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Analytik des Erkenntnißvermögens. 27 page

Die Neubildungen, welche aus diesen partiellen Weltbränden entstehen werden, dürfen uns nicht beschäftigen. Wir stellen uns sofort an dasjenige Glied der Entwicklungsreihe, welches uns nur noch feste oder flüssige Körper zeigt. Alle Gase sind aus dem Weltall verschwunden, d.h. die zähe Kraftsumme hat sich derartig geschwächt, daß nur noch feste und flüssige Körper das Weltall constituiren. Am besten nehmen wir an, daß Alles, was dann noch existirt, nur flüssig ist.

Der Erlösung dieser Flüssigkeiten steht jetzt absolut Nichts mehr im Wege. Jede hat freie Bahn: jeder gedachte Theil derselben geht durch den idealen Punkt und sein Streben ist erfüllt, d.h. er ist in seinem innersten Wesen vernichtet.

Und dann?

Dann ist Gott thatsächlich aus dem Uebersein, durch das Werden, in das Nichtsein übergetreten; er hat durch den Weltproceß gefunden, was er, von seinem Wesen verhindert, nicht sofort erreichen konnte: das Nichtsein.

i345 Erst ging das transscendente Gebiet unter, – jetzt ist (in unseren Gedanken) auch das immanente vergangen; und wir blicken, je nach unserer Weltanschauung, entsetzt oder tief befriedigt, in das absolute Nichts, die absolute Leere, in das nihil negativum.

Es ist vollbracht!

 

20.

Hiermit haben wir alle halben Resultate der Physik ergänzt und können weiter gehen.

Die Aesthetik zeigt sich, vom höchsten immanenten Standpunkte aus, gerade so, wie wir sie vom niederen erfaßten. Dies kann nicht überraschen: denn der Grund des Schönen in den Dingen an sich hat ja seinen herrlichen Erklärungsgrund einzig und allein in der einfachen Einheit, beziehungsweise ihrer ersten harmonischen Bewegung. Im Reich des Schönen wird auf Nichts mehr gewartet: da soll nicht erst noch etwas kommen! Es liegt ganz im entzückenden Glanze der vorweltlichen Existenz Gottes, ja, es ist der entzückende Glanz selbst des ganz in sich beruhigten Wesens Gottes, der einfachen Einheit (mit Absicht auf das contemplative Subjekt) und die Objektivirung der Fortsetzungen der wundervollen, harmonischen ersten Bewegung, als Gott starb und die Welt geboren wurde.

 

21.

Dagegen weist die Ethik mehrere sehr ergänzungsbedürftige Resultate auf. Metaphysisch ergänzt, stellen sie sich aber auch dar als Lösungen der schwersten philosophischen Probleme. Es läßt die Wahrheit ihren letzten Schleier fallen und zeigt uns das echte Zusammenbestehen von Freiheit und Nothwendigkeit, die volle Autonomie des Individuums und das reine Wesen des Schicksals, aus dessen Erkenntniß ein Trost, eine Zuversicht, ein Vertrauen fließt, wie es selbst das Christenthum und der Budhaismus ihren Bekennern nicht bieten können; denn die Wahrheit, welche der Mensch erkennt, befriedigt ihn in ganz anderer Weise, als die, welche er glauben muß.

In der Ethik nahmen wir dem Willen zum Leben gegenüber die schroffste Stellung ein. Wir verurtheilten ihn und drückten auf seine Stirne das Brandmal der Tollheit. Wir schauderten vor dem Kampfe um’s Dasein zurück und stellten die Verneinung |



i346 des Willens zum Leben in den vollen Gegensatz zur Bejahung des Willens.

Indem wir dies thaten, urtheilten wir nicht unbesonnen und voreilig, sondern nur einseitig, weil uns der richtige Ueberblick fehlte.

Jetzt aber liegt das ganze immanente Gebiet im milden Lichte der Erkenntniß vor uns, welche wir, in der Mitte der Kluft zwischen transscendentem und immanentem Gebiete forschend, uns errungen haben. Und hier müssen wir erklären, daß die Verneinung des Willens zum Leben nicht im Gegensatz zur Bejahung steht.

