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Analytik des Erkenntnißvermögens. 30 page

Auf diese successive Synthesis der productiven Einbildungskraft in der Erzeugung der Gestalten gründet sich die Mathematik der Ausdehnung (Geometrie) mit ihren Axiomen.

(Kk. 176.)

woran er die Anwendung der reinen Mathematik in ihrer ganzen Präcision auf Gegenstände der Erfahrung knüpft.

Wir wollen indessen von allem Dem absehen und untersuchen, wie Raum und Zeit, als Anschauungen, entstehen. Kant sagte in einer der angeführten Stellen der ersten Auflage der Kritik:

Raum und Zeit können nur durch die Synthesis des Mannigfaltigen, welches die Sinnlichkeit in ihrer ursprünglichen Receptivität darbietet, erzeugt werden.

Was ist dieses Mannigfaltige der ursprünglichen Receptivität der Sinnlichkeit? Daß wir es mit einer Verbindung vor aller Erfahrung zu thun haben, ist klar; denn es wäre die Erschütterung der Kantischen Philosophie in ihren Grundfesten, wenn der Raum, den wir zuerst betrachten wollen, die Verbindung eines a posteriori |

i389 gegebenen Mannigfaltigen wäre. Aber wie soll es denn nur möglich sein, daß er die Verbindung eines Mannigfaltigen a priori sei? Welche Räumlichkeit, als Einheit, bietet denn a priori die Sinnlichkeit der Einbildungskraft dar, damit der unendliche Raum durch unaufhörliche Zusammensetzung entstehe? Ist diese Einheit ein Kubikzoll? ein Kubikfuß, eine Kubikruthe, Kubikmeile, Kubik- Sonnenweite, Kubik- Siriusweite? Oder handelt es sich um gar keine Einheit und sind es vielmehr die verschiedenartigsten Räumlichkeiten, die die Einbildungskraft zusammensetzt?

Kant schweigt darüber!

A posteriori hat die Verbindung gar keine Schwierigkeit. Da habe ich zunächst das ungeheuere Luftmeer, welches sich der Einbildungskraft darbietet. Wer denkt denn daran, daß sich in ihm eine Kraft manifestire? Es wäre ein plumper Einwand! Luft und Raum sind Wechselbegriffe. Der größte Denker, wie das bornirteste Bäuerlein, spricht vom Raume, den ein Haus, eine Stube enthält; Kant setzt an die Spitze seiner »Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft«: »die Materie ist das Bewegliche im Raume«; der Dichter läßt den Adler »raumtrunken« seine Kreise ziehen; und die Einbildungskraft allein sollte bedenklich sein? Nein! Zu dem Raum, den ihr die Luft darbietet, fügt sie die Räumlichkeiten der Häuser, Bäume, Menschen, der ganzen Erde, der Sonne, des Mondes und aller Sterne, welche das denkende Subjekt vorher von jeder sie erfüllenden Wirksamkeit gereinigt hat. Nun setzt sie an die gewonnene ungeheuere Räumlichkeit eine ähnliche und so fort in’s Unendliche; ein Stillstand ist unmöglich, denn es giebt keine Grenzen im Fortgang.

A posteriori läßt sich also, mit offenen oder geschlossenen Augen, ein unendlicher Raum construiren, d.h. wir haben nie ein Ganzes, sondern nur die Gewißheit, daß wir im Fortgang der Synthesis niemals auf ein Hinderniß stoßen werden.



Aber sind wir denn zu dieser Composition berechtigt? Noch nicht die reine Räumlichkeit einer Kubiklinie kann uns a posteriori d.h. durch die Erfahrung geliefert werden. Die kleinste Räumlichkeit, wie die größte, entsteht nur dadurch, daß ich die sie erfüllende Kraft wegdenke, und sie ist ein Produkt, unter welches die Natur nie ihr Siegel drücken wird. Wo ein Körper aufhört zu wirken, beginnt ein anderer mit seiner Wirksamkeit. Mein Kopf ist nicht im |

i390 Raume, wie Schopenhauer einmal bemerkt, sondern in der Luft, die ganz gewiß nicht mit dem Raume identisch ist. Ebenso ist die Materie nicht das Bewegliche im Raume, sondern es bewegen sich Stoffe in Stoffen und die Bewegung ist überhaupt nur möglich wegen der verschiedenen sogenannten Aggregatzustände der Körper, nicht weil ein unendlicher Raum die Welt umfaßt.

