Home Random Page


CATEGORIES:

BiologyChemistryConstructionCultureEcologyEconomyElectronicsFinanceGeographyHistoryInformaticsLawMathematicsMechanicsMedicineOtherPedagogyPhilosophyPhysicsPolicyPsychologySociologySportTourism






Analytik des Erkenntnißvermögens. 26 page

Dieses Alles ist Erscheinung ihres Triebs, den keine Erkenntniß leitet, d.h. im erkennenden Subjekt spiegelt sich ihr Trieb in der angegebenen Weise. Die Pflanze ist reiner Wille, reiner Trieb, folgend dem Impulse, den die sie constituirenden einfachen chemischen Ideen im Zerfall der Einheit in die Vielheit erhielten.

In der Physik definirten wir die Pflanze als Willen zum |

i332 Leben mit einer bestimmten Bewegung (Wachsthum). Diese Erklärung bedarf der Berichtigung. Die Pflanze ist Wille zum Tode, wie die chemische Idee, und Wille zum Leben, und die Resultirende dieser Bestrebungen ist der relative Tod, der ihr auch zu Theil wird.

 

12.

Das Thier ist zunächst Pflanze, und Alles, was wir von dieser sagten, gilt auch von ihm. Es ist als Pflanze Wille zum Tode und Wille zum Leben, und es resultirt aus diesen Bestrebungen der relative Tod. Es will das Leben als Mittel zum absoluten Tode.

Das Thier ist aber dann noch eine Verbindung von Willen und Geist (auf einer bestimmten Stufe). Der Wille hat sich theilweise gespalten, und jeder Theil hat eine eigenthümliche gespaltene Bewegung. Hierdurch wird sein Pflanzenleben modificirt.

Der Geist des Thieres nimmt ein Objekt wahr und fühlt instinktiv die Gefahr, welche ihm droht. Das Thier hat bestimmten Objekten gegenüber instinktive Todesfurcht.

Wir stehen vor einer außerordentlich merkwürdigen Erscheinung. Das Thier will im tiefsten Innern seines Wesens die Vernichtung, und dennoch fürchtet es den Tod vermöge seines Geistes; denn dieser ist Bedingung, weil das gefährliche Objekt auf irgend eine Weise wahrgenommen werden muß. Wird es nicht wahrgenommen, so bleibt das Thier ruhig und fürchtet den Tod nicht. Wie ist das seltsame Phänomen zu erklären?

Wir haben in der Physik gesehen, daß das Individuum beschränkt ist: es ist nicht vollkommen unabhängig. Es hat nur eine halbe Machtvollkommenheit. Es wirkt auf alle Ideen direkt und indirekt, aber es erfährt auch die Einwirkungen aller anderen Ideen. Es ist das Glied einer im festesten dynamischen Zusammenhang stehenden Collectiv-Einheit und führt deshalb kein durchaus selbständiges, sondern ein kosmisches Leben.

So fanden wir auch schon oben, im unorganischen Reich, daß einzelne Individualitäten reif für den Tod sind und erlöschen würden, wenn man ihrem Triebe freie Bahn gäbe. Aber sie müssen, als Mittel für den Zweck des Ganzen, leben.

In gleicher Weise verhält es sich beim Thier. Das Thier ist Mittel zum Zweck des Ganzen, wie das ganze organische Reich nur |

i333 ein Mittel für den Zweck des unorganischen ist. Und zwar entspricht seine Beschaffenheit dem bestimmten Zweck, den es erfüllen soll.

Diesen Zweck können wir nun in nichts Anderes setzen, als in eine wirksamere Abtödtung der Kraft, welche nur durch Todesfurcht (intensiveren Willen zum Leben) zu erlangen ist, und welche ihrerseits Mittel für den Zweck des Ganzen, den absoluten Tod, ist.



Während also in der Pflanze noch neben dem Willen zum Tode der Wille zum Leben steht, steht beim Thiere der Wille zum Leben vor dem Willen zum Tode und verhüllt ihn ganz: das Mittel ist vor den Zweck getreten. So will auf der Oberfläche das Thier nur das Leben, ist reiner Wille zum Leben und fürchtet den Tod, den es auf dem Grunde seines Wesens allein will. Denn, frage ich auch hier, könnte das Thier sterben, wenn es nicht sterben wollte?