Das wahre Verhältniß der einen zur anderen wird sich aus dem Nachfolgenden ergeben.

Wir haben gesehen, daß ein einziges großes Gesetz die Natur von Anfang an beherrschte, beherrscht und beherrschen wird bis zu ihrer Vernichtung: das Gesetz der Schwächung der Kraft. Die Natur wird alt. Wer von einer éternelle (!) jeunesse, einer »ewigen« Jugend der Natur spricht (möchte man doch wenigstens, logisch richtig sich ausdrückend »endlos« sagen!), urtheilt wie der Blinde von Farben und steht auf der untersten Stufe der Erkenntniß.

Unter der Herrschaft dieses großen Gesetzes steht Alles in der Welt, mithin auch der Mensch. Er ist im tiefsten Grunde Wille zum Tode, weil die seinen Typus constituirenden und ihn, durch Ein- und Austritt, erhaltenden chemischen Ideen den Tod wollen. Aber da sie ihn nur durch Schwächung erlangen können und es kein wirksameres Mittel hierzu giebt, als das Wollen des Lebens, so tritt das Mittel dämonisch vor den Zweck, das Leben vor den Tod, und es zeigt sich der Mensch als reiner Wille zum Leben.

Indem er sich nun einzig und allein dem Leben hingiebt, immer hungrig und begierdevoll nach Leben, handelt er im Interesse der Natur und zugleich in seinem eigenen; denn er schwächt die Kraftsumme des Weltalls und zugleich seinen Typus, seine Individualität, die, eine besondere Idee, halbe Selbstherrlichkeit hat. Er befindet sich auf der Bahn der Erlösung: darüber kann gar kein Zweifel sein; aber es ist eine lange Bahn, deren Ende nicht sichtbar ist.

Derjenige hingegen, welcher sich mit derselben Nothwendigkeit, mit der der rohe Mensch das Leben mit tausend Armen umklammert, vom Leben abwenden mußte, dem durch klare, kalte Erkenntniß der |

i347 Zweck vor das Mittel, der Tod vor das Leben getreten ist, – handelt gleichfalls im Interesse der Natur und in seinem eigenen; aber er schwächt wirksamer sowohl die Kraftsumme des All’s, als auch seinen Typus, der im Leben die Seligkeit des Herzensfriedens genießt und im Tode die absolute Vernichtung findet, wonach sich Alles in der Natur sehnt. Er geht, weitab von der großen Heerstraße der Erlösung, auf dem kurzen Pfad der Erlösung: vor ihm liegt in goldenem Lichte die Höhe, er sieht sie und er wird sie erreichen.

Jener erreicht also, durch die Bejahung des Willens zum Leben, auf einem dunklen, schwülen Wege, wo das Gedränge entsetzlich ist, Alles stößt und gestoßen wird, dasselbe Ziel, das dieser, durch die Verneinung des Willens, auf einem hellen, nur am Anfang dornigen und steilen, dann ebenen und herrlichen Pfade, wo kein Gedränge, kein Geschrei, kein Gewimmer ist, erlangt. Aber jener erreicht erst das Ziel nach einer unbestimmbaren Zeit, dabei immer unbefriedigt, sorgenvoll, kummer- und qualvoll, während dieser am Ende seiner individuellen Laufbahn die Hand auf das Ziel legt und auf dem Wege dahin frei von Sorgen, Kummer und Qual ist und im tiefsten Seelenfrieden, in der unerschütterlichsten Heiterkeit lebt.

Jener schleppt sich mühsam weiter, immer gehemmt, voran wollend und nicht voran könnend; diesen tragen gleichsam Engelsschaaren empor, und weil er den Blick von der lichten Höhe nicht wenden kann und sich ganz in die Anschauung verliert, so ist er am Ziele, er weiß nicht wie. Erst schien es so weit, nun ist’s schon erreicht!

