraft. Uebrigens handelt es sich jetzt um eine ganz andere Verbindung.
Die große Besonnenheit, welche Schopenhauer dadurch bekundete, daß er sich fragte: wie komme ich überhaupt dazu, die Ursache eines Sinneseindruckes nicht in mir, sondern außer mir zu suchen und sie thatsächlich hinaus zu verlegen – welche Frage ihn das apriorische Causalitätsgesetz finden ließ – hatte ihn ganz verlassen, als er zur Construction der Außenwelt ging. Hier nahm er die Objekte wie sie sich dem Erwachsenen zeigen und fragte nicht: ob nicht auch diese Anschauung ebenso vom Kinde erst erlernt werden müsse, wie die Anschauung des richtigen Ortes eines Objektes. Doch jetzt zur Sache!
Betrachten wir unseren blühenden Apfelbaum und beachten dabei genau unsere Augen, so werden wir finden, daß sie in beständiger Bewegung sind. Wir bewegen sie von unten nach oben, von oben nach unten, von rechts nach links und umgekehrt, kurz wir betasten den ganzen Baum mit unseren Augen, die sich, wie Schopenhauer treffend sagt, der Lichtstrahlen als Taststangen bedienen.
Wir mustern (perlustrare) den Gegenstand, lassen die Augen hin und her darauf gleiten, um jeden Punkt desselben successive mit dem Centro der Retina, welches am deutlichsten sieht, in Kontakt zu bringen.
(4fache W. 60.)
i430 Ehe wir dies überhaupt thun, haben wir bereits den Baum ganz vor uns, er ist schon ein verbundenes Objekt, und wir betasten ihn nur, weil diejenigen Theile, welche zur Seite des Mittelpunktes der Retina liegen, nicht deutlich von uns gesehen werden. Es geschieht dies blitzschnell, so daß wir uns der unzweifelhaft stattfindenden Synthesis der gewonnenen deutlichen Vorstellungen nur bei größter Aufmerksamkeit bewußt werden. Unsere Einbildungskraft hält die deutlichen Theile fest, welche, als zu einem Objekt gehörig, die Vernunft unermüdlich verbindet, und wir gelangen auf diese Weise zum deutlichen Bilde des ganzen Baumes.
Diese Synthesis findet immer statt, ob wir gleich den Baum schon tausendmal gesehen haben. Erleichtert aber wird sie wesentlich dadurch, daß wir, als Erwachsene, überhaupt schon vom Begriff ganzer Objekte ausgehen und einen für uns neuen Gegenstand sofort, in einem raschen Ueberblick, als Ganzes auffassen, dessen Theile genau zu betrachten uns allein obliegt.
Hat aber das Kind, das die Welt erst successive kennen lernen muß, schon ganze Objekte? Gewiß nicht. Haben wir auch keine Erinnerung davon, wie hülflos wir im Säuglingsalter gewesen sind, so müssen wir doch annehmen, daß wir nur ganz allmählich lernten, die Theile eines Objektes zu einem Ganzen zu verbinden. Hat aber das Kind nur an einem Objekt die Verbindung glücklich zu Wege gebracht, so ist Alles gewonnen. Nun geht es mit dieser eroberten Vorstellung an alle übrigen und sein Studium ist von da ab fast ein Spiel.
Ich habe das schwierigste Beispiel vorangestellt, um die erste Skizze des Vorgangs zu gewinnen. Jetzt wollen wir nur einen Theil des Baumes die Retina treffen lassen und begeben uns zu diesem Zwecke dicht vor denselben. Richten wir die Augen gerade auf ihn, so sehen wir ein Stück vom Stamm. Wir wissen sofort, daß wir einen Baum vor uns haben, aber wir kennen nicht seine Gestalt. Nun fangen wir von unten an und gehen bis zur Spitze, betrachten ihn auch nach rechts und links und immer verlieren wir die betrachteten Theile aus den Augen. Dem ungeachtet haben wir zuletzt den ganzen Baum in der Einbildungskraft. Warum? Weil unsere Vernunft die Theile verband und die Einbildungskraft das Verbundene stets festgehalten hat. Hier tritt die Synthesis schon sehr deutlich hervor.
