i414 Materialen vermengen, um im Trüben fischen zu können, welches Verfahren aber nicht geduldet werden kann. Dies nebenbei.
Die Materie ist nun Obigem zufolge erstens Vereinigung von Raum und Zeit. Was soll das heißen? Raum und Zeit sind, nach Schopenhauer, einfache Formen unseres Erkenntnißvermögens, denen ein Inhalt gegeben werden muß, wenn sie überhaupt etwas sein sollen. Sehr ungeschickt drückt Schopenhauer dieses Letztere in der zweiten Stelle mit den Worten aus: die Materie ist die Wahrnehmbarkeit von Raum und Zeit; denn er hat doch offenbar sagen wollen: durch die Materie werden Raum und Zeit wahrnehmbar. Beide Sätze sind aber durchaus verschieden; denn im ersteren wird etwas über das Wesen der Materie ausgesagt, während im zweiten die Wahrnehmbarkeit des Raumes und der Zeit von der Materie abhängig gemacht wird, deren Wesen dabei ganz unberührt bleibt.
Die bloße Vereinigung zweier reinen leeren Anschauungen soll nun die Materie sein! Wie war es möglich, daß ein eminenter Kopf so etwas hinschreiben konnte. Selbst die extravagante Phantasie der alten aegyptischen Priester und Zarathustra’s hat dem Raume und der Zeit ähnliche Zeugungskraft nicht zugemuthet.
In der 3ten und 4ten Stelle wird bestimmt, daß die Materie nie ohne Qualität auftrete und der Raum ihre Form bedinge. Aber in der 5ten Stelle sollen wir unter dem Begriff der Materie gerade das Gegentheil denken, nämlich das, was von den Körpern übrig bleibt, wenn wir sie ihrer Form und Qualität entkleidet haben! Ferner wird die Materie ohne Weiteres von Raum und Zeit getrennt, in deren Vereinigung sie doch ihr Wesen haben sollte, und ihr Wesen identisch mit der Causalität allein gesetzt, mit der bloßen Wirksamkeit überhaupt, dem reinen Wirken als solchem.
Dann wird plötzlich ihr Wesen nicht mehr in Raum, Zeit und Causalität gesucht, sondern gar in die Vernunft gesetzt. Die Materie wird eine Kant’sche Kategorie, ein reiner Begriff a priori, etwas, das wir als Grundlage zu jeder Realität hinzudenken.
In der 6ten Stelle schließlich läßt sie Schopenhauer nur mit einem Fuße in der Vernunft, mit dem anderen muß sie wieder in den Verstand, um, neben Zeit und Raum, als das dritte rein Formelle, unserem Intellekt Anhängende, zu figuriren. Im Intellekt ist nun allerdings ihr einziger rechtmäßiger und angestammter Sitz, |
i415 aber nicht weil sie identisch mit der Causalität ist, sondern weil ohne sie eine Wirksamkeit gar nicht objektivirt werden könnte.
Auch hat ihr Schopenhauer im Ernste den Platz nicht angewiesen, wie wir gleich sehen werden. Er verjagt sie bald wieder, aber nicht um ihr irgendwo eine bleibende Stätte zu geben, sondern um sie zu einem zweiten »ewigen Juden« zu machen. Nur einmal noch hat er eine Anwandlung, sie im Intellekt unterzubringen. Er nennt sie
die Sichtbarkeit des Willens,
welcher identisch ist mit dem Kant’schen Ding an sich. Indessen springt er auch von dieser Erklärung wieder ab, die jedenfalls eine verfehlte ist, schon deshalb verfehlt, weil ein Blinder hiernach nicht zur Vorstellung materieller Dinge gelangen könnte.
Im Subjekt – das haben wir gesehen – ist für die Materie kein Platz mehr. Vielleicht findet sich eine Unterkunft im Objekt.