 

13.

Der Mensch ist zunächst Thier, und was wir von diesem sagten, das gilt auch von ihm. Als Thier steht in ihm der Wille zum Leben vor dem Willen zum Tode, und das Leben wird dämonisch gewollt und der Tod dämonisch gefürchtet.

Im Menschen hat aber eine weitere Spaltung des Willens und dadurch eine weitere Spaltung der Bewegung stattgefunden. Zur Vernunft, die das Mannigfaltige der Wahrnehmung verbindet, ist das Denken getreten, die reflectirende Vernunft, die Reflexion. Hierdurch wird sein Thierleben wesentlich modificirt und zwar nach zwei ganz verschiedenen Richtungen.

Zunächst wird die Todesfurcht einerseits und die Liebe zum Leben andererseits gesteigert.

Die Todesfurcht wird gesteigert: das Thier kennt den Tod nicht und es fürchtet ihn nur instinktiv, wenn es ein gefährliches Objekt wahrnimmt. Der Mensch dagegen kennt den Tod und weiß, was er zu bedeuten hat. Dann übersieht er die Vergangenheit und blickt in die Zukunft. Hierdurch überblickt er außerordentlich mehr, ich möchte sagen: unendlich mehr Gefahren als das Thier.

Die Liebe zum Leben wird gesteigert: das Thier folgt in der Hauptsache seinen Trieben, die sich auf Hunger, Durst, Schlafbedürfniß und alles zur Brunst Gehörige beschränken. Es lebt in |

i334 einem engen Kreise. Dem Menschen dagegen tritt, durch seine Vernunft, das Leben in Formen entgegen, wie Reichthum, Weiber, Ehre, Macht, Ruhm u.s.w., welche seinen Willen zum Leben, zur Begierde nach Leben anfachen. Die reflektirende Vernunft vervielfältigt seine Triebe, steigert sie und sinnt über die Mittel ihrer Befriedigung nach: sie macht die Befriedigung künstlich zu raffinirtem Genusse.

Auf diese Weise wird der Tod aus ganzer Seele gehaßt und beim bloßen Wort krampft sich das Herz der Meisten qualvoll zusammen, und die Todesfurcht wird zur Todesangst und Verzweiflung, wenn die Menschen dem Tode in die Augen starren; dagegen wird das Leben mit Leidenschaft geliebt.

Beim Menschen wird demnach der Wille zum Tode, der Trieb seines innersten Wesens, nicht mehr vom Willen zum Leben einfach verdeckt, wie beim Thier, sondern er verschwindet vollständig in der Tiefe, wo er sich nur, von Zeit zu Zeit, als tiefe Sehnsucht nach Ruhe äußert. Der Wille verliert seinen Zweck vollständig aus Sinn und Augen und klammert sich lediglich an das Mittel.

In der zweiten Richtung aber wird, durch die Vernunft, das Thierleben in einer anderen Weise modificirt. Vor dem Geiste des Denkers steigt, strahlend und leuchtend, aus der Tiefe des Herzens der reine Zweck des Daseins empor, während das Mittel ganz verschwindet. Nun erfüllt das erquickende Bild ganz seine Augen und entzündet seinen Willen: machtvoll lodert die Sehnsucht nach dem Tode auf, und ohne Zaudern ergreift der Wille, in moralischer Begeisterung, das bessere Mittel zum erkannten Zweck, die Virginität. Ein solcher Mensch ist die einzige Idee in der Welt, welche den absoluten Tod, indem sie ihn will, auch erreichen kann.

 

14.

Fassen wir zusammen, so ist Alles in der Welt Wille zum Tode, der im organischen Reich, mehr oder weniger verhüllt, als Wille zum Leben auftritt. Das Leben wird vom reinen Pflanzentrieb, vom Instinkt und schließlich dämonisch und bewußt gewollt, weil auf diese Weise das Ziel des Ganzen, und damit das Ziel jeder Individualität, schneller erreicht wird.