Es wollen also Beide das Selbe, und Beide erlangen, was sie wollen; der Unterschied zwischen Beiden liegt nur in der Art ihrer Bewegung. Die Verneinung des Willens zum Leben ist eine schnellere Bewegung als die der Bejahung. Es ist dasselbe Verhältniß, wie zwischen Civilisation und Naturzustand, das wir in der Politik kennzeichneten. In der Civilisation bewegt sich die Menschheit rascher als im Naturzustand: in beiden Formen aber hat sie dasselbe Ziel.

Man kann auch sagen: die Tonart geht von Dur in Moll über, und das Tempo des Lebenslaufs ändert sich aus adagio und andante in vivace und prestissimo.

i348 Wer das Leben verneint, verschmäht nur das Mittel Desjenigen, welcher es bejaht; und zwar deshalb, weil er ein besseres Mittel als dieser zum gemeinsamen Zweck gefunden hat.

Und hiermit ist auch die Stellung des Weisen zu seinen Mitmenschen gegeben. Er wird sie nicht schimpfen, noch hochmüthig, im Dünkel seiner bessern Erkenntniß, belächeln. Er sieht, wie sie sich mit einem Werkzeuge abquälen, das ihnen Wochen rauben wird, um zu Rande zu kommen. Da bietet er ihnen ein anderes an, das etwas mehr Anstrengung erfordert, aber in wenigen Minuten zum Ziele führt. Verstocken sie sich dagegen, so soll er sie zu überzeugen versuchen. Gelingt es nicht, so soll er sie ziehen lassen. Sie kennen wenigstens jetzt die Wahrheit, und sie arbeitet still in ihnen fort, denn

Magna est vis veritatis et praevalebit!

So wird die Zeit kommen, wo auch ihnen die Schuppen von den Augen fallen werden.

Ingleichen wird er nicht die Augen verdrehen, wenn er lustige Menschen sieht, die sich austoben in tollem Jubel. Er wird denken: Pauvre humanité! dann aber: Immer zu! Tanzt, hüpft, freit und laßt euch freien! Die Ermattung und der Katzenjammer werden sich schon einstellen; und dann wird auch für euch das Ende kommen.

Es ist so hell wie das Licht der Sonne. Der Optimismus soll Gegensatz des Pessimismus sein? Wie dürftig und verkehrt! Das ganze Leben des Weltalls, vor dem Auftreten einer weisen contemplativen Vernunft, soll ein sinnloses Spiel, das Hin- und Herwälzen eines Fieberkranken gewesen sein? Wie toll! Darf, wenn es hochkommt, ein 5-6 Pfund schweres Gehirn zu Gericht sitzen über einem Entwicklungsgang der Welt in einem unaussprechlich großen Zeitraum und ihn verwerfen? Das wäre reiner Wahnwitz!

Wer ist denn Optimist? Optimist ist mit Nothwendigkeit Der, dessen Wille noch nicht reif ist für den Tod. Seine Gedanken und Maximen (seine Weltanschauung) sind die Blüthen seines Dranges und Hungers nach Leben. Wird ihm eine bessere Erkenntniß von außen gegeben, faßt sie aber nicht Wurzeln in seinem Geiste, oder bemächtigt sie sich zwar desselben, aber wirft sie von hier aus immer nur sogenannte kalte Blitze in das Herz, |

i349 weil es verstockt und hart ist – was soll er machen? Also immer zu! Auch seine Stunde wird kommen, denn ein einziges Ziel haben alle Menschen, hat Alles in der Natur.

Und wer ist ein Pessimist? muß es sein? Wer reif ist für den Tod. Er kann so wenig das Leben lieben, wie jener vom Leben sich abwenden kann. Er wird, wenn er nicht erkennt, daß er in seinen Kindern weiterleben würde, wodurch die Zeugung ihren grausamen Charakter verliert, wie Humboldt entsetzt davor zurückschrecken, wenige Minuten der Wollust zu erkaufen mit den Qualen, die ein fremdes Wesen vielleicht 80 Jahre lang erdulden muß, und wird das Kindererzeugen mit Recht für ein Verbrechen halten.