Dies ist jedoch, sieht man näher zu, nicht möglich; denn Schopenhauer sagt:
mit einem auf irgend eine Weise bestimmten Objekt ist auch sofort das Subjekt als auf eben solche Weise erkennend gesetzt. Insofern ist es einerlei, ob ich sage: die Objekte haben solche und solche ihnen anhängende und eigenthümliche Bestimmungen; oder: das Subjekt erkennt auf solche und solche Weisen.
(4fache W. 135.)
Ist demnach die Materie keine Anschauungsform, so kann sie sich auch im Objekt nicht zeigen. Trotzdem macht Schopenhauer das Unmögliche, durch einen Gewaltstreich, möglich. Die Materie, die er nicht los werden kann, die ihn unaufhörlich quält und ihm dabei entschieden imponirt, muß doch, da sie im Intellekt keine Wohnung finden kann und Schopenhauer einstweilen noch nicht wagt, sie auf den Thron des Dinges an sich zu setzen, auf irgend eine Weise untergebracht werden. Er spaltet deshalb die Welt als Vorstellung und giebt ihr zwei Kugelpole, nämlich:
das erkennende Subjekt schlechthin, ohne die Formen seines Erkennens, und dann die rohe Materie, ohne Form und Qualität.
(W. a. W. u. V. II. 18.)
Hierdurch aber hatte er sich in das Fahrwasser des Materialismus begeben und das Ziel seiner Fahrt ist, schon von hier aus, |
i416 erkennbar. Man lese das ganze erste Capitel des gedachten Bandes, worin auch die bedenkliche Stelle vorkommt:
Es ist ebenso wahr, daß das Erkennende ein Produkt der Materie sei, als daß die Materie eine bloße Vorstellung des Erkennenden sei,
und man wird das Folgende ahnen.
Und, in der That, es geht rasend schnell abwärts. Auch auf dem Kugelpol der Welt als Vorstellung gefällt ihm die Materie nicht lange. Er scheucht sie von dieser Stelle auf und legt sie zwischen die Welt als Vorstellung, deren einer Kugelpol sie vorher war, und den Willen, d.h. zwischen die Erscheinung und das Erscheinende, das Ding an sich, welche eine »tiefe Kluft, ein radikaler Unterschied« trennt. Sie wird das Band der Welt als Wille mit der Welt als Vorstellung (W. a. W. u. V. II. 349).
Jetzt sind nur noch zwei Schritte möglich, und Schopenhauer macht sie beide. Er erklärt die Materie zuerst für quasi-identisch mit dem Willen, dann verdrängt er den Willen ganz durch die Materie.
Daß die Materie für sich nicht angeschaut oder vorgestellt werden kann, beruht darauf, daß sie an sich selbst und als das reine Substanzielle der Körper eigentlich der Wille selbst ist.
(W. a. W. u. V. II. 351.)
und:
Wollen die Herren absolut ein Absolutum haben, so will ich ihnen eines in die Hand geben, welches allen Anforderungen an ein solches viel besser genügt, als ihre erfaselten Nebelgestalten: es ist die Materie. Sie ist unentstanden und unvergänglich, also wirklich unabhängig und quod per se est et per se concipitur: aus ihrem Schooß geht Alles hervor und Alles in ihn zurück.
(W. a. W. u. V. I. 574.)
Ich bin zu Ende. Gäbe es in der Philosophie außer Subjekt, Objekt und Ding an sich noch etwas, so würde Schopenhauer die Materie hineingebracht haben. Er beginnt im Subjekt mit Raum und Zeit; dann setzt er die Materie in die Zeit und Causalität; dann in den Raum und die Causalität; dann in die Causalität allein; dann setzt er sie halb in den Intellekt, halb in die Vernunft; dann ganz in die Vernunft; dann ganz |
i417 ist den Intellekt; dann, als Correlat des Intellekts, auf den diesem entgegensetzten Pol der Welt als Vorstellung, dann zwischen Welt als Vorstellung und Welt als Wille; dann macht er sie mit dem Willen quasi-identisch; schließlich hebt er sie allein auf den Thron des Dinges an sich.