i431 Am deutlichsten aber wird sie, wenn wir das Auge ganz aus dem Spiele lassen und uns auf das Getast beschränken; denn das Auge ist das vollkommenste Sinnesorgan und functionirt mit unvergleichlicher Schnelligkeit, so daß wir den Vorgang nur mit Mühe erfassen. Ganz anders beim Getast; hier sind uns die Flügel beschnitten und die kleine Schrift der Synthesis beim Sehen wird Fractur. Denken wir uns also, daß unsere Augen geschlossen sind und man uns einen leeren Bilderrahmen darreicht. Wir fangen an irgend einer Ecke an, ihn zu betasten; gleiten dann mit der Hand weiter zur anderen Ecke, dann herunter zur dritten Ecke und weiter, bis wir wieder am Ausgangspunkte angelangt sind. Was ist nun eigentlich geschehen? Der Verstand hat den ersten Eindruck in den Nerven der Fingerspitzen auf eine Ursache bezogen, dieser Ursache, mit Hülfe des Raumes, die Grenze gesetzt und der ausgedehnten Ursache, mit Hülfe der Materie, eine bestimmte Wirkungsart gegeben (etwa vollkommene Glätte, bestimmte Temperatur und Festigkeit). Weiter konnte er Nichts thun. Dieses Geschäft wiederholt er beim zweiten Eindruck, beim dritten u.s.f.; immer fängt er von Neuem an: Beziehung der Wirkung auf eine Ursache und Gestaltung derselben, seinen Formen, Raum und Materie, gemäß. Auf diese Weise producirt er Theilvorstellungen, die, wenn sie die Einbildungskraft auch festhielte, ohne Vernunft nichts Anderes wären, als eine »Rhapsodie von Wahrnehmungen«, welche nie ein Objekt werden könnten. Aber die Vernunft war inzwischen nicht unthätig. Ihre Function ausübend, verband sie die Theilvorstellungen und die Einbildungskraft folgte, als getreue Magd, stets nach, das Verbundene zusammenhaltend. Schließlich heben wir noch den Rahmen, der Verstand giebt ihm eine gewisse Schwere und das Objekt ist fertig.
Die Vernunft konnte die Eindrücke der Sinne nicht verarbeiten, der Verstand die verarbeiteten Sinneseindrücke nicht verbinden: erst beide im Verein konnten das Objekt hervorbringen und Kant hat Recht, wenn er sagt:
Verstand und Sinnlichkeit können bei uns nur in Verbindung Gegenstände bestimmen;
(Kk. 252.)
aber, füge ich hinzu, ohne Kategorien, die ganz überflüssig sind.
Die Vernunft verband die Theilvorstellungen, welche vom Raum nach Tiefe (Erhöhungen, Vertiefungen, Dicke), Länge und Breite |
i432 bestimmt wurden, zur Gestalt des Rahmens und die spezielle Wirksamkeit der Theilvorstellungen, welche die Materie objektivirte, zur Qualität des Rahmens, und das Objekt war fertig, ohne Hülfe von Kategorien der Quantität und Qualität. Von Begriffen ist bei dieser Art der Synthesis gar nicht die Rede.
Weil Schopenhauer die Function der Vernunft nur an ihrem einen Ende erfaßte: Bildung des Begriffes, und das andere Ende: Synthesis eines Mannigfaltigen der Anschauung zu einem Objekte, ganz übersah und ferner sehr richtig urtheilte, daß das Denken zur Anschauung gar nichts beitragen kann (wie ja auch Kant treffend sagt: die Anschauung bedarf der Funktionen des Denkens auf keine Weise), mit der Vernunft aber nur das Denken in die Anschauung zu bringen glaubte, verwarf er Kant’s scharfsinnige Lehre von der Synthesis eines Mannigfaltigen durch den Verstand (Vernunft), d.h. er schnitt den besten Theil der Erkenntnißtheorie Kant’s ab. Das Denken kommt aber mit der Verbindung eines Mannigfaltigen durch die Vernunft in keiner Weise in die Anschauung.