Wäre die Welt nur aus festen Stoffen zusammengesetzt, so würde eine Bewegung in ihr nur durch gleichzeitige Verschiebung aller Körper möglich sein, und die Vorstellung eines Raumes würde nie im Kopfe eines Menschen entstehen. Schon eine Bewegung im flüssigen Elemente faßt Niemand als eine Bewegung im Raume auf. Wir sagen nicht: die Fische schwimmen im Raume, sondern: sie schwimmen im Wasser. Der unbegrenzte Blick in die Weite und die auf Abwege gerathene Vernunft (perversa ratio) sind die Erzeuger des unendlichen Raumes. In der Welt sind nur Kräfte keine Räumlichkeiten, und der unendliche Raum existirt so wenig, wie die allerkleinste Räumlichkeit.

Es ist sehr merkwürdig, daß in der Vor-Kantischen Zeit, wo man den Dingen den Raum ohne Weiteres zusprach, dieser Sachverhalt von Scotus Erigena schon ganz richtig erkannt wurde. Seine Welt liegt zwar im unendlichen Raume, der Alles enthält, der sich nicht bewegt, aber innerhalb der Grenzen der Welt giebt es keinen Raum: da giebt es nur Körper in Körpern. Hieran ändert der Umstand Nichts, daß Scotus hie und da den Raum wieder in die Welt bringt; er hatte eben nicht den kritischen Kopf Kant’s, und die Schwierigkeit der Untersuchung, auch heutzutage noch, wird Niemand verkennen. (Uebrigens wirft Scotus sogar einmal die Bemerkung hin, daß der Raum nur im Geiste des Menschen bestehe.) Er sagt in seinem Werke: De Divisione Naturae:

Discipulus. Quid igitur dicendum est de his, qui dicunt, habitationes hominum ceterorumque animalium locos esse? similiter istum communem aera, terram quoque, omnium habitantium in eis locos aestimant? aquam locum piscium dicunt, planetarum aethera, spheram caelestem astrorum locum esse putant?

Magister. Nihil aliud, nisi ut aut suadeatur eis, si disciplinabiles sint et doceri voluerint, aut penitus dimittantur, si contentiosi sint. Eos enim, qui talia dicunt, vera deridet ratio.

(Cap. 29.)

i391 Videsne itaque, quomodo praedictis rationibus confectum est, hunc mundum cum partibus suis non esse locum, sed loco contineri, hoc est, certo definitionis suae ambitu?

(Cap. 33.)

Quid restat, nisi ut dicamus, verbi gratia, dum videmus corpora nostra in hac terra constituta, vel hoc aere circumfusa, nil aliud nisi corpora in corporibus esse? Eadem ratione pisces in fluctibus, planetae in aethere, astra in firmamento, corpora in corporibus sunt, minora in majoribus, crassiora in subtilioribus, levia in levioribus, pura in purioribus.

(Cap. 35.)

Der freie unbegrenzte Blick durch das absolut durchsichtige Element ist also die Ursache, daß Jeder, der genialste, wie der beschränkteste Mensch,

sich niemals eine Vorstellung davon machen kann, daß kein Raum sei, ob er sich gleich ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände darin angetroffen werden.

Indessen, wir wollen nicht voreilig urtheilen. Sollten die Luft und die perverse Vernunft wirklich hinreichen, den unendlichen Raum zu erzeugen? Gewiß nicht! Nur auf Grund einer apriorischen Form können sie es. Welche ist aber diese? Wir werden sie gleich finden.