Bei keiner Ansicht ist Schopenhauer geblieben; er wechselt oft und huldigt zuweilen mehreren Ansichten in einem Capitel. Deshalb ist die Materie ein unstät und flüchtig wanderndes Gespenst in seinen Werken, welches immer verschwindet, wann man es erfaßt zu haben glaubt, und in neuer Form auftritt. In seinen letzten Jahren scheint Schopenhauer indessen bei der Erklärung: die Materie sei die Sichtbarkeit des Willens stehen geblieben zu sein. Ich habe bereits gezeigt, wie unstatthaft diese Einschränkung der Materie auf solche Willensobjektivirungen ist, welche auf dem Gesichtssinn beruhen. Vollends bedenklich aber ist, wie er die Sichtbarkeit einführt. Man sollte meinen, daß die Materie, als Sichtbarkeit des Willens, ganz in das Subjekt fallen müsse. Doch nein! Sie ist
die Sichtbarkeit des Willens, oder das Band der Welt als Wille mit der Welt als Vorstellung.
Sie fällt also entweder gar nicht in’s Subjekt, oder steht mit einem Fuße im Subjekt und mit dem anderen im Dinge an sich. Und hier liegt auch der Quell aller falschen Ansichten Schopenhauer’s von der Materie. Er konnte sich, so viele Anläufe er auch dazu nahm, nie entschließen, die Materie voll und ganz, als eine Verstandesform, in das Subjekt zu legen. Weil er die Materie nicht vom Willen trennen konnte, sondern beide, im Grunde seines Denkens, vom erkennenden Subjekt unabhängig machte, verdunkeln und verzerren sie sich gegenseitig, und besonders vom Willen gewinnt man nie ein durchaus klares Bild. Man lese das 24te Capitel des 2ten Bandes der W. a. W. u. V. und man wird mir zustimmen. Ich kenne keine widerspruchsvollere Schrift. Die meisten von mir angeführten Erklärungen spiegeln sich darin ab und die Verwirrung ist unbeschreiblich. Er spricht offen darin aus,
daß die Materie nicht so gänzlich und in jeder Hinsicht dem formalen Theil unserer Erkenntniß angehört, wie Raum und Zeit, sondern zugleich ein nur a posteriori gegebenes Element enthält.
i418 In diesem Capitel sagt er auch, daß die Materie eigentlich (!) der Wille selbst sei. Wie lichtvoll würde seine Philosophie geworden sein, wenn er das einzig Richtige gethan, nämlich Materie und Willen total von einander getrennt, jene in unseren Kopf, diesen außerhalb unseres Kopfes gesetzt hätte.
Kant ist, in Betreff der Materie, frei von Inconsequenzen. Ist die Materie bei ihm auch keine Form der Sinnlichkeit, wie Raum und Zeit, so liegt sie doch ganz im Subjekt. Einige schönen Stellen aus der I. Auflage der Kritik will ich anführen:
Die Materie ist gar kein Ding an sich selbst, sondern nur eine Art Vorstellung in uns.
(668.)
Die Materie ist nichts Anderes, als eine bloße Form, oder eine gewisse Vorstellungsart eines unbekannten Gegenstands, durch diejenige Anschauung, welche man den äußeren Sinn nennt.
(685.)
Es mag wohl etwas außer uns sein, dem diese Erscheinung, welche wir Materie nennen, correspondirt; aber in derselben Qualität als Erscheinung ist es nicht außer uns, sondern lediglich als ein Gedanke in uns, obwohl dieser Gedanke durch genannten Sinn es als außer uns befindlich vorstellt.
(685.)
Alle Schwierigkeiten, welche die Verbindung der denkenden Natur mit der Materie treffen, entspringen ohne Ausnahme lediglich aus jener erschlichenen dualistischen Vorstellung: daß Materie als solche nicht Erscheinung, d.i. bloße Vorstellung des Gemüths, der ein unbekannter Gegenstand entspricht, sondern der Gegenstand an sich selbst sei, so wie er außer uns und unabhängig von aller Sinnlichkeit existirt.