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Kehren wir zu unserem Apfelbaum zurück. Die Verbindung der einzelnen Anschauungen geschah successive. Die Vernunft verband und die Einbildungskraft hielt das jeweilig Verbundene fest. Dieses Alles fand auf dem fortrollenden Punkte der Gegenwart statt und die Succession in der Verbindung wurde auf keine Weise beachtet. Dies war indessen zufällig, da die Vernunft bereits im Besitze der Zeit ist und, während der Synthesis, ihre Aufmerksamkeit auf die Succession wohl hätte lenken können. Hierdurch hätte sie den Baum, der während der Beobachtung beharrte, und die Beobachtung selbst in ein Zeitverhältniß gebracht und ihnen eine Dauer gegeben.
Ebenso werden Ortsveränderungen (also etwa die Bewegung eines Zweiges unseres Baumes) auf dem Punkte der Gegenwart erkannt, wenn sie derartig sind, daß sie, als Verschiebung gegen ruhende Objekte, wahrgenommen werden können. Dagegen können wir Ortsveränderungen, wo dies nicht der Fall ist, nur mit Hülfe der Zeit erkennen. Das Gleiche findet bei der Entwicklung statt, welche, mit dem Begriffe der Ortsveränderung, die Sphäre des höheren Begriffes der Bewegung ausfüllt. Wir denken uns, daß wir im Herbst wieder vor unserm Apfelbaum treten. Jetzt trägt er Früchte. |
i433 Wir haben denselben Baum und doch nicht denselben. Eine Verbindung der entgegengesetzten Prädikate (blühend und fruchttragend) in diesem selben Objekt ist nur vermittelst und in der Zeit möglich, d.h. es ist sehr wohl möglich, den blühenden Baum zu einer und den Früchte tragenden Baum zu einer anderen Zeit anzuschauen.
Der Zeit verdanken wir also, wie wir schon von hier absehen können, eine außerordentlich große Erweiterung unserer Erkenntniß. Ohne sie würden wir immerdar auf die Gegenwart beschränkt sein.
Hier ist auch der Ort, ein Wort über die Erkenntnißvermögen der oberen Thiere zu sagen. Schopenhauer giebt ihnen nur Verstand und spricht ihnen die Vernunft ab. Er mußte dies thun, weil er die Vernunft nur denken, nicht verbinden läßt, und es andererseits gewiß ist, daß die Thiere keine Begriffe haben. Meine Erklärung der Vernunft als eines Vermögens, zwei ganz verschiedene Arten von Verbindungen zu bewerkstelligen, welche auf einer einzigen Function beruhen (im Grunde genommen befreite ich nur das Gold eines glänzenden Gedankens Kant’s von einem darüber geschütteten Haufen werthloser Erde), erweist sich hier sehr fruchtbar. Täglich geben die Thiere Beweise davon, daß sie nicht ganz auf die Gegenwart beschränkt sind, und man zerbricht sich den Kopf darüber, wie ihre Handlungen entstanden sein möchten. Entweder spricht man ihnen nun Vernunft Zu, d.h. wie man gewöhnlich annimmt, die Fähigkeit in Begriffen zu denken, oder man schiebt Alles in den Instinkt. Beides ist unrichtig. Sie haben nur eine einseitige Vernunft. Sie verbinden; verbinden auch Bilder auf dem fortrollenden Punkte der Gegenwart, kurz, können in Bildern denken.
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Blicken wir zurück! Die anschauliche Welt ist fertig. Objekt reiht sich an Objekt; sie ruhen oder bewegen sich, alle entwickeln sich und stehen in Verhältnissen der Zeit, welche nicht eine unendliche reine Anschauung a priori, sondern eine Verbindung a posteriori auf Grund des fließenden apriorischen Punktes der Gegenwart ist.
Das Nächste, was wir zu erörtern haben, ist der mathematische Raum.