Jetzt müssen wir erst zur Frage zurückkehren, ob der Raum die Verbindung eines Mannigfaltigen a priori sein könne? Wir haben bereits gesehen, daß uns Kant völlig im Unklaren darüber läßt, welche Theile des Raumes a priori zu verbinden sind. Wir fragen also: Kann überhaupt vor aller Erfahrung die Vorstellung irgend einer Räumlichkeit in uns sein, oder mit anderen Worten, können wir zur Anschauung irgend einer Räumlichkeit gelangen, ehe wir Gegenstände gesehen oder befühlt haben? Die Antwort hierauf ist: nein! es ist nicht möglich. Der Raum liegt entweder als reine unendliche Anschauung, vor aller Erfahrung, in mir, oder er wird a posteriori, auf empirischem Wege, gefunden; denn es ist ebenso schwer die allerkleinste Räumlichkeit, als reine Anschauung a priori, in die Sinnlichkeit zu legen, wie den unendlichen Raum. Ist dies aber der Fall, so wäre es die thörichteste Quälerei, erst durch Synthesis gleichartiger Theile mühevoll zu erlangen, was ich als Ganzes sofort haben kann.

i392 Hierin liegt auch der Grund, warum Kant den Raum in der transscendentalen Aesthetik ohne Weiteres als reine Anschauung hinstellt und ihn nicht erst durch eine Verbindung von Räumen entstehen läßt, wodurch außerdem die Synthesis in die Sinnlichkeit gekommen wäre, während sie nur eine Function des Verstandes, resp. der blinden Einbildungskraft sein soll.

Ist nun der unendliche Raum nur durch die Synthesis eines a priori gegebenen Mannigfaltigen zu erzeugen; ist es dagegen ebenso unmöglich einen Theilraum vor aller Erfahrung in uns vorzufinden, wie den ganzen Raum, so folgt, daß der unendliche Raum a priori gar nicht erzeugt werden kann, daß es keinen Raum, als reine Anschauung a priori, giebt.

Ich fasse zusammen: Es giebt, unseren Untersuchungen gemäß, weder einen unendlichen Raum außerhalb meines Kopfes, in welchem die Dinge eingeschlossen wären, noch giebt es einen unendlichen Raum in meinem Kopfe, der eine reine Anschauung a priori wäre. Ebenso giebt es keine Einschränkungen des Raums, Räumlichkeiten, außerhalb meines Kopfes. Dagegen giebt es einen unendlichen Raum in meinem Kopf (erlangt durch Synthesis eines a posteriori gegebenen Mannigfaltigen, von dessen Wirksamkeit abstrahirt wurde), welcher nach außen verlegt wird. Ich habe also einen auf empirischem Wege, von der perversen Vernunft gewonnenen unendlichen Phantasieraum. Ebenso habe ich dessen Einschränkungen, also Räumlichkeiten von beliebiger Größe, Phantasieräume.

Kant hat demnach in der transcendentalen Aesthetik, wie ich auf der ersten Seite dieser Kritik gleich bemerkte, nichts weiter gethan, als den nach außen verlegten Phantasieraum, der gewöhnlich für einen unabhängig vom Subjekt existirenden objektiven Raum gehalten wird, definitiv in unseren Kopf versetzt. Hierdurch hat er die Dinge an sich vom Raume befreit, was eben sein unsterbliches Verdienst ist. Sein Fehler war, daß er bestritt, der unendliche Raum sei empirischen Ursprungs, und daß er ihn, als reine Anschauung, vor aller Erfahrung, in unsere Sinnlichkeit legte. Ein zweites Verdienst ist, daß er in der transscendentalen Analytik den Raum als Form vom Raume als Gegenstand (reine Anschauung) unterschied. Verwickelte er sich auch dadurch in einen unlösbaren Widerspruch mit der Lehre der transscendentalen Aesthetik, so zeigte |

i393 er doch, daß er das Problem des Raumes bis zum Grunde durchschaut hatte und gab etwaigen Nachfolgern einen unschätzbaren Hinweis auf den richtigen Weg. Diesem Hinweise wollen wir jetzt folgen.

Was ist der Raum, als Form der Anschauung, die (wir bleiben einstweilen noch im Gedankengange Kant’s) a priori in unserer Sinnlichkeit liegt?