Am Anfang der Welt war das Leben Erscheinung des Willens |

i335 zum Tode, des Strebens der Individuen nach Nichtsein, das durch ein retardirendes Moment in ihnen verlangsamt wurde.

Im gestalteten, durchweg in intensivster Tension erhaltenen Weltall kann man das Leben, mit Absicht auf die chemischen Ideen schlechthin, gehemmtes Streben nach Nichtsein nennen und sagen, daß es sich darstelle als Mittel zum Zweck des Ganzen.

Die Organismen dagegen wollen aus sich selbst das Leben, hüllen ihren Willen zum Tode in Willen zum Leben, d.h. sie wollen aus sich selbst das Mittel, das zunächst sie und durch sie das Ganze zum absoluten Tode führen wird.

Wir haben also doch noch schließlich, auf der Oberfläche, einen Unterschied zwischen dem unorganischen und organischen Reich gefunden, der sehr wichtig ist.

Aber auf dem Grunde sieht der immanente Philosoph im ganzen Weltall nur die tiefste Sehnsucht nach absoluter Vernichtung, und es ist ihm, als höre er deutlich den Ruf, der alle Himmelssphären durchdringt: Erlösung! Erlösung! Tod unserem Leben! und die trostreiche Antwort darauf: ihr werdet Alle die Vernichtung finden und erlöst werden.

 

15.

Wir haben in der Physik die Zweckmäßigkeit der Natur, welche kein Vernünftiger ableugnen kann, auf die erste Bewegung, den Zerfall der Einheit in die Vielheit, zurückgeführt, von welcher ersten Bewegung alle folgenden nur Fortsetzungen waren und sind. Dies genügte vollkommen. Jetzt aber knüpfen wir die Zweckmäßigkeit unmittelbar an den Entschluß der vorweltlichen Einheit, aus dem Uebersein in das Nichtsein zu treten, an.

Der einfachen Einheit war die sofortige Erreichung des Zieles verwehrt, nicht aber die Erreichung überhaupt. Es war ein Proceß (ein Entwicklungsgang, eine allmähliche Abschwächung) nöthig, und der ganze Verlauf dieses Processes lag virtualiter im Zerfall.

Alles in der Welt hat demnach Ein Ziel, oder besser: für den menschlichen Geist stellt sich die Natur so dar, als ob sie sich einem einzigen Ziele entgegen bewege. Im Grunde aber folgt Alles nur dem ersten blinden Impulse, in welchem das, was wir als Mittel und Zweck auseinander halten müssen, untrennbar vereinigt |

i336 lag. Alles in der Welt wird nicht von vorn gezogen oder von oben geleitet, sondern aus sich heraus getrieben.

Auf diese Weise greift Alles ineinander, jedes Ding ist auf das andere angewiesen; alle Individualitäten zwingen und werden gezwungen, und die resultirende Bewegung aus allen Einzelbewegungen ist dieselbe, als ob eine einfache Einheit eine einheitliche Bewegung habe.

Die Teleologie ist ein bloß regulatives Princip für die Beurtheilung des Weltgangs (die Welt wird gedacht: als einem Willen entsprungen, den die höchste Weisheit leitete), verliert aber, selbst als solches, nur dann alles Anstößige, das es von jeher für alle klaren empirischen Köpfe gehabt hat, wenn die Welt auf eine einfache vorweltliche Einheit zurückgeführt wird, welche nicht mehr existirt. Seither hatte man nur die Wahl zwischen zwei Wegen, auf welchen beiden keine Befriedigung zu finden war. Entweder mußte man die Zweckmäßigkeit leugnen, d.h. der Erfahrung in’s Gesicht schlagen, um ein spukfreies, rein immanentes Gebiet zu erhalten; oder man mußte der Wahrheit die Ehre geben, d.h. die Zweckmäßigkeit anerkennen, aber dann auch eine Einheit in, über oder hinter der Welt annehmen.