So lasset die Waffen sinken und streitet nicht mehr; denn euren Kampf hat ein Mißverständniß veranlaßt: ihr wollt Beide das Selbe.

 

22.

Wir haben dann noch die Stellung der immanenten Philosophie dem Selbstmörder und dem Verbrecher gegenüber zu präcisiren.

Wie leicht fällt der Stein aus der Hand auf das Grab des Selbstmörders, wie schwer dagegen war der Kampf des armen Menschen, der sich so gut gebettet hat. Erst warf er aus der Ferne einen ängstlichen Blick auf den Tod und wandte sich entsetzt ab; dann umging er ihn zitternd in weiten Kreisen; aber mit jedem Tage wurden sie enger und enger und zuletzt schlang er die müden Arme um den Hals des Todes und blickte ihm in die Augen: und da war Friede, süßer Friede.

Wer die Bürde des Lebens nicht mehr zu tragen vermag, der werfe sie ab. Wer es nicht mehr aushalten kann im Carnevalssaale der Welt, oder, wie Jean Paul sagt, im großen Bedientenzimmer der Welt, der trete, aus der »immer geöffneten« Thür, hinaus in die stille Nacht.

Wohl wendet sich die immanente Philosophie mit ihrer Ethik auch an die Lebensmüden und sucht sie zurückzuziehen mit freundlichen Worten der Ueberredung, sie auffordernd, sich am Weltgang zu entzünden und durch reines Wirken für Andere diesen beschleunigen zu helfen –; aber wenn auch dieses Motiv nicht wirkt, wenn es unzureichend für den betreffenden Charakter ist, dann zieht sie sich still zurück und beugt sich dem Weltlauf, der den Tod dieses be|stimmten

i350 Individuums nöthig hat und es deshalb mit Nothwendigkeit auslöschen muß; denn nehmt das unbedeutendste Wesen aus der Welt, und der Weltlauf wird ein anderer werden, als wenn es geblieben wäre.

Die immanente Philosophie darf nicht verurtheilen; sie kann es nicht. Sie fordert nicht zum Selbstmord auf; aber der Wahrheit allein dienend, mußte sie Gegenmotive von furchtbarer Gewalt zerstören. Denn was sagt der Dichter?

Who would fardels bear

To grunt and sweat under a weary life,

But that the dread of something after death –

The undiscover’d country, from whose bourn

No traveller returns – puzzles the will

And makes us rather bear those ills we have

Than fly to others that we know not of?

Shakespeare.

(Wer trüge Lasten,

Und stöhnt’ und schwitzte unter Lebensmüh’?

Nur daß die Furcht vor etwas nach dem Tod –

Das unentdeckte Land, von deß’ Bezirk

Kein Wandrer wiederkehrt – den Willen irrt,

Daß wir die Uebel, die wir haben, lieber

Ertragen, als zu unbekannten fliehn.)

Dieses unentdeckte Land, dessen geglaubte Mysterien so Manchem die Hand wieder öffneten, welche den Dolch bereits fest umklammert hatte – dieses Land mit seinen Schrecken hat die immanente Philosophie vollständig vernichten müssen. Es war einmal ein transscendentes Gebiet – es ist nicht mehr. Der Lebensmüde, welcher sich die Frage stellt: Sein oder Nichtsein? soll die Gründe für und gegen lediglich aus dieser Welt schöpfen (aber aus der ganzen Welt: er soll auch seine verdüsterten Brüder berücksichtigen, denen er helfen kann, nicht etwa, indem er Schuhe für sie anfertigt und Kohl für sie pflanzt, sondern indem er ihnen eine bessere Stellung erringen hilft) – jenseit der Welt ist weder ein Ort des Friedens, noch ein Ort der Qual, sondern nur das Nichts. Wer es betritt, hat weder Ruhe, noch Bewegung, er ist zustandslos wie im Schlaf, nur mit dem großen Unterschied, daß auch das, was im Schlafe |

i351 zustandslos ist, nicht mehr existirt: der Wille ist vollständig vernichtet.