Wie ich oben zeigte, ist der Raum, als Verstandesform, ein Punkt mit der Fähigkeit, den Kraftsphären der Objekte nach drei |
i434 Richtungen die Grenze zu setzen. An und für sich hat der Raum keine Ausdehnung, obgleich alle Ausdehnung sich nur durch ihn objektiviren kann. Es ist das verwerfliche Spiel einer frivolen Vernunft, den Raum aus den Händen des Verstandes zu nehmen (der ihn nur zur Bestimmung von Objekten benutzt), ihn auseinandertreten zu lassen und, im ungehinderten Fortgang ihrer Synthesis, leere Räumlichkeiten (die nur in unserer Phantasie existiren können) zu einem leeren objektiven Raum zu vereinigen, dessen Dimensionen sich in’s Unendliche verlängern.
Andererseits jedoch ist richtig, daß jedes Objekt nach drei Richtungen wirkt. Nicht der Umfang dieser Wirksamkeit hängt vom Punkt-Raume ab – unabhängig von unserem Kopfe ist er vorhanden – aber niemals würden wir im Stande sein, ihn wahrzunehmen, ohne den Punkt-Raum, welcher zu diesem Zwecke in uns liegt und dadurch eine Bedingung a priori der Möglichkeit aller Erfahrung ist.
Weil diese Uebereinstimmung besteht, so kann ich von jedem Körper, ehe ich ihn kenne, also a priori, sagen, daß er nach drei Richtungen wirkt. Ist nun das von seinem Inhalt getrennte rein Formale geeignet, die menschliche Erkenntniß wesentlich zu erweitern, so ist die Vernunft berechtigt, es synthetisch zu gestalten.
Dies ist beim mathematischen Raume der Fall; denn den Nutzen der Mathematik wird Niemand in Abrede stellen. So verbindet denn die Vernunft, wie sie Theilvorstellungen zu Objekten zusammenfaßt, Phantasieräumlichkeiten zum mathematischen Raume.
Daß er eine Verbindung ist, ist klar. So wenig ich ein Objekt sofort als Ganzes habe, so wenig ist mir der mathematische Raum, als Anschauung, fertig gegeben, oder mit Worten Kant’s:
Die Erscheinungen sind insgesammt Größen, und zwar extensive Größen, weil sie als Anschauungen im Raume oder der Zeit durch dieselbe Synthesis vorgestellt werden müssen, als wodurch Raum und Zeit überhaupt bestimmt werden.
(Kk. 175.)
Es dürfte kaum nöthig sein, zu bemerken, daß der mathematische Raum nur einen wissenschaftlichen und indirekt praktischen Werth hat und die Anschauung von Objekten ganz und gar von ihm unabhängig ist. Diese kommt allein mit Hülfe der Verstandesform Raum, des Punkt-Raumes, zu Stande. Hierdurch unterscheidet sich |
i435 die Zeit wesentlich vom mathematischen Raume; denn die Erkenntniß vieler Ortsveränderungen und aller Entwicklungen ist ohne die Zeit nicht möglich.
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Jetzt wollen wir die causalen Verhältnisse betrachten.
Es steht für Jeden als eine unumstößliche Thatsache fest, daß Nichts in der Welt ohne Ursache geschieht. Indessen hat es nie an Solchen gefehlt, welche die Nothwendigkeit dieses obersten Naturgesetzes, der Causalität, in Zweifel gezogen haben.
Es ist klar, daß die Allgemeingültigkeit des Gesetzes nur dann gegen jeden Zweifel geschützt ist, wenn nachgewiesen werden kann, daß es vor aller Erfahrung in uns liegt, d.h. daß, ohne dasselbe, es entweder unmöglich wäre, einen Gegenstand überhaupt wahrzunehmen, oder doch eine objektiv gültige Verknüpfung der Erscheinungen zu bewerkstelligen.
Kant suchte die Apriorität der Causalität vom letzteren (niederen) Standpunkte zu beweisen, was ihm jedoch völlig mißlungen ist. Schopenhauer hat die »zweite Analogie der Erfahrung« gründlich im § 23 der Vierfachen Wurzel widerlegt (sich besonders darauf stützend, daß alles Erfolgen ein Folgen, aber nicht alles Folgen ein Erfolgen ist), worauf ich mich beziehe.