Die immanente Philosophie hat, mit ihrem radicalen Schnitt durch immanentes und transscendentes Gebiet, das Problem in durchaus befriedigender Weise gelöst. Die Welt ist der einheitliche Act einer einfachen Einheit, welche nicht mehr ist, und steht deshalb in einem unlöslichen dynamischen Zusammenhang, aus welchem eine einheitliche Bewegung entsteht.

 

16.

Wir haben uns jetzt, an der sicheren Hand der gewonnenen Resultate, nochmals in das organische Leben zu versenken.

Die Naturforscher führen das organische Leben auf eine Urzeugung zurück, und die gegenwärtig herrschende Ansicht ist, daß eine generatio aequivoca nicht mehr in der Natur stattfinde.

Wie wir uns aus der Physik erinnern werden, besteht für die immanente Philosophie zwischen unorganischen Körpern und Organismen keine Kluft. Was sie von einander unterscheidet, ist ihre Bewegung. Wollte man eine Kluft annehmen, so wäre sie weder weiter, noch böte sie Grund zu größerem Erstaunen, als die zwischen einem Gase und einer Flüssigkeit.

i337 Die Bewegung des Organismus ist Wachsthum, d.h. Erhaltung und Ausbildung eines bestimmten Typus, durch fortwährende Assimilation und Ausscheidung chemischer Kräfte, welche den Typus constituiren.

Jeder Organismus ist eine abgeschlossene Idee, wie Kupferoxyd eine ist. Wie dieses, so hält auch er einfache chemische Kräfte gebunden, oder besser, hebt sie in eine einfache unterschiedslose Einheit auf.

Während jedoch die chemische Verbindung kein anderes Streben hat, als das aus der Natur der verbundenen, ihr zu Grunde liegenden Kräfte Fließende, bestimmte Einheitliche, tritt der Organismus denjenigen chemischen Ideen gegenüber, von welchen Theile seinen Typus bilden, mit überwältigender Assimilation auf und zwingt sie, in seinen Typus, diesen erhaltend und ausbildend, ein- und aus ihm auszutreten. Dies ist das Wesen des Wachsthums und, im weiteren Sinne, der Reproduction.

Die Grundlage jedes Organismus ist also ein Typus, eine bestimmte chemische Verbindung, welche eine bestimmte, im unorganischen Reich nicht auffindbare Bewegung hat.

Aber jeder organische Typus ist Glied einer Entwicklungsreihe und, als solches, wesentlich verschieden vom ersten Glied der Reihe.

Wie ist nun der erste Organismus entstanden?

Daß er durch Verbindung einfacher chemischer Ideen, oder aus bereits vorhandenen Verbindungen solcher, entstanden ist, ist klar. Aber diese Ideen oder Verbindungen mußten sich in einem ganz bestimmten Zustande befinden, und dieser Zustand konnte auf unserer Erde nur einmal im Entwicklungsgang des allgemeinen kosmischen Lebens liegen. Er trat mit Nothwendigkeit auf, und mit Nothwendigkeit war auch alsbald der erste Organismus, d.h. eine auf eine neue Weise sich bewegende chemische Verbindung da, gerade so, wie sich das Flüssige und dann das Feste zum ersten Male nur im nothwendigen Entwicklungsgang des Weltalls bilden konnten.

Deshalb konnte die generatio aequivoca auf unserem Planeten nur einmal auftreten, denn im weiteren Fortgang des kosmischen Lebens kam kein Tag mehr, wo die chemischen Ideen einen Zustand gehabt hätten, der nöthig ist, um sie zu einem Organismus zusammentreten zu lassen.

Dieser Ursprung und die Thatsache, daß das organische Leben |

i338 sich nur an sich selbst entzünden kann, stellen jeden Organismus auf die Stufe beschränkter Selbständigkeit, die die einfachen chemischen Ideen einnehmen, und verleihen ihm, so zu sagen, die Würde, welche diese haben, ob er gleich nur durch sie sich im Dasein erhalten kann.