(689.)
Trotz dieser bestimmten Erklärung, daß die Materie in uns liege, konnte sich Kant nicht dazu verstehen, sie zu einer Form der Sinnlichkeit, wie Raum und Zeit, zu machen. Die Gründe liegen zu Tage. Erstens mußten die Formen der Sinnlichkeit reine Anschauungen sein. Dieses Gepräge kann man aber schlechterdings der Materie nicht geben. Zweitens hätten dadurch die »bloßen Empfindungen« einen transscendentalen Grund bekommen, d.h. sie würden
nothwendige Bedingungen geworden sein, unter welcher die Gegen|stände
i419 allein für uns Objekte der Sinne werden können. Sie sind aber nur als zufällig beigefügte Wirkungen der besonderen Organisation mit der Erscheinung verbunden.
(Kk. 68.)
Dies ist jedoch falsch. Es ist dasselbe, als ob ich sagen wollte: weil es Mißgeburten und Wahnsinnige giebt, kann die Idee des Menschen nicht festgestellt werden. Betrachten wir zuerst die Farben. Alle Menschen mit normaler Organisation des Auges werden einen rothen, grünen, blauen Gegenstand als roth, grün, blau bezeichnen. Daß es Einzelne giebt, welche gewisse Farben nicht von einander unterscheiden können, ja deren Retina überhaupt nicht die Fähigkeit hat, sich qualitativ zu theilen, ist von gar keiner Bedeutung; denn auf irgend eine Weise muß die Oberfläche eines Körpers immer einen Eindruck hervorbringen. Bleiben wir bei einem Menschen stehen, welcher wirklich Alles farblos sieht, so hat doch seine Retina wenigstens die Fähigkeit, sich intensiv zu theilen, d.h. er wird Hell und Dunkel und die Abstufungen zwischen beiden Extremen unterscheiden. Ein Objekt, das einem normal organisirten Menschen gelb erscheint, wird für ihn hell, ein blaues dunkler als das gelbe sein u.s.w., immer aber wird er Eindrücke haben, denen gemäß er dem Objekte bestimmte Eigenschaften zuschreibt, und dasselbe Objekt wird ihm nothwendig, bei gleicher Beleuchtung, mit derselben Oberfläche immer erscheinen. Nicht darum handelt es sich, daß Alle von einem farbigen Objekt dieselbe Vorstellung haben, sondern darum, daß sie die Oberfläche überhaupt wahrnehmen können, daß sie ihnen sichtbar wird, kurz daß der Gegenstand materiell für sie wird. Dies kann er aber nur dann werden, wenn der Verstand außer dem Raume – dieser giebt nur den Umriß – noch eine zweite Form, die Materie, zu Hülfe nehmen kann. Jetzt erst ist das Objekt fertig, d.h. seine ganze Wirksamkeit, so weit sie Eindrücke auf den Gesichtssinn macht, ist objektivirt.
Gehen wir zum Tastsinn über, so kommt es ebenfalls nur darauf an, daß ich einen bestimmten Eindruck vom Gegenstand erhalte. Der Eine wird vielleicht hart nennen, was ich weich finde; aber daß ich überhaupt den Gegenstand hart, der Andere ihn weich findet, das beruht auf der Verstandesform Materie, ohne welche der bestimmte Eindruck im Sinne niemals auf das Objekt übertragen werden könnte.
i420 Dasselbe gilt vom Gehörs-, Geruchs- und Geschmackssinn. Wenn diese Sinne einen bestimmten Eindruck empfangen, so kann ihn das Subjekt nur vermittelst der Materie (resp. der Substanz, von der ich später reden werde) auf ein Objekt übertragen. Es ist hierbei ganz gleichgültig, ob mir z.B. ein Wein schmeckt, der einen Weinkenner anwidert.