Dies kann ein neues Gegenmotiv und ein neues Motiv sein: diese Wahrheit kann den Einen in die Bejahung des Willens zurücktreiben, den Anderen machtvoll in den Tod ziehen. Die Wahrheit darf aber nie verleugnet werden. Und wenn seither die Vorstellung einer individuellen Fortdauer nach dem Tode, in einer Hölle oder in einem Himmelreich, Viele vom Tode abhielt, die immanente Philosophie dagegen Viele in den Tod führen wird – so soll dies fortan so sein, wie jenes vorher sein sollte, denn jedes Motiv, das in die Welt tritt, erscheint und wirkt mit Nothwendigkeit.

 

23.

Im Staate ist der Verbrecher geächtet und dies mit vollem Recht; denn der Staat ist die mit Nothwendigkeit in das Leben der Menschheit getretene Form, in welcher das große Gesetz der Schwächung der Kraft als Gesetz des Leidens sich offenbart, und in welcher allein der Mensch schnell erlöst werden kann. Die Bewegung des Weltalls heiligt ihn und seine Grundgesetze. Er zwingt die Menschen zu legalen Handlungen, und wer die Grundgesetze verletzt, richtet zwischen sich und seinen Mitbürgern Schranken auf, die bis zum Tode bestehen bleiben. »Er hat gestohlen«, »er hat gemordet«: das sind unsichtbare Ketten, mit denen der Verbrecher begraben wird.

Aber im Staate giebt es einen freien schönen Standpunkt, wo den Verbrecher treue Arme umschlingen und treue Hände sich auf das Brandmal seiner Stirne legen und es verhüllen: es ist der Standpunkt der reinen Religion.

Als Christus die Ehebrecherin verurtheilen sollte, forderte er die Ankläger auf, sie zu steinigen, wenn sie sich rein fühlten, und als er zwischen zwei Mördern am Kreuze hing, versprach er dem Einen das Himmelreich, den Ort, wo nach seiner Verheißung nur die Guten wohnen sollten.

Die immanente Philosophie wahrt sich diesen Standpunkt in der Metaphysik.

Wenn man den Verbrecher aus Noth übersieht und nur Diejenigen in’s Auge faßt, welche, von ihrem Dämon gedrängt, trotz aller Gegenmotive das Gesetz verletzten, so muß man bekennen, daß |

i352 sie mit derselben Nothwendigkeit gehandelt haben, mit der ein guter Wille Werke der Gerechtigkeit und Menschenliebe thut.

Der Verbrecher, wie der Heilige, hilft nur einen nothwendigen Weltlauf gestalten, der an sich nicht moralisch ist. Beide dienen dem Ganzen. Dies ist das Erste, das Milde fordert.

Dann ist der Verbrecher, durch die Heftigkeit seines Willens, die Unseligkeit seiner Begierde, nicht nur geschieden vom Frieden, der höher ist als alle Vernunft, sondern er liegt auch in Qualen, die größer sind als Höllenqualen oder die Folgen der gesetzlichen Brandmarkung. »Des Narren Strafe ist seine Narrheit.«

Und der immanente Philosoph sollte das wilde, unglückliche Herz von sich stoßen? Wie müßte er sich verachten, wenn er es thäte! Er legt es an seine Brust und hat nur Worte des Trostes und der Liebe für dasselbe.

 

24.

Wir wenden uns zum Schicksal.

Es ist, wie wir wissen, die aus der continuirlichen Wirksamkeit aller Individuen des Weltalls continuirlich sich erzeugende Bewegung der ganzen Welt. Es ist eine Macht, gegen welche die der Einzelnen nicht aufkommt, weil sie in sich die Wirksamkeit jedes bestimmten Einzelnen, neben der aller anderen Individuen, enthält. So stellt sich uns das Schicksal vom höchsten Standpunkte aus betrachtet dar. Es ist das allgemeine, das Weltalls- Schicksal.