In welcher Menge die ersten Organismen auftraten, ist völlig gleichgültig. Die Organisation, die neue Form, war vorhanden. Sie war mit Nothwendigkeit aufgetreten, mit Nothwendigkeit erhielt sie sich im Dasein, mit Nothwendigkeit bildete sie sich im weiteren Entwicklungsgang des All’s aus und mit Nothwendigkeit wird sie dereinst zerbrechen und wieder verschwinden, wenn sie ihre Arbeit beendet hat.

Es erhellt aus unseren bisherigen Untersuchungen, daß das ganze Reich der Organismen nur eine bessere Form für die Abtödtung der im Weltall thätigen Kraftsumme ist. Jeder Organismus folgt seinem Triebe, aber, indem er es thut, ist er dienendes Glied des Ganzen. Er ist eine Form, die ihr individuelles Leben führt und ihren Trieben folgt, die jedoch, im dynamischen Zusammenhang mit allen anderen Individualitäten stehend, chemische Ideen einläßt, sie in den Wirbel ihrer individuellen Bewegung zieht und dann ausstößt, nicht mehr als dieselben, sondern geschwächt, wenn auch die Schwächung der Beobachtung entschlüpft und erst am Ende großer Entwicklungsperioden der verbindenden Wahrnehmung sich enthüllt.

Hier möchte es scheinen, als ob der Mensch, welcher in moralischer Begeisterung die Virginität gluthvoll erfaßt, um den absoluten Tod, die volle und ganze Erlösung vom Dasein zu erlangen, in einem bedauerlichen Wahn liege; ferner, daß er, in der ganzen oder partiellen Verneinung des Willens zum Leben (Bejahung des Willens zum Tode) stehend, gegen die Natur, gegen das Weltall und seine Bewegung aus dem Sein in das Nichtsein handle. Aber wir dürfen getrost sein: es scheint nur so, wie ich jetzt zeigen werde.

 

17.

Der den Willen zum Leben wirksam Verneinende erntet im Tode die volle und ganze Vernichtung des Typus. Er zerbricht seine Form, und keine Macht im Weltall kann sie neubilden: sie ist für immer, in ihrer Eigenthümlichkeit und der damit verbundenen Qual und Daseinspein, aus dem Buche des Lebens gestrichen. Und |

i339 mehr kann er nicht verlangen, mehr verlangt er auch nicht. Durch Enthaltung vom geschlechtlichen Genusse hat er sich von der Wiedergeburt befreit, vor der sein Wille zurückschaudert, wie der Rohe vor dem Tode. Sein Typus ist erlöst: das ist sein süßer Lohn.

Dagegen findet Derjenige, welcher seinen Willen zum Leben wirksam bejaht hat, keine Erlösung im Tode. Sein Typus geht allerdings auch unter und löst sich in seine Elemente auf; aber in der Wirklichkeit hat er bereits seine neue mühselige Wanderung angetreten, auf einem Wege, dessen Länge unbestimmbar ist.

Die Elemente nun, aus denen der Typus zusammengesetzt ist, bleiben in seinem Tode bestehen. Sie verlieren das typische Gepräge, die typische Besonderheit, greifen in das allgemeine kosmische Leben von Neuem ein, bilden chemische Verbindungen oder treten in andere Organismen, deren Leben sie unterhalten. Daß sie bestehen bleiben, kann jedoch den Weisen nicht beunruhigen; denn erstens können sie nie mehr zu seinem individuellen Typus zusammentreten; dann weiß er sie auf der sicheren Bahn der Erlösung.

 

18.

Wenden wir uns zum zweiten Einwand. Der in der Verneinung des Willens zum Leben Stehende soll gegen die Natur handeln, indem er den Geschlechtstrieb unterdrückt.

Hierauf ist zunächst ganz allgemein zu antworten, daß in einem Weltall, das in festem dynamischem Zusammenhang steht und durchaus von der Nothwendigkeit beherrscht wird, absolut Nichts geschehen kann, was gegen die Natur wäre. Der Heilige trat mit einem ganz bestimmten Charakter und einem ganz bestimmten Geiste in’s Leben, und beide wurden im Strome der Welt ausgebildet. So kam der Moment mit Nothwendigkeit, wo sein Wille sich an der Erkenntniß entzünden und in die Verneinung hinein mußte. Wo ist in diesem ganzen individuellen Entwicklungsgang auch nur das kleinste Häkchen, woran man den thörichten Einwand hängen könnte? Weit davon entfernt, gegen die Natur zu handeln, steht der Heilige ja mitten in der Bewegung des Weltalls, und wenn in seinem Tode sein Typus dem Weltall entfällt, so hat dies eben, mit Absicht auf den Zweck des Ganzen, geschehen müssen.