Allgemein ausgedrückt, ist also die Materie diejenige Verstandesform, welche die besondere und speziell bestimmte Wirkungsart eines Körpers objektivirt. Ohne sie wäre uns die Außenwelt, trotz Sinne, Causalitätsgesetz und Raum, immer verschlossen. Alle Wirksamkeiten, alle Kräfte müssen erst materiell (substanziell) werden, ehe sie für uns irgend etwas sind. Schopenhauer hat Recht, daß die Materie der Träger der Kräfte und für unsere Erkenntniß das Vehikel der Qualitäten und Naturkräfte ist, aber wohlverstanden: sie ist im Kopf, die Kraft bleibt draußen und unabhängig vom Kopfe. Jede Kraft ist für unsere Erkenntniß Stoff, und im Objekt sind beide nicht von einander zu trennen. Aber die Kraft ist, unabhängig vom Subjekt, nicht Stoff: sie ist nur Kraft, oder der genialen Lehre Schopenhauer’s gemäß, nur Wille.
Hier sei bemerkt, daß der vortreffliche Locke sich auf dem richtigen Wege zur Wahrheit befand, aber, sie in der Ferne erblickend, gleichsam betäubt wurde. Anstatt nämlich die von ihm so scharfsinnig vom Dinge an sich abgetrennten sekundären Eigenschaften im Begriff Materie zusammenzufassen und das Ding an sich als reine Kraft zu bestimmen, ließ er sie als bloße Sinnesempfindungen herumirren und machte die Materie zum Dinge an sich. Er stellte die Sache auf den Kopf.
—————
Es ist hier der richtige Ort, ein Verdienst Schopenhauer’s hervorzuheben, was ich um so lieber thue, als dadurch am besten der peinliche Eindruck verwischt wird, den sein fruchtloser Kampf mit der Materie auf uns machen mußte: nämlich die wahre Theorie der Farbe geliefert zu haben. Er that es in seiner vortrefflichen Schrift: »Ueber das Sehn und die Farben«, die ich zu dem Bedeutendsten zähle, was je geschrieben worden ist.
Goethe hatte sein wohlbegründetes Urphänomen, nämlich die Thatsache, daß die Farben nicht im weißen Lichte enthalten (Newton’sche |
i421 Theorie), sondern das Produkt von Licht und Finsterniß, etwas Schattenhaftes sind, dem Philosophen zur weiteren Untersuchung vermacht. Schopenhauer nahm das schöne Vermächtniß an und gab dem Goethe’schen Werke die ausreichendste Ergänzung, indem er nachwies, daß die zur Hervorbringung der Farbe nothwendige Trübe auf subjektivem Boden entsteht, nämlich vom Auge selbst erzeugt wird. Ihr entspricht ein objektives skieron, das ich berühren werde.
Es kann nicht meine Absicht sein, hier einen Auszug aus der schönen Abhandlung zu geben. Nur ihre Hauptgesichtspunkte muß ich hervorheben und einen großen Fehler aus ihr entfernen.
Schopenhauer geht von der dem Auge eigenthümlichen Reaction auf äußeren Reiz aus, welche er Thätigkeit der Retina nennt. Das die volle Einwirkung des Lichts empfangende Auge äußert die volle Thätigkeit der Retina. In der Finsterniß ist die Retina unthätig. Die volle Thätigkeit der Retina kann aber gradweise vermindert werden, und nennt Schopenhauer die Möglichkeit solcher Grade überhaupt (zwischen weiß und grau einerseits, grau und schwarz andererseits) die intensive Theilbarkeit der Thätigkeit der Retina. Neben dieser geht die extensive Theilbarkeit, da die Retina ein ausgedehntes Organ ist und die verschiedenartigsten Eindrücke neben einander empfangen kann.
Von diesen beiden Arten ist eine dritte, die qualitative Theilbarkeit, toto genere verschieden, und auf ihr beruhen die Farben. Es kann nämlich ein bestimmter Reiz derartig auf die Retina wirken, daß ihre volle Thätigkeit in zwei Hälften auseinander tritt, von denen nur eine activ ist, während die andere ruht. Die Ruhe des einen Theils ist nun das von Goethe geforderte skieron und die aktive Hälfte bringt die Farbe hervor. Je näher diese Hälfte der vollen Thätigkeit der Retina kommt, d.h. je größer sie ist, desto heller, dem Weißen näher, wird die Farbe sein, und je kleiner sie ist, desto dunkler, dem Schwarzen näher, wird die Farbe sein.