Vom Standpunkte eines bestimmten Menschen dagegen ändert sich die Ansicht. Hier ist es individuelles Schicksal (individueller Lebenslauf) und zeigt sich als Produkt zweier gleichwerthigen Faktoren: des bestimmten Individuums (Dämon und Geist) und des Zufalls (Summe der Wirksamkeit aller Individuen). Oder, wie wir in der Physik fanden: das Individuum hat nur eine halbe Selbstherrlichkeit, weil es zwingt und durch den Zufall gezwungen wird, der eine ihm entgegentretende fremde, total von ihm unabhängige Macht ist.

Die beschränkte, die halbe Unabhängigkeit des Individuums ist eine Thatsache, welche nicht umgestoßen werden kann. Selbst auf dem höchsten Standpunkte, welchen wir jetzt einnehmen, sehen wir das Individuum gerade so, wie in der Physik. In der |

i353 Welt, man forsche wo und wie man wolle, wird man immer nur individuellen, und zwar halb- selbständigen Willen finden.

Hieraus folgt aber auch, daß alle Lehren, welche diese mittlere Stellung des Individuums zwischen den zwei Polen: volle Selbstherrlichkeit und totale Abhängigkeit, verschieben, besonders aber jene, welche das Individuum in einen der bezeichneten Polpunkte stellen, falsch sind.

Wir sehen uns auf diese Weise nochmals vor den Pantheismus und den exoterischen Budhaismus geführt.

Dem Pantheismus gemäß ist das Individuum ein Nichts, eine armselige Marionette, ein bloßes Werkzeug in der Hand einer in der Welt verborgenen einfachen Einheit. Hieraus ergiebt sich, daß keine That eines Individuums seine That, sondern eine göttliche, in ihm gewirkte That ist, und daß es auch nicht den Schatten einer Verantwortlichkeit für seine Thaten hat.

Der Pantheismus ist eine großartige Lehre, in der sich die Wahrheit zur Hälfte enthüllt. Es giebt eine Macht, welche vom Individuum nicht beherrscht wird, in deren Hand es liegt; aber diese Macht, der Zufall, ist durch das Individuum selbst beschränkt, ist eine halbe Macht.

Der großen Karma-Lehre Budha’s gemäß, welche Lehre leider im Occident so gut wie noch nicht bekannt ist (man hält sich gewöhnlich an den Firlefanz, die Ausgeburten üppiger orientalischer Phantasie und übersieht den kostbaren Kern), ist dagegen das Individuum Alles. Das individuelle Schicksal ist ausschließlich das Werk des Individuums. Karma alone controls destiny (Karma allein bestimmt das Schicksal).

Was ein Mensch thut und was ihm widerfährt, es sei Glück oder Unglück, Alles fließt aus seinem Wesen, aus dessen Verdienst und Schuld (merit and demerit).

Nach Budha’s Lehre gestaltet das innerste Wesen des Menschen das, was wir Zufall nennen, aus sich heraus. Gehe ich auf der Straße und trifft mich eine Kugel, die für einen Anderen bestimmt war, so hat mein allmächtiges Wesen die Kugel in mein Herz geführt. Schließen sich vor mir alle Auswege, so daß ich, verzweifelnd, in den Tod muß, so hat nicht eine fremde Macht, sondern ich habe selbst die Coulissen so verschoben und gestellt, daß ich im Leben nicht bleiben kann. Wirft mich eine Krankheit jahrelang |

i354 auf ein Schmerzenslager, so habe ich Alles, was die Krankheit herbeiführen mußte, durch meine vollständige individuelle Selbstherrlichkeit in dieser bestimmten Weise wirksam gemacht. Werde ich reich, angesehen, ein Herrscher über Millionen, so habe ich aus mir allein Alles so gelenkt, daß ich diese bestimmte Stellung einnehmen konnte. Kurz, Alles, auch das, was wir mit Recht einer fremden Macht, dem Zufall, zuschreiben, ist mein ausschließliches Werk, ist Ausfluß meines allmächtigen Wesens, das nur unter dem Zwange seiner bestimmten Natur, d.h. aller guten und schlechten Thaten in früheren Lebensläufen, steht. Und was das Individuum in seinem jetzigen Leben thut, bildet, im Verein mit dem Reste der unverbüßten und unbelohnten Thaten aus früheren Daseinsweisen, das bestimmte Wesen für einen neuen Lebenslauf, welches das, was wir Zufall nennen würden, wieder aus sich heraus zusammenstellt, gruppirt und wirksam macht.