Negativ ist die Frage bereits beantwortet: der Raum, als Form der Anschauung, ist nicht der unendliche Raum. Was ist er nun? Er ist, allgemein ausgedrückt, die Form, wodurch Gegenständen die Grenze ihrer Wirksamkeit gesetzt wird. Dadurch ist er die Bedingung der Möglichkeit der Anschauung und seine Apriorität über allen Zweifel festgestellt. Wo ein Körper aufhört zu wirken, da setzt ihm der Raum die Grenze. Zwar könnte auch die specielle Wirksamkeit eines Körpers (seine Farbe) ihm die Grenze setzen (vom Getast sehe ich ab), aber dies würde nur nach der Höhe und Breite geschehen können, und alle Körper würden nur als Flächen erkannt, sowie auch alle diese in meinem Gesichtsfeld befindlichen Flächen nebeneinander rücken würden und ihr Abstand von mir =0 wäre. Sie lägen gleichsam auf meinen Augen. Vermittelst der Tiefendimension des Raumes aber bestimmt der Verstand (nach Schopenhauer’s meisterhafter Darstellung), auf Grund der minutiösesten Daten, die Tiefe der Gegenstände, ihren Abstand von einander u.s.w.

Diese Form ist unter dem Bilde eines Punktes zu denken, der die Fähigkeit hat, sich nach den drei Dimensionen in unbestimmte Weite (in indefinitum) zu erstrecken. Es ist ihr ganz gleich, ob die Sinnlichkeit sie um ein Sandkorn legt oder um einen Elephanten, ob ihre dritte Dimension zur Bestimmung der Entfernung eines 10 Fuß von mir stehenden Objekts oder des Mondes benutzt, ob sie nach allen Dimensionen gleich weit, oder gleichzeitig, oder sonst wie angewendet wird. Sie ist selbst keine Anschauung, vermittelt aber alle Anschauung, wie das Auge sich selbst nicht sieht, die Hand sich selbst nicht ergreifen kann.

Hierdurch wird klar, wie wir zum Phantasieraum kommen. Durch Erfahrung lernen wir den Punkt-Raum gebrauchen – sonst würde er wie todt in uns liegen – und es ist in das Belieben des Subjekts gestellt, ihn nach drei Dimensionen, ohne ihm einen Gegenstand zu geben, so weit es will, auseinander treten zu lassen. Auf |

i394 diese Weise durchstiegen wir »unendliche Himmelsräume« ohne Inhalt, und dringen immer ungehindert weiter vor. Ohne diese stets bereit liegende Form, würde die perverse Vernunft nie, auf Grund des unbegrenzten Blicks in die Weite, den unendlichen Raum herstellen können. Beruht ja doch die Möglichkeit des unbegrenzten Blicks schon auf der apriorischen Form Raum (Punkt-Raum). – Ich will noch bemerken, daß die richtige Anwendung des Raumes ein langes ernstes Studium erfordert. Kleine Kinder greifen nach Allem, nach dem Mond, wie nach Bildern an der Wand. Alles schwebt dicht vor ihren Augen: sie haben eben noch nicht den Gebrauch der dritten Dimension erlernt. Das Gleiche hat man, wie bekannt, an operirten Blindgeborenen beobachtet.

Die Consequenzen, welche der Punkt-Raum gestattet, sind außerordentlich wichtig. Ist nämlich der unendliche Raum eine reine Anschauung a priori, so ist ganz zweifellos, daß dem Ding an sich keine Ausdehnung zukommt. Um dies einzusehen, bedarf es nur eines ganz kurzen Besinnens; denn es ist klar, daß in diesem Falle jedes Ding seine Ausdehnung nur leihweise vom alleinen unendlichen Raum hat. Ist der Raum dagegen keine reine Anschauung, sondern nur eine Form für die Anschauung, so beruht die Ausdehnung nicht auf dem Raume, sondern nur die Wahrnehmbarkeit, die Erkenntniß der Ausdehnung hängt von der subjektiven Form ab. Giebt es also irgend einen Weg zum Ding an sich (was wir jetzt noch nicht zu untersuchen haben), so ist es sicherlich auch ausgedehnt, d.h. es hat eine Wirksamkeitssphäre, obgleich der Raum a priori, als subjektive Form, in uns liegt.