Schopenhauer erläutert seine Theorie an den physiologischen Farben vollkommen überzeugend. Die Retina hat den Trieb, ihre Thätigkeit stets ganz zu äußern; deshalb wird, wenn irgend einer der in Rede stehenden Reize aufhört, die zur Ruhe verurtheilte Hälfte von selbst in Thätigkeit übergehen und das sogenannte Spectrum erzeugen. Beide, die erste Farbe und das Spectrum, |
i422 als die getrennten qualitativen Hälften der vollen Thätigkeit der Retina, sind, zusammengenommen, dieser gleich und in diesem Sinne ist jede das Complement der anderen. Gelb fordert Violett, Orange Blau, Roth Grün. Diese 6 Farben sind
feste und ausgezeichnete Punkte im sonst völlig stetigen und unendlich nüancirten Farbenkreise.
Wie ihnen, so wird jeder Farbennüance
nach ihrer Erscheinung, ihr im Auge zurückgebliebenes Complement zur vollen Thätigkeit der Retina, als physiologisches Spectrum nachfolgen.
Den Unterschied zwischen intensiver und qualitativer Theilbarkeit der Thätigkeit der Retina vergleicht Schopenhauer sehr treffend mit dem zwischen mechanischer Mengung und chemischer Vereinigung. Er sagt:
In Folge des Unterschiedes zwischen bloß intensiver und qualitativer Thätigkeit der Retina können wir ganz füglich den Halbschatten und das Grau gleichnißweise eine bloß mechanische, wenngleich unendlich feine Mengung des Lichts mit der Finsterniß nennen; hingegen die, in der qualitativ partiellen Thätigkeit der Retina bestehende Farbe, als eine chemische Vereinigung und innige Durchdringung des Lichts und der Finsterniß ansehen: denn beide neutralisiren hier gleichsam einander und indem jedes seine eigene Natur aufgiebt, entsteht ein neues Produkt, das mit jenen beiden nur noch entfernte Aehnlichkeit, dagegen hervorstechenden, eigenen Charakter hat.
(Seite 38.)
Nimmt man nun die volle Thätigkeit der Retina =1 (weiß), so muß jede aktive Hälfte der qualitativ getheilten Thätigkeit ein Bruchtheil von 1 sein. Schopenhauer bestimmt diese Brüche und stellt folgendes Schema auf:
Schwarz Violett Blau Grün Ü Roth Orange Gelb Weiß
0 1/4 1/3 1/2 Ü 1/2 2/3 3/4 1
Ü Ü ÝôôôôÞôôôôß Ü Ü
Ü Ü Ü Ü Ü
Ü ÝôôôôôôôôôôÞôôôôôôôôôôß Ü
Ü Ü Ü
ÝôôôôôôôôôôôôôôôôÞôôôôôôôôôôôôôôôôß
Roth und Grün theilen hiernach die volle Thätigkeit der Retina ganz gleichmäßig, Orange ist 2/3und sein Complement Blau 1/3, |
i423 Gelb ist 3/4und sein Complement Violett 1/4der vollen Thätigkeit. Jedes der drei Farbenpaare bildet 1: die volle Thätigkeit der Retina.
Diese Verhältnisse lassen sich freilich vor der Hand nicht beweisen und müssen insofern sich gefallen lassen hypothetisch zu heißen: allein aus der Anschauung erhalten sie eine so entschiedene, unmittelbare Bewährung und Ueberzeugungskraft, daß schwerlich Jemand sie im Ernst und aufrichtig ableugnen wird.
(30.)
Ich muß dies jedoch in Betreff von Grün und Roth ganz entschieden thun; die beiden anderen Farbenpaare lasse ich unangetastet.