Die Karma-Lehre ist eine großartige, tiefe Lehre, wie der Pantheismus, und in ihr, wie in diesem, enthüllt sich die Wahrheit zur Hälfte. Das Individuum hat eine reale Macht, die der Zufall nicht beherrscht; aber diese Macht ist durch den Zufall beschränkt, ist eine halbe Macht.

Der Budhaismus übt auf den denkenden Menschen einen unverhältnißmäßig größeren Zauber aus, als der Pantheismus, obgleich er nicht mehr und nicht weniger als dieser die Erfahrung beleidigt und die Wahrheit fälscht; denn während eine in der Welt verborgene allmächtige Einheit immer unser Herz kalt lassen und ihm immer fremd bleiben wird, steht der Budhaismus einzig und allein auf der Individualität, das echte Reale, das einzig Gewisse für uns, das uns unmittelbar Gegebene und intim Bekannte.

Dann ist es oft geradezu sinnverwirrend, wenn man in irgend einem bedeutenden Vorfall sieht, wie sich das Aeußere gruppirt, wie sich plötzlich die Coulissen schließen oder öffnen, wenn die Zeit für das Innere gekommen ist. In solchen Momenten wird man Anhänger des herrlichen, genialen Königssohnes und ruft: ja, er hat Recht, das Individuum macht ganz allein sein Schicksal. –

Ich wiederhole indessen: die halbe Autonomie ist eine Thatsache auf immanentem Gebiete, welche nicht umgestoßen werden kann.

Dennoch kann sie ergänzt werden zur vollen Selbstherr|lichkeit

i355 des Individuums, wenn man das vergangene transscendente Gebiet an das reale immanente rückt.

 

25.

Alles, was ist, war in der einfachen vorweltlichen Einheit. Alles, was ist, hat demnach, bildlich geredet, am Entschlusse Gottes, nicht zu sein, Theil genommen, hat in ihm den Entschluß gefaßt, in das Nichtsein überzutreten. Das retardirende Moment, das Wesen Gottes, machte die sofortige Ausführung des Beschlusses unmöglich. Die Welt mußte entstehen, der Proceß, in welchem das retardirende Moment allmählich aufgehoben wird. Diesen Proceß, das allgemeine Weltallsschicksal, bestimmte die göttliche Weisheit, (wir reden immer nur bildlich), und in ihr bestimmte Alles, was ist, seinen individuellen Lebenslauf.

Nun hat Budha Recht: Alles, was mich trifft, alle Schläge und Wohlthaten des Zufalls sind mein Werk: ich habe sie gewollt. Aber nicht in der Welt führe ich sie erst mit allmächtiger, unerkennbarer Kraft herbei, sondern vor der Welt, in der einfachen Einheit, habe ich bestimmt, daß sie mich treffen sollen.

Nun auch hat erst der Pantheismus Recht: das Weltenschicksal ist ein einheitliches, ist Bewegung der ganzen Welt nach Einem Ziele; aber keine einfache Einheit in der Welt führt sie aus, indem sie in Schein- Individuen, bald nach dieser, bald nach jener Richtung, wirkt, sondern eine einfache Einheit vor der Welt bestimmte den ganzen Proceß, und in der Welt führen ihn nur reale Individuen aus.

Jetzt hat auch Plato Recht, der (De Rep. X) jeden Menschen, vor dem Eintritt in’s Leben, sein Schicksal sich selbst erwählen läßt, aber er erwählt es nicht unmittelbar vor der Geburt, sondern vor der Welt überhaupt, auf transscendentem Gebiete, als das immanente noch nicht war, hat er sich selbst sein Loos bestimmt. –

Schließlich vereinigt sich jetzt die Freiheit mit der Nothwendigkeit. Die Welt ist der freie Act einer vorweltlichen Einheit; in ihr aber herrscht nur die Nothwendigkeit, weil sonst das Ziel nie erreicht werden könnte. Alles greift mit Nothwendigkeit ineinander, Alles conspirirt nach einem einzigen Ziele.