Selbst wenn Kant’s Beweis der Apriorität der Causalität keinen Widerspruch enthielte, so würde er doch falsch sein, weil er sich auf einen reinen Verstandesbegriff stützt und, wie wir wissen, reine Begriffe a priori nicht möglich sind. Es lag also Schopenhauer ob, die Apriorität der Causalität auf andere Weise zu begründen. Er stellte sich auf den höheren Standpunkt, d.h. er zeigte, daß wir, ohne das Causalitätsgesetz, nicht einmal im Stande wären, die Welt wahrzunehmen, daß es uns mithin vor aller Erfahrung gegeben sein müsse. Er machte den Uebergang von der Wirkung (Veränderung im Sinnesorgan) auf die Ursache zur ausschließlichen Function des Verstandes.
Ich habe mich indessen schon oben entschieden dagegen verwahrt, daß die einfache und ganz bestimmte Function des Verstandes eine Erweiterung durch den Verstand selbst erfahre. Die causalen Verhältnisse, welche sämmtlich unter dem Begriffe der Causalität stehen, werden durch das Schopenhauer’sche Causalitätsgesetz nicht ge|deckt.
i436 Sie können nur durch die Vernunft festgestellt werden, wie ich jetzt zeigen werde.
Zunächst erkennt die Vernunft den causalen Zusammenhang zwischen den Vorstellungen und dem unmittelbaren Objekt (meinem Leibe). Sie sind nur meine Vorstellungen, weil sie die Ursachen von Veränderungen in meinen Sinnen sind. Der Uebergang von ihren Wirkungen zu ihnen ist Sache des Verstandes, die Verknüpfung der Wirkungen mit den Ursachen und umgekehrt ist ein Werk der Vernunft. Beide Verhältnisse werden von ihr allein zu Erkenntnissen verknüpft.
Dieser apriorische causale Zusammenhang zwischen mir und den wahrgenommenen Objekten bestimmt Nichts weiter, als daß die Objekte auf mich wirken. Ob sie auch auf andere Objekte wirken, ist vorläufig fraglich. Eine unbedingte direkte Gewißheit darüber kann nicht gegeben werden, denn wir sind nicht im Stande, unsere Haut zu verlassen. Dagegen ist es ebenso klar, daß nur eine verirrte Vernunft das kritische Bedenken krampfhaft festhalten könnte.
Die Vernunft erkennt nun zuvörderst, daß mein Leib kein privilegirtes Subjekt, sondern ein Objekt unter Objekten ist, und überträgt, auf Grund dieser Erkenntniß, das Verhältniß der Ursache und Wirkung auf Objekte unter einander. Sie unterwirft also, durch diese Erweiterung, sämmtliche Erscheinungen einer möglichen Erfahrung der Causalität (der allgemeinen Causalität), deren Gesetz nunmehr die allgemeine Fassung erhält: Wo immer in der Natur eine Veränderung stattfindet, ist diese die Wirkung einer Ursache, welche in der Zeit vorausgeht.
Indem die Vernunft, auf Grund des Causalitätsgesetzes, die Veränderungen in sämmtlichen Objekten der Causalität unterwirft, verknüpft sie die Wirksamkeit von Erscheinungen, wie sie vorher diese Erscheinungen selbst aus Theilvorstellungen zu ganzen Objekten zusammensetzte, und erweitert dadurch wesentlich unsere Erkenntniß. Hiermit ist sie jedoch noch nicht zu Ende.
Aus der Erkenntniß, daß alle Körper, ohne Ausnahme, unaufhörlich wirken (sie könnten sonst gar nicht Gegenstände einer Erfahrung sein) gewinnt sie die andere, daß sie nach allen Richtungen wirken, daß es mithin keine getrennten, neben einander herlaufenden Causalreihen giebt, sondern daß jeder Körper, direkt und indirekt, auf alle anderen wirkt und zugleich die Wirksamkeit aller anderen |
i437 auf sich erfährt. Durch diese neue Verknüpfung (Gemeinschaft) gewinnt die Vernunft die Erkenntniß einer zusammenhängenden Natur.