Es wird Jedem sofort einleuchten, daß zwei so durch und durch verschiedene Farben, wie Roth und Grün, nicht gleiche Hälften der Thätigkeit der Retina sein können. Abgesehen davon, daß Grün viel dunkler als Roth ist, weshalb es Goethe, wie auch selbst Schopenhauer, auf die negative Farbenseite mit Blau und Violett stellt, so ist es schlechterdings undenkbar, daß genau dieselbe Veränderung im Sinnesorgan das eine Mal Roth, das andere Mal Grün hervorbringen soll. Wäre es nicht geradezu ein Wunder, daß ich z.B. einen Gegenstand, dessen Reiz in mir die rothe Farbe erweckt, jahraus, jahrein immer roth sehe, nie grün, während er doch, wie ein grüner, genau dieselbe Veränderung in der Retina bewirkt? Wie kommt es, angenommen die angeführten Brüche seien richtig, daß Roth immer ein grünes Spectrum, Grün immer ein rothes hat? Konnte Roth nicht auch einmal ein rothes Spectrum haben, da Roth und Roth, so gut die volle Thätigkeit der Retina wären, wie Roth und Grün?
Es ist mir durchaus unbegreiflich, wie Schopenhauer die baare Unmöglichkeit der Sache übersehen konnte, die doch Jedermann sofort bemerken muß. Die einfachen Brüche müssen ihn verlockt haben.
Das Schema kann mithin nicht bestehen bleiben, und setze ich an seine Stelle das folgende:
Negative Seite Positive Seite
Schwarz Violett Blau Grün Ü Roth Orange Gelb Weiß
0 3/12 4/12 5/12 Ü 7/12 8/12 9/12 1
Ü Ü ÝôôôôÞôôôôß Ü Ü
Ü Ü Ü Ü Ü
Ü ÝôôôôôôôôôôÞôôôôôôôôôôß Ü
Ü Ü Ü
ÝôôôôôôôôôôôôôôôôÞôôôôôôôôôôôôôôôôß
i424 Mit Ausnahme des neuen Verhältnisses zwischen Grün und Roth, ist das Schema genau dasselbe wie das Schopenhauer’s. Jetzt erst ist klar, warum Roth ein grünes Spectrum immer nothwendigerweise hat und umgekehrt und warum das energischeste Grün stets matter und weniger ermüdend ist als Roth. Jetzt steht Grün mit Recht auf der minus-Seite, auf die es Schopenhauer ohne allen Grund brachte.
Die Rationalität und Einfachheit der sich aus den folgenden Betrachtungen ergebenden Zahlenverhältnisse mögen für das Schema sprechen.
1) Die Plusseite macht zusammen 36/12= 3;
die Minusseite ,, ,, 12/12= 1.
Weiß, Gelb, Orange und Roth bringen demnach, zusammengestellt, einen dreimal stärkeren Effekt hervor als Schwarz, Violett, Blau und Grün, was gewiß auch der Fall ist. Maler mögen übrigens entscheiden.
2) Die chemischen drei Grundfarben sind Roth, Gelb und Blau.
Roth ist gleich 7/12Thätigkeit der Retina und fordert, als Complement, Gelb und Blau oder +9/12und –4/12. Vom positiven Bruch geht der negative ab und es verbleiben
5/12= Grün;
Gelb = 9/12fordert Roth und Blau oder +7/12und –4/12. Nach Abzug des negativen Bruchs verbleiben
3/12= Violett;
Blau = 4/12fordert Gelb und Roth oder +9/12und +7/12. Da beide Farben auf der Plusseite stehen, so ist eine Subtraction nicht möglich; es muß also addirt und die Summe durch 2 dividirt werden. Summe 16/12durch 2 dividirt
= 8/12= Orange.