Und jede Handlung des Individuums (nicht nur des Menschen, |

i356 sondern aller Ideen in der Welt) ist zugleich frei und nothwendig: frei, weil sie vor der Welt, in einer freien Einheit beschlossen wurde, nothwendig, weil der Beschluß in der Welt verwirklicht, zur That wird.

 

26.

Es muß ein richtiges Princip sein, aus dem sich so mühelos, ungezwungen und klar die Lösung der größten philosophischen Probleme ergiebt, welche die genialsten Männer aller Zeiten hoffnungslos sinken ließen, nachdem sie ihre Denkkraft an denselben erschöpft hatten. Als Kant das Zusammenbestehen von Freiheit und Nothwendigkeit, durch die Unterscheidung eines intelligibelen von einem empirischen Charakter, erfaßt zu haben glaubte, konnte er nicht umhin zu bemerken:

Die hier vorgetragene Auflösung der Schwierigkeiten hat aber, wird man sagen, doch viel Schweres in sich und ist einer hellen Darstellung kaum empfänglich. Allein ist denn jede andere, die man versucht hat, oder versuchen mag, leichter und faßlicher?

Alle mußten irren, weil sie kein reines immanentes und kein reines transscendentes Gebiet zu schaffen wußten. Die Pantheisten mußten irren, weil sie die thatsächlich vorhandene einheitliche Weltbewegung auf eine Einheit in der Welt zurückführten; Budha mußte irren, weil er von dem thatsächlich im Individuum vorhandenen Gefühl der vollen Verantwortlichkeit für alle seine Thaten fälschlich auf die volle Selbstherrlichkeit des Individuums in der Welt schloß; Kant mußte irren, weil er auf rein immanentem Gebiete Freiheit und Nothwendigkeit mit einer Hand umspannen wollte.

Wir legten dagegen die einfache Einheit der Pantheisten auf ein vergangenes transscendentes Gebiet und erklärten die einheitliche Weltbewegung aus der That dieser vorweltlichen einfachen Einheit; wir vereinigten die halbe Autonomie des Individuums und die von ihm total unabhängige Macht des Zufalls in der Welt, auf transcendentem Gebiete, im einheitlichen Beschluß Gottes, in das Nichtsein überzutreten, und in der einheitlichen Wahl der Mittel, den Beschluß auszuführen. Schließlich vereinigten wir Freiheit und Nothwendig|keit

i357 nicht in der Welt, wo kein Platz für die Freiheit ist, sondern in der Mitte der Kluft, die das mit unserer Vernunft wieder hergestellte, untergegangene transscendente Gebiet vom immanenten trennte.

Das untergegangene transscendente Gebiet haben wir uns nicht mit Sophismen erschlichen. Daß es gewesen und nicht mehr ist, das haben wir mit logischer Strenge in der Analytik bewiesen.

Und nun erwäge man den Trost, die unerschütterliche Zuversicht, das selige Vertrauen, das aus der metaphysisch begründeten vollen Autonomie des Individuums fließen muß. Alles, was den Menschen trifft: Noth, Elend, Kummer, Sorgen, Krankheit, Schmach, Verachtung, Verzweiflung, kurz, alles Herbe des Lebens, fügt ihm nicht eine unergründliche Vorsehung zu, die sein Bestes auf eine unerforschliche Weise beabsichtigt, sondern er erleidet dieses Alles, weil er, vor der Welt, Alles als bestes Mittel zum Zweck selbst erwählte. Alle Schicksalsschläge, die ihn treffen, hat er erwählt, weil er nur durch sie erlöst werden kann. Sein Wesen (Dämon und Geist) und der Zufall führen ihn durch Schmerz und Wollust, durch Freude und Trauer, durch Glück und Unglück, durch Leben und Tod, treu zur Erlösung, die er will.


Date: 2014-12-29; view: 414


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