Dann haben wir darauf hinzuweisen, daß Derjenige, welcher den Geschlechtstrieb unterdrückt, einen Kampf kämpft, wodurch die |

i340 Kraftsumme im Weltall wirksamer geschwächt wird, als durch die vollste Hingabe an das Leben. Wie Montaigne sehr richtig bemerkt, ist es leichter, einen Küraß durch das ganze Leben zu tragen, als keusch zu sein:

(Je trouve plus aysé de porter une cuirasse toute sa vie, qu’un pucellage, et est le voeu de la virginité le plus noble de tous les voeux comme estant le plus aspre.)

(Sur des Vers de Virgile.)

und die Inder sagen: es ist leichter, einem Tiger die Beute aus dem Rachen zu reißen, als den Geschlechtstrieb unbefriedigt zu lassen. Wenn aber dies der Fall ist, so steht, auch in dieser Hinsicht, der Heilige im Dienste der Natur: er opfert ihr in Treue und beschleunigt dadurch ihren Lauf in wirksamster Weise.

Während der Lebenstrunkene die Kraft zum

Futter seiner Leidenschaft macht,

(Hebbel, Judith.)

und

der Reiter ist, den seine Rosse verzehren,

(ib.)

verwendet der Keusche die Kraft dazu, um sich selbst zu beherrschen.

Der Kampf, welchen das Weltkind mit der Welt führt und dann in seinen Nachkommen fortsetzt, unaufhörlich auf Actionen von außen reagirend, den verlegt, demuthsvoll und stolz zugleich, muthig wie kein Anderer, das Kind des Lichts in die eigene Brust und ficht ihn aus, aus tausend Wunden blutend. Während das Kind der Welt in tollem Jubel ausruft:

Es ist so einzig schön durch’s Leben selbst zu sterben! den Strom anschwellen zu lassen, daß die Ader, die ihn aufnehmen soll, zerspringt! die höchste Wollust und die Schauder der Vernichtung in einander zu mischen!

(ib.)

wählt der Weise die Schauder der Vernichtung allein, indem er das absolute Nichts erwägt, und verzichtet auf die Wollust; denn nach der Nacht kommt der Tag, nach dem Sturm der süße Herzensfriede, nach dem Gewitterhimmel das reine Aethergewölbe, dessen Glanz ein kleines Wölkchen (die Beunruhigung durch den Geschlechtstrieb) |

i341 seltener und immer seltener trübt, und dann der absolute Tod: Erlösung vom Leben, Befreiung von sich selbst!

Der weise Held, die reinste und herrlichste Erscheinung in der Welt, schafft sich in dieser das wahre und echte Glück, und indem er es thut, fördert er, wie kein Anderer, die Bewegung des Weltalls aus dem Sein in das Nichtsein. Denn erstens weiß er, daß seine Form im Tode zerbrochen wird, und »diesen sicheren Schatz im Busen tragend,« vollständig befriedigt und Nichts mehr für sich in der Welt suchend, weiht er sein Leben dem Leben der Menschheit. Hierdurch aber und durch den siegreich beendeten Kampf in seiner Brust, hat er auch, wann er einst aus dem Himmelreich seines Herzensfriedens in die Vernichtung eingeht, glorreich die Arbeit vollbracht, die er als Organismus für das Weltall vollbringen mußte.

 

19.

Wir haben erkannt, daß das organische Reich die vollkommenste Form für die Abtödtung der es durchkreisenden chemischen Ideen sei, und bemerkten, daß es dereinst mit derselben Nothwendigkeit, mit der es entstanden ist, zerbrechen und verschwinden werde. Dieses Ereigniß und dann den Untergang des Weltalls, die volle und ganze Vernichtung der in der Welt thätigen Kraftsumme, haben wir jetzt in’s Auge zu fassen.

Wir schlossen die Physik mit der sich aus ihr ergebenden Folgerung:

Die Welt ist unzerstörbar. Die Bewegung des unorganischen Reichs ist eine endlose Kette von Verbindungen und Entbindungen; die des organischen Reichs eine fortschreitende endlose Entwicklung von niederen zu höheren Lebensformen; aber die in der Welt enthaltene Kraft schwächt sich in dieser Bewegung continuirlich.

Zugleich behielten wir uns vor, dieses Resultat in der Metaphysik nochmals zu prüfen. Dies haben wir im Vorhergehenden indirekt bereits gethan und haben somit zu erklären, daß das Resultat der Physik ein wesentlich einseitiges war. Das ganze Weltall bewegt sich, continuirlich seine Kraft schwächend, aus dem Sein in das Nichtsein, und die Entwicklungsreihen, denen wir schon in der Analytik einen Anfang geben mußten, werden auch ein |

i342 Ende haben: sie sind nicht endlos, sondern münden in das reine absolute Nichts, in das nihil negativum.

Wenn wir schon in der Politik, wo wir den Entwicklungsgang der Menschheit, den sichersten Theil unserer Erfahrung, verfolgten, nicht wagten, im Einzelnen seinen Verlauf aus der Gegenwart zum idealen Ziele in der Zukunft zu bestimmen, sondern nur wenige hervorragende Formen namhaft machten, durch welche er gehen muß, so werden wir jetzt, wo wir den ferneren Verlauf der ganzen Welt, von welcher uns nur ein verschwindend kleiner Theil als Erfahrung gegeben ist, construiren sollen, mit der größten Vorsicht vorangehen und uns nur auf das logisch Gewisse stützen.

Obgleich wir nur ganz wenige Vorgänge im Weltall kennen und unser Wissen, mit Absicht auf die ganze Natur, fragmentarisch und lediglich Stückwerk ist, so haben wir doch die unerschütterliche Gewißheit, daß Alles in der Welt mit Nothwendigkeit geschehen ist, geschieht und geschehen wird. Jedes Ereigniß, es sei uns bekannt oder unbekannt, trat mit Nothwendigkeit ein und hatte nothwendige Folgen. Alles aber geschah und geschieht, um bildlich zu reden, eines einzigen Zieles, des Nichtseins wegen.

Hiernach kann uns unsere Unkenntniß der Revolutionen, welche auf sämmtlichen Sternen stattgefunden haben, keinen Schmerz verursachen. Ob auf allen oder auf den meisten oder noch auf gar keinem organisches Leben überhaupt entstanden ist, oder ob es bereits wieder erloschen ist, ist uns gleichgültig. Wir kennen das Ziel der Welt, und wissen, daß die Mittel, um es zu erreichen, mit höchster Weisheit gewählt worden sind.

Wir sehen deshalb einstweilen vom Weltall ganz ab und richten unseren Blick ausschließlich auf unseren Planeten.

Es ist die Menschheit, welche uns hier den ersten Anhaltepunkt giebt. Ich habe in der Politik nachgewiesen, daß sie, unter dem großen Gesetze des Leidens stehend, welches den Willen der Individuen immer schwächer, ihren Geist dagegen immer heller und umfassender macht, mit Nothwendigkeit in den idealen Staat und dann in das Nichtsein muß. Es ist nicht anders: es ist unerbittliches, unabänderliches Schicksal der Menschheit, und wohl ihr, wann sie in die Arme des Todes sinkt.

Es ist ganz gleichgültig, wie ich schon in der Politik bemerkte, ob die Menschheit das »große Opfer,« wie die Inder sagen, oder |

i343 »die Offenbarung der Kinder Gottes, wonach alle Creatur sich ängstlich sehnet,« wie Paulus sagt, in moralischer Begeisterung, oder durch Impotenz, oder in einem wilden, fanatischen Aufflackern der letzten Lebenskraft bringt. Wer kann es vorhersagen? Genug, das Opfer wird gebracht werden, weil es gebracht werden muß, weil es Durchgangspunkt für die nothwendige Entwicklung der Welt ist.

Ist es aber gebracht, so wird nichts weniger sich ereignen, als was man auf dem Theater einen Knalleffekt nennt. Weder die Sonne, noch der Mond, noch irgend ein Stern wird verschwinden, sondern die Natur wird ruhig ihren Gang fortsetzen, aber unter dem Einflusse der Veränderung, die der Tod der Menschheit hervorgebracht hat, und die vorher nicht da war.

Auch hier sind wir vorsichtig und rasen nicht mit Vernunft. Lichtenberg sagte einmal, daß eine Erbse, in die Nordsee geworfen, das Niveau des Meeres an der Japanesischen Küste erhöhe, obgleich die Niveauveränderung von keinem menschlichen Auge wahrzunehmen sei. Ebenso steht es logisch fest, daß ein Pistolenschuß, auf unserer Erde abgefeuert, seine Wirkung auf dem Sirius, ja an den äußersten Grenzen des unermeßlichen Weltalls geltend machen wird; denn dieses Weltall befindet sich durchgängig in gewaltigster Tension und ist kein schlappes, läppisches, armseliges sogenanntes Unendliches. Wir werden uns also wohl hüten, eine Hypothese aufzustellen, in der wir Schritt für Schritt die Folgen des großen Opfers aufsuchen; denn was brächten wir wohl Anderes zu Wege, als ein Phantasiegebilde, vom Werthe eines Märchens, das in funkelnder Sternennacht der Beduine seinen Genossen erzählt? Wir begnügen uns damit, einfach zu konstatiren, daß der Abgang der Menschheit von der Weltbühne Wirkungen haben wird, welche in der einen und einzigen Richtung des Weltalls liegen.

Wir können jedoch als so gut wie sicher hinstellen, daß die Natur aus den verbleibenden Thieren keine neuen menschenähnlichen Wesen hervortreten lassen wird; denn was sie mit der Menschheit bezweckte, d.h. mit der Summe von Einzelwesen, welche deshalb die denkbar höchsten Wesen im ganzen All sind, weil sie ihren innersten Kern aufheben können – (auf anderen Sternen können gleichwerthige, aber keine höheren Wesen existiren) – das findet |

i344 auch in der Menschheit seine ganze Erfüllung. Es wird keine Arbeit übrig bleiben, die eine neue Menschheit zu Ende bringen müßte.

Wir können ferner sagen, daß der Tod der Menschheit den Tod des ganzen organischen Lebens auf unserem Planeten zur Folge haben wird. Wahrscheinlich schon vor dem Eintritt der Menschheit in den idealen Staat, gewiß in diesem, wird dieselbe das Leben der meisten Thiere (und Pflanzen) in ihrer Hand halten, und sie wird ihre »unmündigen Brüder,« namentlich ihre treuen Hausthiere, nicht vergessen, wenn sie sich erlöst. Es werden die höheren Organismen sein. Die niederen aber werden, durch die herbeigeführte Veränderung auf dem Planeten, die Bedingungen ihrer Existenz verlieren und erlöschen.

Blicken wir jetzt wieder auf die ganze Welt, so lassen wir zunächst die Wirkung auf sie einfließen, welche die Erlöschung alles organischen Lebens auf der Erde auf sie, in allen ihren Theilen, ausüben muß, ohne uns anzumaßen, das »Wie« anzugeben. Dann halten wir uns an die Thatsache, welche wir den Astronomen verdanken, daß sämmtliche Weltkörper, durch den Widerstand des Aethers, ihre Bahnen allmählich verengern und schließlich alle in die echte Centralsonne stürzen werden.


Date: 2014-12-29; view: 420


<== previous page | next page ==>
Analytik des Erkenntnißvermögens. 25 page | Analytik des Erkenntnißvermögens. 27 page
doclecture.net - lectures - 2014-2025 year. Copyright infringement or personal data (0.017 sec.)