Hierzu ist zu bemerken: jede Farbe und ihr Complement stehen in einem polaren Gegensatze, wie Schopenhauer sehr hübsch ausgeführt hat. Sie sind eben nur durch diesen Gegensatz. Sie streben nach Vereinigung oder besser: die Retina hat den Trieb, ihre volle Thätigkeit zu äußern. Deshalb wird jedes der drei Farbenpaare, im prismatischen Versuch, wenn eine Farbe über die andere gebracht wird, Weiß erzeugen, d.h. die Retina wird dadurch in die volle Thätigkeit zurückgebracht. Was aber Schopenhauer |
i425 übersehen hat, ist erstens der strenge Antagonismus, der zwischen der negativen Grundfarbe Blau einerseits und den positiven Grundfarben Gelb und Roth andererseits herrscht, zweitens das eigenthümliche Verhältniß, in dem die Farben je einer Seite zu einander stehen.
Schopenhauer beruft sich, um zu erklären, daß Violett die dunkelste aller Farben ist, obgleich es aus zwei helleren als es selbst ist entsteht, auf die Chemie, wo sich aus den Bestandtheilen die Qualität der Verbindung nicht vorhersagen lasse. Die Sache liegt indessen einfacher.
Kommt Roth und Blau zusammen, so entsteht ein Kampf, der damit endigt, daß Blau vollständig ohnmächtig gemacht, neutralisirt, gleichsam gebunden wird. Hierzu ist gerade so viel Kraft nöthig, als Blau hat, Roth verliert also 4/12seiner freien Energie und diese sinkt auf
3/12= Violett.
Der gleiche Kampf entbrennt, wenn Gelb zu Blau tritt. Gelb verliert ebenfalls 4/12und seine Energie beträgt nur
5/12= Grün.
Die zusammengesetzten Farben der Minusseite, Violett und Grün, stehen nicht im selben Antagonismus zu den positiven Farben. Um mich eines scherzhaften Gleichnisses zu bedienen, sind sie wie Söhne, welche sich mit ihrem Vater überwarfen haben und zu seinen Gegnern übergegangen sind, aber im Grunde des Herzens sich immer nach der Heimath zurücksehnen; denn im negativen Violett ist das positive Roth, im negativen Grün das positive Gelb. Blau steht zwar mit Violett und Grün im innigsten Bündniß, aber diese macht eben ihr Ursprung schwach. Die negative Seite besteht aus nur einer Grundfarbe, dem tapferen Blau, und zwei, gleichsam in Nothzucht erzeugten, zusammengesetzten Farben; die positive dagegen aus zwei Grundfarben, Gelb und Roth, und einer, gleichsam legitim erzeugten, zusammengesetzten Farbe, Orange, was dieser Seite eben die Uebermacht (3:1) giebt.
Das Schema darf hiernach nicht mißbraucht werden, um durch beliebige Zusammenstellung von plus- und minus-Farben irgend eine abgeleitete Farbe, wohl gar die Grundfarbe Blau selbst, zu erzeugen. Es kann nur dazu dienen, wie oben, die Entstehung der drei zusammengesetzten Farben aus den drei Grundfarben zu er|läutern;
i426 denn absoluter Antagonismus besteht nur zwischen Blau einerseits und Roth und Gelb andererseits.
Was nun das eigenthümliche Verhältniß betrifft, in dem die Farben je einer Seite zu einander stehen, so ist es das der gegenseitigen liebevollen Unterstützung. Vereinigen sie sich, so giebt die hellere, ohne Kampf, der dunkleren von ihrer Energie einen Theil ab und die neue Farbe liegt in der Mitte. Dieses Verhältniß beherrscht nun unser Schema so ausnahmslos, daß selbst die Grundfarbe Blau, weil sie auf der negativen Seite zwischen Violett und Grün steht, aus diesen zwei zusammengesetzten Farben erzeugt werden kann. Man kann sich hiervon durch einen sehr einfachen Versuch überzeugen. Man betrachte durch ein grünes Glas irgend einen violetten Gegenstand (ein seidenes Band, die Rückseite eines Buches u.s.w.) und man wird ihn wunderschön blau sehen. Das Grün giebt von seiner größeren Energie an das Violett ab und das Produkt ist blau