—————

In Betreff der Zeit sind die Fragen dieselben.

1) Wird die Zeit durch die Synthesis des Mannigfaltigen, welches die Sinnlichkeit in ihrer ursprünglichen Receptivität darbietet, erzeugt? oder

2) entsteht sie durch die Synthesis eines Mannigfaltigen, welches die Sinnlichkeit a posteriori darbietet?

Kant sagt:

Die Zeit bestimmt das Verhältniß der Vorstellungen in unserem inneren Zustande.

(Kk. 72.)

i395 Der innere Zustand ist es also, den wir zum Stützpunkte nehmen müssen. Blicken wir in uns, unter der Voraussetzung, daß uns die Außenwelt noch gänzlich unbekannt sei und keinen Eindruck auf uns mache, sowie auch, daß unser Inneres uns gar keinen Wechsel darböte, so würden wir so gut wie todt, oder im tiefsten traumlosen Schlafe befangen sein, und eine Vorstellung der Zeit würde nie in uns entstehen. Die ursprüngliche Receptivität der Sinnlichkeit kann uns also auch nicht das allergeringste Datum zur Erzeugung der Zeit geben, wodurch die erste Frage verneinend beantwortet wird.

Denken wir uns jetzt einen Wechsel von Empfindungen in uns, ja nur die Wahrnehmung unserer Athmung, die regelmäßig auf die Einziehung der Luft folgende Ausstoßung, so haben wir eine Menge erfüllter Momente, die wir miteinander verbinden können. Also nur eine erfüllte Zeit ist wahrnehmbar, und eine Erfüllung der Momente ist nur durch Daten der Erfahrung möglich. Es wird Niemandem einfallen, zu sagen, daß unsere inneren Zustände nicht zur Erfahrung gehörten und nicht a posteriori gegeben würden.

Wie entsteht aber die unendliche Zeit, die doch wesentlich inhaltslos gedacht wird? In ähnlicher Weise wie der unendliche Raum. Das denkende Subjekt abstrahirt vom Inhalt jedes Augenblicks. Der seines Inhalts beraubte Uebergang von Gegenwart zu Gegenwart ist die Einheit, welche der Einbildungskraft zur Synthesis übergeben wird. Da aber ein leerer Augenblick in keiner Weise ein Gegenstand der Anschauung ist, so borgen wir vom Raume

und stellen die Zeitfolge durch eine in’s Unendliche fortgehende Linie vor, welche das Mannigfaltige einer Reihe ausmacht, die nur von einer Dimension ist, und schließen aus den Eigenschaften dieser Linie auf alle Eigenschaften der Zeit, außer dem einigen, daß die Theile der ersteren zugleich, die der letzteren aber jederzeit nach einander sind.

(Kk. 72.)

A posteriori läßt sich demnach eine unendliche Zeit construiren, d.h. wir haben keine bestimmte Anschauung derselben, sondern nur die Gewißheit, daß der Fortgang der Synthesis nirgends gehemmt sein wird. Aber wir fragen hier, wie beim Raume, sind wir zu einer solchen Synthesis befugt? Nicht die denkbar kleinste Zeit kann |

i396 uns von der Erfahrung unerfüllt geliefert werden. Versuche es doch Jeder einmal, sich einen leeren Moment zu verschaffen. Man werfe Alles aus dem raschesten Uebergang von Gegenwart zu Gegenwart heraus, so hat man wenigstens diese kleinste Zeitgröße denkend erfüllt.

Wir schließen jetzt wie beim Raume. Ist die unendliche Zeit nur durch die Synthesis eines a priori gegebenen Mannigfaltigen zu erzeugen; findet sich aber in unserer ursprünglichen Sinnlichkeit auch nicht die kleinste unerfüllte Zeit, so kann die unendliche Zeit a priori nicht erzeugt werden, sie kann also nicht, als reine Anschauung a priori, in unserer Sinnlichkeit liegen.

Es giebt hiernach weder eine unendliche Zeit außerhalb meines Kopfes, die die Dinge verzehrte, noch giebt es eine unendliche Zeit in meinem Kopfe, die eine reine Anschauung a priori wäre. Dagegen giebt es eine unendliche Zeit (Bewußtsein einer ungehinderten Synthesis) in meinem Kopfe, gewonnen durch Verbindung der a posteriori gegebenen erfüllten Momente, die ihres Inhalts gewaltsam beraubt wurden.

Wir haben also eine auf empirischem Wege erschlichene unendliche Phantasiezeit, deren Wesen durch und durch Succession ist, und die Alles, was lebt, die Gegenstände sowohl, wie unser Bewußtsein, in rastlosem Gange mit sich fortreißt.

Kant bannte diese unendliche Zeit in unseren Kopf, d.h. er nahm die Dinge an sich aus ihr heraus, er befreite sie von der Zeit. Diesem großen Verdienst steht die Schuld gegenüber, daß er die Zeit, als reine Anschauung a priori, in unsere Sinnlichkeit legte. Ein zweites Verdienst war, daß er die Zeit als Form von der Zeit als Gegenstand (unendliche Linie) unterschied.

Und jetzt stehen wir wieder vor der wichtigen Frage: Was ist die Zeit, als Form der Anschauung, die a priori in unserer Sinnlichkeit liegt? Negativ ist sie bereits beantwortet. Die Zeit, als Form der Anschauung, ist nicht die unendliche Zeit. Was ist sie nun? Als Form der Sinnlichkeit könnte sie nur die Gegenwart sein, ein Punkt, wie der Raum, ein Punkt, der immer wird und doch immer ist, ein fortrollender, ein fließender Punkt.

Als reine Gegenwart aber hat die Zeit gar keinen Einfluß auf die Anschauung oder, wie Kant sagt:

i397 Die Zeit kann keine Bestimmung äußerer Erscheinungen sein; sie gehört weder zu einer Gestalt noch Lage.

(Kk. 72.)

Ich spreche es deshalb auch unumwunden aus: die Zeit ist keine Form der Sinnlichkeit.

Wie wir uns erinnern werden, brachte sie Kant auf einem Umwege dahin, indem er erklärt:

Alle Vorstellungen, sie mögen nun äußere Dinge zum Gegenstand haben oder nicht, gehören doch, an sich selbst, als Bestimmungen des Gemüths, zum inneren Zustand,

welcher unter die formale Bedingung der Zeit fällt. Der innere Zustand ist aber niemals eine Anschauung, sondern Gefühl, und wo dieses, die innere Bewegung, den Geist berührt, da eben liegt der Punkt der Gegenwart.

Hierdurch fällt ein eigenthümliches Licht auf die ganze transscendentale Analytik. In ihr wird die Sinnlichkeit nicht abgehandelt; das besorgte die Aesthetik. Nur das Mannigfaltige der Sinnlichkeit, der Stoff für die Kategorien, wandert in die Analytik hinüber, um verbunden und verknüpft zu werden. Die Analytik selbst handelt lediglich vom Verstand, den Kategorien, der Synthesis, der Einbildungskraft, dem Bewußtsein, der Apperception und immer und immer wieder von der Zeit. Die transscendentalen Schemata sind Zeitbestimmungen, die Erzeugung extensiver und intensiver Größen geschieht im Fortgang in der Zeit, die Analogien der Erfahrung ordnen sämmtliche Erscheinungen nach ihrem Verhältnisse in der Zeit, deren modi Beharrlichkeit, Folge und Zugleichsein sein sollen. Darum sagte ich oben: wir mögen was immer für eine Seite der Analytik aufschlagen, so werden wir die Synthesis eines Mannigfaltigen und die Zeit antreffen, und nannte beide die unvergängliche Krone auf dem Leichnam der Kategorien. Wie kommt es, daß Kant die Analytik nicht ohne eine Form der Sinnlichkeit, ohne die Zeit, zu Stande bringen konnte? Eben weil die Zeit keine Form der Sinnlichkeit, überhaupt keine apriorische ursprüngliche Form, sondern einzig und allein eine Verbindung der Vernunft ist. Hiervon werde ich später ausführlich reden; denn die Stelle, wo wir jetzt stehen, ist die geeignetste, um Schopenhauer einzuführen, den einzigen geistigen Erben Kant’s.

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i398 Schopenhauer’s Stellung der transscendentalen Aesthetik und Analytik gegenüber ist: unbedingte Anerkennung jener, unbedingte Verwerfung dieser. Beides ist nicht zu billigen.

Der unendliche Raum und die unendliche Zeit, die reinen Anschauungen a priori, acceptirte er kritiklos, ohne Weiteres, als Anschauungsformen, und die strenge Unterscheidung Kant’s der Formen von den Anschauungen in der Analytik ignorirte er vollständig. Es war für ihn eine ausgemachte Sache, daß Raum und Zeit vor aller Erfahrung, als Anschauungsformen, in unserem Erkenntnißvermögen liegen. Er leugnete deshalb, mit Kant, die Erkennbarkeit des Dinges an sich, zwischen welchem und dem erkennenden Subjekt immer diese Formen stehen, denen gemäß die sinnlichen Eindrücke verarbeitet werden.

Trotzdem hat er, mit höchster menschlicher Besonnenheit, einen Theil der Erkenntnißtheorie Kant’s verbessert und seine Verbesserungen unwiderleglich begründet. Die erste Frage, die er sich vorlegte, war: »Wie kommen wir überhaupt zu Anschauungen äußerer Gegenstände? wie entsteht diese ganze, für uns so reale und wichtige Welt in uns?« Er nahm mit Recht Anstoß an dem nichtssagenden Ausdruck Kant’s: »das Empirische der Anschauung wird von Außen gegeben.« Diese Frage ist überaus verdienstvoll; denn Nichts scheint uns selbstverständlicher, als die Entstehung von Objekten. Sie sind gleichzeitig mit dem Aufschlag der Augenlider da; welcher complicirte Vorgang in uns soll denn stattfinden, um sie allererst zu erzeugen.

Schopenhauer ließ sich von dieser Gleichzeitigkeit nicht beirren. Wie Kant, ging er von der Sinnesempfindung aus, welche der erste Anhaltspunkt auf subjektivem Boden für die Entstehung von Anschauungen ist. Er betrachtete sie genau und fand, daß sie allerdings gegeben ist, aber die Anschauung nicht, wie Kant will, in den Sinnen entstehen kann; denn

die Empfindung jeder Art ist und bleibt ein Vorgang im Organismus selbst, als solcher aber auf das Gebiet unterhalb der Haut beschränkt, kann daher, an sich selbst, nie etwas enthalten, das jenseit dieser Haut, also außer uns läge.

(4fache W. 51.)

Soll die Empfindung Anschauung werden, so muß der Verstand in Thätigkeit treten und seine einzige und alleinige Funktion, das Gesetz der Causalität, ausüben:

i399 er nämlich faßt, vermöge seiner selbsteigenen Form, also a priori, d.i. vor aller Erfahrung (denn diese ist bis dahin noch nicht möglich), die gegebene Empfindung des Leibes als eine Wirkung auf (ein Wort, welches er allein versteht,) die als solche nothwendig eine Ursache haben muß.

(4fache W. 52.)

Das Causalitätsgesetz, die apriorische Funktion des Intellekts, die er so wenig erst zu erlernen braucht, wie der Magen das Verdauen, ist also nichts weiter, als der Uebergang von der Wirkung im Sinnesorgan zur Ursache. Ich bitte dies wohl zu merken, da Schopenhauer das einfache Gesetz, wie wir später sehen werden, nach verschiedenen Richtungen verbiegt und ihm offenbar Gewalt anthut, nur um Kant’s ganze transscendentale Analytik verwerfen zu können.

Schopenhauer fährt fort:

Zugleich nimmt er die ebenfalls im Intellekt, d.i. im Gehirn, prädisponirt liegende Form des äußeren Sinnes zu Hülfe, den Raum, um jene Ursache außerhalb des Organismus zu verlegen: denn dadurch erst entsteht ihm das Außerhalb.

Diese Verstandesoperation ist jedoch keine discursive, reflective, in abstracto, mittelst Begriffen und Worten, vor sich gehende; sondern eine intuitive und ganz unmittelbare. Denn durch sie allein, mithin im Verstande und für den Verstand, stellt sich die objektive, reale, den Raum in drei Dimensionen füllende Körperwelt dar, die alsdann, in der Zeit, demselben Causalitätsgesetze gemäß, sich ferner verändert und im Raume bewegt.

(4fache W. 52.)

Demnach hat der Verstand die objektive Welt zu erschaffen, und unsere empirische Anschauung ist eine intellektuale, keine bloß sensuale.

Im Weiteren begründet Schopenhauer die Intellektualität der Anschauung siegreich (Aufrechtstellung des auf der Retina befindlichen verkehrten Bildes; einfaches Sehen des doppelt Empfundenen, in Folge der getroffenen gleichnamigen Stellen; Doppeltsehen durch Schielen; Doppeltfühlen eines Objekts mit gekreuzten Fingern) und führt meisterhaft aus, wie der Verstand die bloß planimetrische Empfindung, mit Hülfe der dritten Dimension des Raumes, zur stereometrischen Anschauung umarbeitet, indem er zunächst, aus den |

i400 Abstufungen von Hell und Dunkel, die einzelnen Körper construirt und ihnen dann ihren Ort, d.h. ihre Entfernungen von einander, mit Benutzung des Sehewinkels, der Linearperspective und Luftperspective, bestimmt.

Nach Schopenhauer sind also die Kantischen reinen Anschauungen, Raum und Zeit, keine Formen der Sinnlichkeit, sondern Formen des Verstandes, dessen alleinige Funktion das Causalitätsgesetz ist. An diese Verbesserung der Erkenntnißtheorie Kant’s schließt sich die andere, daß er die intuitive Erkenntniß von der abstrakten, den Verstand von der Vernunft trennte; denn dadurch wurde unsere Erkenntniß von den reinen Begriffen a priori befreit, einem überaus schädlichen und verwirrenden, ohne Berechtigung hineingetriebenen Keil.

Bei Kant schaut die Sinnlichkeit an, denkt der Verstand (Vermögen der Begriffe und Urtheile), schließt die Vernunft (Vermögen der Schlüsse und Ideen); bei Schopenhauer liefern die Sinne nur den Stoff zur Anschauung (obgleich er auch den Sinnen Anschauungsfähigkeit zuspricht, wovon später), schaut der Verstand an, denkt die Vernunft (Vermögen der Begriffe, Urtheile und Schlüsse). Die Vernunft, deren alleinige Funktion die Bildung des Begriffs, nach Schopenhauer, ist, trägt Nichts zur Herstellung der phänomenalen Welt bei. Sie wiederholt diese nur, spiegelt sie nur, und es tritt neben die intuitive Erkenntniß die von ihr durchaus verschiedene reflektive.

Die anschauliche und, dem Stoffe nach, empirische Erkenntniß ist es, welche die Vernunft, die wirkliche Vernunft, zu Begriffen verarbeitet, die sie durch Worte sinnlich fixirt und dann an ihnen den Stoff hat zu ihren endlosen Combinationen, mittelst Urtheilen und Schlüssen, welche das Gewebe unserer Gedankenwelt ausmachen. Die Vernunft hat also durchaus keinen materiellen, sondern bloß einen formellen Inhalt.

(4fache W. 109.)

Den materiellen Inhalt muß die Vernunft, bei ihrem Denken, schlechterdings von außen nehmen, aus den anschaulichen Vorstellungen, die der Verstand geschaffen hat. An diesen übt sie ihre Funktionen aus, indem sie, zunächst Begriffe bildend, von den verschiedenen Eigenschaften der Dinge Einiges fallen läßt und Anderes behält und es nun verbindet zu einem Begriff. Dadurch |


Date: 2014-12-29; view: 471


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