Kant behandelt die Gemeinschaft in der dritten Analogie der Erfahrung und hatte nichts Anderes, als den dynamischen Zusammenhang der Objekte im Auge. Schopenhauer aber wollte die Wechselwirkung in diesem Sinne nicht gelten lassen und eröffnete eine Polemik gegen sie, die an den Kampf Don Quixote’s mit Windmühlen erinnert und durchaus kleinlich ist. Die Wechselwirkung ist kein Begriff a priori; auch kann der Kant’sche Beweis nicht genügen; aber die Sache, um die es sich handelt, hat ihre volle Richtigkeit. Schopenhauer hielt sich an das Wort Wechselwirkung, welches aussagen soll, daß zwei Zustände zweier Körper zugleich Ursache und Wirkung von einander seien. Dies hat aber Kant mit keiner Silbe behauptet. Er sagt nur:
Jede Substanz muß die Causalität gewisser Bestimmungen in der anderen und zugleich die Wirkungen von der Causalität der anderen in sich enthalten,
(Kk. 213.)
etwa wie von zwei Ringenden Jeder drückt und gedrückt wird, ohne daß der Druck des Einen die Ursache des Druckes des Anderen sei und umgekehrt.
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Wir stehen nunmehr vor der wichtigsten Frage der Erkenntnißtheorie. Sie lautet: Ist das Objekt meiner Anschauung das Ding an sich, eingegangen in die Formen des Subjekts, oder giebt mir das Objekt gar keine Berechtigung, ein ihm zu Grunde liegendes Ding an sich anzunehmen?
Die Frage wird gelost durch die Vorfrage: Ist die Ursache einer Veränderung in meinen Sinnesorganen unabhängig vom Subjekt, oder ist die Ursache selbst subjektiven Ursprungs?
Kant machte die Causalität zu einer reinen Denkform a priori, welche nur den Zweck hat, Erscheinungen in ein nothwendiges Verhältniß zu einander zu setzen. Das Empirische der Anschauung ist, nach ihm, einfach gegeben und unabhängig von der Causalität. Die Causalität, welche demnach nur Anwendung finden kann auf Erscheinungen, nur Gültigkeit auf dem Gebiete der Erscheinungen hat, wird vollständig mißbraucht, wenn ich an ihrer Hand dieses |
i438 Gebiet übertrete, um, mit ihrer Hülfe, etwas hinter der Welt als Vorstellung zu erfassen. Haben ja doch alle kritischen Untersuchungen Kant’s den klar ausgesprochenen Zweck, die Grenzen menschlicher Erkenntniß abzustecken, jenseits welcher der »uferlose Ocean« mit seinem »trügerischen Blendwerk« beginnt. Er wird nicht müde, davor zu warnen, diesen Ocean zu befahren, und in vielen Wendungen zu erklären, daß
die reinen Verstandesbegriffe niemals von transscendentalem, sondern jederzeit nur von empirischem Gebrauch sein können.
Trotzdem benutzte er die Causalität gewaltsam, um sich des Dinges an sich bemächtigen zu können, indem er, diesem Gesetze gemäß, von der Erscheinung auf ein Erscheinendes, einen Grund, eine intelligibele Ursache schloß. Er that es, weil er Nichts mehr fürchtete als den Vorwurf, seine Philosophie sei der reine Idealismus, welcher die ganze objektive Welt zu Schein macht und ihr jede Realität nimmt. Die drei Anmerkungen zum ersten Buche der Prolegomena sind, in dieser Hinsicht, sehr lesenswerth. Diese große Inconsequenz kann ich nicht verdammen. Sie war das kleinere von zwei Uebeln, und Kant ergriff es herzhaft. Indessen gewann Kant durch diese Erschleichung des Dinges an sich gar nichts; denn, wie ich oben nachgewiesen habe, ist ein Ding an sich ohne Ausdehnung und ohne Bewegung, kurz ein mathematischer Punkt, für menschliches Denken Nichts.
Nehmen wir nun an, Kant habe das Ding an sich durch ein rechtliches Verfahren gefunden und wir wüßten nur, daß es ist, nicht wie es ist, so würde also das Objekt nichts Anderes sein, als das Ding an sich, wie es den Formen unserer Erkenntniß gemäß erscheint. Oder wie Kant sagt: