Nun ist ihm auch die Feindesliebe möglich, wie dem Pantheisten, Budhaisten und Christen; denn die Person verschwindet vor ihrer That, die nur deshalb an der Hand des Zufalls in die Erscheinung treten konnte, weil der Leidende sie vor der Welt wollte.
So giebt die Metaphysik meiner Ethik die letzte und höchste Weihe.
27.
Es hat der Mensch den natürlichen Hang, das Schicksal zu personificiren und das absolute Nichts, das ihm aus jedem Grabe entgegenstarrt, mystisch zu erfassen als eine Stätte ewigen Friedens, als city of peace, Nirwana: als neues Jerusalem.
Und Gott wird abwischen alle Thränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerzen wird mehr sein; denn das erste ist vergangen.
(Offenb. Joh. 21, 4.)
Es ist nicht zu leugnen, daß die Vorstellung eines persönlichen |
i358 liebevollen Gott-Vaters das menschliche Herz, »das trotzige und verzagte Ding«, tiefer ergreift als das abstrakte Schicksal, und daß die Vorstellung eines Himmelreichs, wo bedürfnißlose, verklärte Individuen in ewiger Contemplation selig ruhen, mächtigere Sehnsucht erweckt, als das absolute Nichts. Die immanente Philosophie ist auch hier mild und gütig. Die Hauptsache bleibt, daß der Mensch die Welt durch das Wissen überwunden hat. Ob er das erkannte Schicksal läßt wie es ist, oder ob er ihm wieder die Züge eines treuen Vaters giebt; ob er das erkannte Ziel der Welt als absolutes Nichts stehen läßt, oder ob er es umwandelt in einen lichtdurchflutheten Garten des ewigen Friedens –: das ist völlig Nebensache. Wer möchte das unschuldige, gefahrlose Spiel der Phantasie unterbrechen?
Ein Wahn, der mich beglückt,
Ist eine Wahrheit werth, die mich zu Boden drückt.
(Wieland.)
Der Weise aber blickt fest und freudig dem absoluten Nichts in’s Auge.
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Anhang.
i359
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Kritik
der
Lehren Kant’s und Schopenhauer’s.
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Ganze, Halb-, und Viertels-Irrthümer sind gar schwer und
mühsam zurecht zu legen, zu sichten und das Wahre daran
dahin zu stellen, wohin es gehört.
Goethe.
Vorwort.
i361
Der aufmerksame, mit der Geschichte der Philosophie vertraute Leser wird gefunden haben, daß die von mir vorgetragene Lehre sowohl wichtige von Kant und Schopenhauer entdeckte Wahrheiten unverändert, als auch Resultate enthält, welche auf glänzende Gedanken dieser großen Männer zurückzuführen sind, während ich mich doch nirgends weder auf Kant, noch auf Schopenhauer, berufen habe. Ich that es, weil ich mein Werk wie aus einem Gusse hinstellen wollte: rein und einfach; und dieses Bestreben hielt mich auch ab, meine eigenen Gedanken mit Citaten aus den Werken anderer Philosophen zu stützen und zu verzieren, wobei mich noch die Erwägung leitete, daß eigene Gedanken, die nicht die Kraft haben, sich selbständig zu behaupten, oder nicht feurig genug sind, um zu zünden, nicht zu leben verdienen: sie mögen untergehen, je früher je besser.
Indem ich jedoch in meinem System vermied, Vorgänger zu nennen, ging ich stillschweigend die Verpflichtung ein, nach Schluß desselben Rechenschaft darüber abzulegen, was ich mir selbst, was Anderen verdanke, und dieser Verpflichtung entledige ich mich in den nachfolgenden Blättern.
Das heilige Feuer der Wissenschaft, von dem die Erlösung des Menschengeschlechts abhängt, wird von Hand zu Hand weitergereicht. Es verlöschet nie. Es kann nur immer größer, seine Flamme immer reiner und rauchloser werden. Hieraus folgt aber auch, daß es kein durch und durch originelles philosophisches Werk geben kann. Irgend einen Vorgänger hat Jeder, auf irgend einer vorgethanen wissenschaftlichen Arbeit steht Jeder.
Anstatt dies jedoch offen zu bekennen, suchen Manche das Verhältniß zu verschleiern, kleiden große, von Anderen entdeckte Wahrheiten in neue Gewänder und geben ihnen einen anderen Namen, |
i362 ja, Einige gehen so weit, glänzende Errungenschaften des Geistes ganz zu ignoriren oder gar mit erbärmlichen Sophismen zu verdrängen, nur um den traurigen Ruhm zu genießen, ein scheinbar funkelnagelneues System erzeugt zu haben.
Wer aber die Männer verkleinert, deren Weisheit in ihm lebt und wirkt, gleicht dem Elenden, der die Brust seiner Mutter bespeit, die ihn ernährt hat.
Ich bekenne also frei, daß ich auf den Schultern Kant’s und Schopenhauer’s stehe, und daß meine Philosophie lediglich eine Weiterführung der des Einen und der des Anderen ist; denn wenn auch Schopenhauer die Hauptwerke Kant’s einer sorgfältigen, sehr verdienstvollen Kritik unterworfen und sehr wesentliche Irrthümer in denselben vernichtet hat, so hat er sie doch nicht gänzlich von Fehlern gereinigt und außerdem eine von Kant gefundene, außerordentlich wichtige Wahrheit gewaltsam unterdrückt. Er billigt unbedingt die transscendentale Aesthetik, während sie das Gift eines großen Widerspruchs in sich enthält; dagegen führt er einen Vernichtungskampf gegen die transscendentale Analytik, welcher, in der Hauptsache, unberechtigt und nur daraus zu erklären ist, daß Schopenhauer, gereizt durch die Verherrlichung der Vernunft seitens seiner Zeitgenossen, den Verstand und die intuitive Erkenntniß maßlos emporhob und deshalb nicht mehr vorurtheilslos war, als er die Analytik beurtheilte, die nicht weniger als die transscendentale Aesthetik ein Zeugniß für Kant’s wunderbare Besonnenheit und erstaunliche Denkkraft ist.
Meine gegenwärtige Aufgabe besteht nun darin, zuerst Kant’s transscendentale Aesthetik und Analytik zu durchforschen und die Fäden bloßzulegen, an die ich anknüpfte, dann Schopenhauer’s ganzes geniales System einer gründlichen Kritik zu unterziehen. Ich wende mich zu diesem Geschäft in der Hoffnung, daß es mir gelingen wird, die Leistungen der beiden größten deutschen Denker derartig befreit von allen Widersprüchen und Nebensachen hinzustellen, daß selbst blöde Augen ihren unschätzbar hohen Werth zu erkennen vermögen. Zugleich werde ich, unter dem Reize der aufgedeckten Widersprüche, die Hauptgedanken meiner Philosophie nochmals entwickeln und in ein neues Licht stellen.
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Analytik des Erkenntnißvermögens.
i363
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Wer das erste Knopfloch verfehlt,
Kommt mit dem Zuknöpfen nicht zu Rande.
Goethe.
i365
Kant’s Abtrennung des Raumes und der Zeit von der Welt ist die größte That auf dem Gebiete der kritischen Philosophie gewesen und wird auch durch keine andere je übertroffen werden. Er verlegte die räthselhaften Wesen, wahre Ungeheuer, welche sich jedem Versuch, das Wesen der Welt zu ergründen, in den Weg warfen, aus der Welt heraus in unseren Kopf, und machte sie zu Formen unserer Sinnlichkeit, zu Principien der Erkenntniß, die aller Erfahrung vorhergehen, zu Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung. Die Rechtfertigung dieses Verfahrens hat er in seiner unsterblichen transscendentalen Aesthetik niedergelegt, und wenn es auch immer »Wilde« geben wird, welche den transscendentalen Idealismus Kant’s verwerfen und Zeit und Raum wieder zu Formen des Dinges an sich machen, so droht doch der großen Errungenschaft keine ernstliche Gefahr: sie gehört zu den wenigen Wahrheiten, die in den Besitz der menschlichen Erkenntniß übergegangen sind.
Mehr aber als die Ungeheuer von den Dingen an sich zu trennen und sie in uns, die erkennenden Subjekte, zu legen, hat Kant nicht gethan. Obgleich er sie nicht kritiklos übernommen und einfach dem Subjekt zugesprochen hat, wie ich deutlich zeigen werde, sondern sich angelegentlich damit beschäftigte, wie sie eigentlich zu ihrer peinigenden Unendlichkeit, die kein Flug der Einbildungskraft durchmessen kann, gekommen seien, wie sie überhaupt entstanden sein könnten, so nahm er doch keinen Anstand, sie so, wie sie waren, in unsere Sinnlichkeit, als Formen, zu legen. Die transscendentale Aesthetik gestattet keinen Zweifel hierüber. Sie bestimmt:
Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände darin angetroffen werden*[1].
i366 Der Raum ist eine reine Anschauung. Man kann sich nur einen einigen Raum vorstellen, und wenn man von vielen Räumen redet, so versteht man darunter nur Theile eines und desselben alleinigen Raumes. Diese Theile können auch nicht vor dem einigen allbefassenden Raume gleichsam als dessen Bestandtheile, (daraus seine Zusammensetzung möglich sei), vorhergehen, sondern nur in ihm gedacht werden. Er ist wesentlich einig, das Mannigfaltige in ihm, mithin auch der allgemeine Begriff von Räumen überhaupt, beruht lediglich auf Einschränkungen.
Der Raum wird als eine unendliche gegebene Größe vorgestellt.
Kk. 64.
Man kann in Ansehung der Erscheinungen überhaupt die Zeit selbst nicht aufheben, ob man zwar ganz wohl die Erscheinungen aus der Zeit wegnehmen kann.
Die Zeit ist eine reine Form der sinnlichen Anschauung. Verschiedene Zeiten sind nur Theile eben derselben Zeit.
Die Unendlichkeit der Zeit bedeutet nichts weiter, als daß alle bestimmte Größe der Zeit nur durch Einschränkungen einer einigen zum Grunde liegenden Zeit möglich sei. Daher muß die ursprüngliche Vorstellung Zeit als uneingeschränkt gegeben sein.
Kk. 70.
Raum und Zeit liegen demnach als zwei reine Anschauungen, vor aller Erfahrung, in uns, der Raum als eine Größe, deren drei Dimensionen in’s Unendliche sich verlieren, die Zeit als eine aus dem Unendlichen kommende und in’s Unendliche fortgehende Linie.
Alle Gegenstände einer möglichen Erfahrung müssen durch diese zwei reinen apriorischen Anschauungen und werden von ihnen bestimmt, und zwar so gut vom Raume wie von der Zeit, denn:
weil alle Vorstellungen, sie mögen nun äußere Dinge zum Gegenstand haben oder nicht, doch an sich selbst, als Bestimmungen des Gemüths, zum inneren Zustand gehören, dieser innere Zustand aber, unter der formalen Bedingung der inneren Anschauung, mithin der Zeit gehört, so ist die Zeit eine Bedingung a priori von aller Erscheinung überhaupt, und zwar die unmittelbare Bedingung der inneren (unserer Seelen) und eben dadurch mittelbar auch der äußeren Erscheinungen. Wenn ich a priori sagen kann: alle äußere Erscheinungen sind im Raume und nach den Ver|hältnissen
i367 des Raumes a priori bestimmt, so kann ich aus dem Princip des inneren Sinnes ganz allgemein sagen: alle Erscheinungen überhaupt, d.i. alle Gegenstände der Sinne sind in der Zeit und stehen nothwendiger Weise in Verhältnissen der Zeit.
Kk. 72.
Auf alle diese Stellen werde ich später zurückkommen und nachweisen, daß ihnen ein großer Widerspruch zu Grunde liegt, dessen sich Kant bewußt war, den er aber geflissentlich verhüllte. Denn so gewiß es ist, daß Raum und Zeit den Dingen an sich nicht inhäriren, so gewiß ist es auch, daß Raum und Zeit, wie sie oben von Kant charakterisirt wurden, keine Formen a priori sein können und auch in der That nicht sind.
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Es wird gut sein, gleich hier in’s Reine zu stellen, was Kant, auf Grund der gedachten reinen Anschauungen, unter empirischer Anschauung versteht. Nur die Eindrücke der Sinne, welche auf Einschränkungen des Raumes, also auf die Umrisse der äußeren Gegenstände hinleiten, liefern Anschauungen. Er verwahrt sich deshalb entschieden dagegen; »daß es, außer dem Raume, noch eine andere subjektive und auf etwas Aeußeres bezogene Vorstellung, die a priori objektiv heißen könnte« (Kk. 67) geben könne, und beugt hierdurch dem Versuche vor, Locke’s sekundäre Eigenschaften der Dinge, wie Farbe, Glätte, Rauhigkeit, Geschmack, Geruch, Kälte, Wärme, u.s.w. gleichfalls auf einen gemeinschaftlichen Grund, eine dritte Form der Sinnlichkeit, zurückzuführen. Ohne obige wesentliche Einschränkung wäre man versucht, anzunehmen, daß Kant unter Anschauung nur denjenigen Ausschnitt aus der Summe unserer Vorstellungen verstanden habe, welcher auf dem Gesichtssinn beruht. Sie ist aber mehr und weniger: mehr, weil auch das Getast Anschauungen verschafft; weniger, weil Eindrücke des Gesichtssinns, wie Farben, bloße Empfindungen, nicht Anschauungen, geben. Gerüche, Geschmacksempfindungen und Töne sind ganz von ihr ausgeschlossen. Er sagt (Kk. [I. Aufl.] 68.):
Der Wohlgeschmack eines Weines gehört nicht zu den objektiven Bestimmungen des Weines, mithin eines Objektes sogar als Erscheinung betrachtet, sondern zu der besonderen Beschaffenheit des Sinnes an dem Subjekte, das ihn genießt. Die Farben sind |
i368 nicht Beschaffenheiten der Körper, deren Anschauung sie anhängen, sondern nur Modifikationen des Sinnes des Gesichtes, welches vom Lichte auf gewisse Weise afficirt wird.
Er will damit sagen: Ein gewisses Buch z.B. hat für alle Menschen die gleiche Ausdehnung; Jeder bestimmt dessen Grenzen genau auf dieselbe Weise. Aber es kann für den Einen blau, für den Anderen grau, für den Einen glatt, den Anderen rauh sein, u.s.w. Solchen Vorstellungen
kommt, genau zu reden, gar keine Idealität zu, ob sie gleich darin mit der Vorstellung des Raumes übereinkommen, daß sie bloß zur subjektiven Beschaffenheit der Sinnesart gehören.
Diese Unterscheidung ist sehr merkwürdig. Ich werde darauf zurückkommen.
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Die Ergebnisse der transscendentalen Aesthetik sind hauptsächlich zwei:
1) daß wir die Dinge an sich nicht nach dem erkennen, was sie sind, sondern nur nach dem, wie sie uns, nach Durchgang durch die apriorischen Formen unserer Sinnlichkeit, Raum und Zeit, erscheinen;
2) daß diese Erscheinungen und der Raum selbst nur scheinbar außer uns, in Wirklichkeit aber in uns, in unserem Kopfe sind. Oder mit Worten Kant’s:
Da die Sinne uns niemals und in keinem einzigen Stück die Dinge an sich selbst, sondern nur ihre Erscheinungen zu erkennen geben, diese aber bloße Vorstellungen der Sinnlichkeit sind, so müssen auch alle Körper, mitsammt dem Raume, darin sie sich befinden, für nichts, als bloße Vorstellungen in uns gehalten werden, und existiren nirgends anders, als bloß in unseren Gedanken.
(Prolegomena, 204.)
Der vortreffliche Locke war, sich streng an die Erfahrung haltend, bei der Untersuchung des subjektiven Antheils an der Vorstellung, zum Resultat gelangt, daß den Dingen auch unabhängig vom Subjekt die sogenannten primären Eigenschaften: Ausdehnung, Undurchdringlichkeit, Form, Bewegung, Ruhe und Zahl wesentlich seien;
i369 Solidity, extention, figure, motion and rest, would be really in the world, as they are, whether there were any sensible being to perceive them, or not.
(On human Understanding. L. II.)
Kant ging entschieden weiter. Dadurch, daß er Raum und Zeit zu reinen Anschauungen a priori machte, durfte er den Dingen auch die primären Eigenschaften absprechen.
Wir können nur aus dem Standpunkte eines Menschen vom Raum, von ausgedehnten Wesen reden.
(Kk. 66.)
Mit der Ausdehnung fallen alle Eigenschaften der Dinge fort; die Dinge schrumpfen dann zu einem einzigen Ding an sich zusammen, die Reihen von x werden zu Einem x und dieses Eine x ist gleich Null, ein mathematischer Punkt, natürlich ohne Bewegung.
Kant schreckte vor dieser Consequenz zurück, aber seine Proteste dagegen konnten sie nicht aus der Welt schaffen. Was half es, daß er es für die größte Ungereimtheit erklärte, wenn wir gar keine Dinge an sich einräumen (Prol. 276), was half es, daß er unermüdlich einschärfte, der transscendentale Idealismus treffe nicht das Dasein und Wesen der Dinge an sich, sondern nur die Art und Weise, wie diese dem Subjekt erscheinen: er hatte das Erscheinende, den Grund der Erscheinung, wenigstens für menschliches Denken, vernichtet. Man kann bei Kant nicht von einer besseren Grenzbestimmung zwischen dem Idealen und Realen als die Locke’s, von einer genialen, für alle Zeit gültigen Scheidung der Welt in Ideales und Reales sprechen; denn eine Scheidung findet überhaupt da nicht statt, wo Alles auf eine Seite gezogen wird. Wir haben es bei Kant nur mit Idealem zu thun; das Reale ist, wie gesagt, nicht x, sondern Null.
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Ich wende mich zur transscendentalen Logik.
Wie wir oben gesehen haben, giebt uns die Sinnlichkeit, eine Fähigkeit (Receptivität) unseres Gemüthes, mit Hülfe ihrer beiden Formen, Raum und Zeit, Anschauungen. Diese Anschauungen werden vervollständigt durch die subjectiven Empfindungen eines oder mehrerer Sinne, namentlich des Gesichtssinnes (Farben) und sind durchaus an und für sich vollendet.
i370 Die Anschauung bedarf der Functionen des Denkens auf keine Weise.
(Kk. 122.)
Aber sie sind keine ganzen, sondern Theil-Vorstellungen, welche Unterscheidung sehr wichtig und festzuhalten ist, da sie der einzige Schlüssel ist, der die transscendentale Logik, dieses tiefsinnige Werk, dem Verständniß eröffnet.
Weil jede Erscheinung ein Mannigfaltiges enthält, mithin verschiedene Wahrnehmungen im Gemüthe an sich zerstreut und einzeln angetroffen werden, so ist eine Verbindung derselben nöthig, welche sie in dem Sinne selbst nicht haben können.
(Kk. I. Aufl. 653.)
Man glaubte, die Sinne lieferten uns nicht allein Eindrücke, sondern setzten solche auch sogar zusammen und brächten Bilder der Gegenstände zu Wege, wozu ohne Zweifel außer der Empfänglichkeit der Eindrücke noch etwas mehr, nämlich eine Function der Synthesis derselben erfordert wird.
(ib. 654.)
Damit aus dem Mannigfaltigen Einheit der Anschauung werde, (wie etwa in der Vorstellung des Raumes,) so ist erstlich das Durchlaufen der Mannigfaltigkeit und dann die Zusammennehmung desselben nothwendig, welche Handlung ich die Synthesis der Apprehension nenne.
(ib. 640.)
Die Verbindung (conjunctio) eines Mannigfaltigen kann niemals durch die Sinne in uns kommen.
(Kk. 127.)
Das Gleichartig- Mannigfaltige und das Zusammengehörige müssen also von einer Erkenntnißkraft zum Ganzen eines Gegenstands verbunden werden, sollen wir nicht lauter isolirte, fremde, getrennte Theilvorstellungen haben, die zur Erkenntniß untauglich sind. Um die Sache recht klar in einem Bilde wiederzugeben, sage ich: die Eindrücke, die uns die Sinne darbieten, sind, nach Kant, wie Faßdauben; sollen diese Eindrücke zu einem fertigen Gegenstand werden, so bedürfen sie einer Verbindung, wie die Faßdauben der Reife, um sich zu Fässern zu gestalten. Das Vermögen nun, dessen Function diese Verbindung, Synthesis, ist, ist, nach Kant, die Einbildungskraft.
Die Synthesis überhaupt ist die bloße Wirkung der Einbil|dungskraft,
i371 einer blinden, obgleich unentbehrlichen Function der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntniß haben würden; der wir uns aber selten nur einmal bewußt sind.
(Kk. 109.)
Es ist über jeden Zweifel erhaben, daß diese Synthesis des Mannigfaltigen einer Anschauung eine apriorische Function in uns ist, wie die Fähigkeit der Hand zum Ergreifen dem Ergreifen eines Gegenstands vorhergehen muß. Ob sie eine Function der Einbildungskraft ist, wie Kant behauptet, oder eines anderen Erkenntnißvermögens, lasse ich einstweilen dahingestellt. Hätte sie Kant an der Spitze der transscendentalen Logik erörtert und den Verstand mit seinen 12 Kategorien nach ihr eingeführt, so würde die Abhandlung des großen Denkers weniger mißverstanden und verdreht worden sein, und es läge mir jetzt nicht ob, fast hundert Jahre nach ihrem ersten Erscheinen, ihren wahren Sinn, namentlich Schopenhauer gegenüber, wiederherzustellen.
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Die Verbindung des Mannigfaltigen einer Anschauung durch die Einbildungskraft würde indessen nur ein zweckloses Spiel sein, d.h. das verbundene Mannigfaltige würde gleich wieder in seine einzelnen Theile zerfallen und die Erkenntniß eines Objekts würde geradezu unmöglich sein, wenn ich mir der Synthesis nicht bewußt wäre. Die Einbildungskraft kann ihre Synthesis nicht mit diesem unbedingt nothwendigen Bewußtsein begleiten, da sie eine blinde Function der Seele ist, und es muß deshalb ein neues Erkenntnißvermögen auftreten, welches durch die Einbildungskraft mit der Sinnlichkeit verkettet wird. Es ist der Verstand.
Das empirische Bewußtsein, welches verschiedene Vorstellungen begleitet, ist an sich zerstreut und ohne Beziehung auf die Identität des Subjekts. Diese Beziehung geschieht also dadurch noch nicht, daß ich jede Vorstellung mit Bewußtsein begleite, sondern daß ich eine zu der anderen hinzusetze und mir der Synthesis derselben bewußt bin.
(Kk. 130.)
Ohne Bewußtsein, daß das, was wir denken, eben dasselbe sei, was wir einen Augenblick zuvor dachten, würde alle Reproduction in der Reihe der Vorstellungen vergeblich sein. Denn es wäre |
i372 eine neue Vorstellung im jetzigen Zustande, die zu dem Actus, wodurch sie nach und nach hat erzeugt werden sollen, gar nicht gehörte, und das Mannigfaltige derselben würde immer kein Ganzes ausmachen, weil es der Einheit ermangelte, die ihm nur das Bewußtsein verschaffen kann.
(Kk. 642. I. Aufl.)
Die Synthesis der Einbildungskraft auf Begriffe zu bringen, das ist eine Function, die dem Verstande zukommt, und wodurch er uns allererst die Erkenntniß in eigentlicher Bedeutung verschafft.
(Kk. 109.)
Kant hat den Verstand auf mancherlei Weise erklärt: als Vermögen zu denken, Vermögen der Begriffe, der Urtheile, der Regeln, u.s.w. und auch als Vermögen der Erkenntnisse, was, auf unserem jetzigen Standpunkte, die passendste Bezeichnung ist; denn er definirt die Erkenntnisse wie folgt:
Erkenntnisse bestehen in der bestimmten Beziehung gegebener Vorstellungen auf ein Objekt. Objekt aber ist das, in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist.
(Kk. 132.)
Diese Definitionen sind festzuhalten, da Schopenhauer, in Betreff des Objekts, Kant total mißverstanden hat.
Dadurch nun, daß wir mit Bewußtsein verbinden, was die Sinne und die Einbildungskraft zu thun nicht im Stande sind, sind alle Vorstellungen unsere Vorstellungen. Das: »ich denke« begleitet alle unsere Vorstellungen, bindet gleichsam an jede einzelne einen Faden, welche Fäden dann in einem einzigen Punkt zusammenlaufen. Dieses Centrum des Bewußtseins ist das Selbstbewußtsein, welches Kant die reine, die ursprüngliche Apperception, auch die ursprünglich- synthetische Einheit der Apperception, nennt. Fände diese Vereinigung aller Vorstellungen nicht in einem Selbstbewußtsein statt,
so würde ich ein so vielfärbiges verschiedenes Selbst haben, als ich Vorstellungen habe, deren ich mir bewußt bin.
(Kk. 130.)
Der Verstand begleitet also zunächst mit Bewußtsein die Synthesis der Einbildungskraft, wodurch Theilvorstellungen zu ganzen Objekten verbunden werden und bringt dann
i373 das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter Einheit der Apperception, welcher Grundsatz der oberste im ganzen menschlichen Erkenntniß ist.
(Kk. 131.)
Am besten recapituliren wir das Bisherige mit Worten Kant’s:
Es sind drei ursprüngliche Quellen (Fähigkeiten oder Vermögen der Seele), die die Bedingungen der Möglichkeit aller Erfahrung enthalten und selbst aus keinen anderen Vermögen des Gemüths abgeleitet werden können, nämlich:
Sinn, Einbildungskraft und Apperception.
Darauf gründet sich:
1) die Synopsis des Mannigfaltigen a priori durch den Sinn;
2) die Synthesis dieses Mannigfaltigen durch die Einbildungskraft; endlich
3) die Einheit dieser Synthesis durch ursprüngliche Apperception.
(Kk. I. Ausg. 125.)
Und jetzt wollen wir zu den Kategorien oder reinen Verstandesbegriffen übergehen.
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Die Erklärung des Verstandes, als eines Vermögens der Begriffe, ist uns gegenwärtig. Die Kategorien sind nun ursprünglich im Verstande erzeugte Begriffe, Begriffe a priori, die vor aller Erfahrung, als Keime, in unserem Verstande liegen, die einerseits die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntniß und Erfahrung sind (wie Zeit und Raum die Bedingungen der Möglichkeit der Anschauung), andererseits aber nur Bedeutung und Inhalt durch den Stoff erhalten, welchen die Sinnlichkeit ihnen darbietet.
Kant hat 12 reine Verstandesbegriffe aufgestellt:
1. 2. 3. 4.
der Quantität. der Qualität. der Realität. der Modalität.
Einheit Realität Inhärenz u. Subsistenz Möglichkeit – Unmöglichkeit
Vielheit Negation Causalität u. Dependenz Dasein – Nichtsein
i374 welche er aus der Tafel aller möglichen Urtheile gezogen hat. Diese ist so zusammengesetzt:
Quantität der Urtheile. Qualität. Relation. Modalität.
Allgemeine Bejahende Kategorische Problematische
Besondere Verneinende Hypothetische Assertorische
Einzelne Unendliche Disjunktive Apodiktische.
Er begründet sein Verfahren mit den Worten:
Dieselbe Function, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urtheile Einheit giebt, die giebt auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit, welche, allgemein ausgedrückt, der reine Verstandesbegriff heißt.
(Kk. 110.)
Wir haben oben gesehen, daß der Verstand beständig die Synthesis der Einbildungskraft mit Bewußtsein begleitet und die zu Objekten verbundenen Theilvorstellungen in Beziehung zur ursprünglichen Apperception setzt. Insoweit er diese Thätigkeit ausübt, heißt er Urtheilskraft. Diese giebt den reinen Verstandesbegriffen den nothwendigen Inhalt aus den Eindrücken der Sinnlichkeit, indem sie die Synthesis der Einbildungskraft leitet und das Verbundene unter die Kategorien subsumirt.
Es wird gut sein, von hier aus, so kurz auch der zurückgelegte Weg ist, wieder einen Blick zurückzuwerfen.
Wir haben anfänglich ein »Gewühl von Erscheinungen«, einzelne Theilvorstellungen, welche uns die Sinnlichkeit, mit Hülfe ihrer Form, des Raumes, darbietet. Unter der Leitung des Verstandes, hier Urtheilskraft genannt, tritt die Einbildungskraft in Thätigkeit, deren Function die Verbindung des Mannigfaltigen ist. Ohne bestimmte Regeln würde aber die Einbildungskraft verbinden, was sich ihr gerade darbietet: Gleichartiges, Zusammengehöriges, so gut wie Ungleichartiges. Die Urtheilskraft hat diese Regeln an den Kategorien, und es entstehen auf diese Weise zunächst ganze Vorstellungen, welche unter gewissen Kategorien stehen.
Hiermit ist jedoch das Geschäft der Urtheilskraft noch nicht beendet. Die unter gewisse Kategorien gebrachten Objekte wären
»eine Rhapsodie von verbundenen Wahrnehmungen«,
wenn sie nicht unter einander verbunden werden könnten. Die Ur|theilskraft
i375 thut dies; sie setzt die Objekte untereinander in Verbindung und subsumirt diese Verknüpfungen wieder unter gewisse Kategorien (der Relation).
Jetzt sind alle unsere, von der Sinnlichkeit dem Verstande zugeführten Anschauungen durchgegangen, geordnet, verknüpft und in Verhältnisse gebracht, sie sind sämmtlich unter Begriffe gestellt, und es bleibt dem Verstande nur noch ein Schritt zu thun übrig: er muß den Inhalt der Kategorien an den höchsten Punkt in unserem ganzen Erkenntnißvermögen heften, an die Apperception, das Selbstbewußtsein.
Wir haben oben gleichsam Fäden an unsere, zu Objekten verbundenen Vorstellungen geheftet, und diese direkt in das Selbstbewußtsein einmünden lassen. Durch die inzwischen eingeschobenen Kategorien ist dieser direkte Lauf der Fäden unterbrochen worden. Sie werden jetzt zuerst in den Kategorien vereinigt und in Verhältnisse zu einander gebracht und dann im Selbstbewußtsein verknüpft. Und nun haben wir einen innigen Zusammenhang aller Erscheinungen, haben durch Verknüpfung nach allgemeinen und nothwendigen Gesetzen Erkenntnisse und Erfahrung, ein Ganzes verglichener und verknüpfter Vorstellungen, mit einem Wort: es steht der Einheit des Selbstbewußtseins die Natur gegenüber, welche durch und durch das Werk unseres Verstandes ist.