Ist es jedoch wahrscheinlich, daß die Bedingungen hierfür einreten? Ist es wahrscheinlich, daß, durch Congresse und Schiedsgerichte, Staaten zertrümmert und Völker vereinigt werden, welche verbunden sein wollen? Ist es wahrscheinlich, daß der Kampf des Staates mit der Kirche durch Gesetze allein geschlichtet wird? Steht die höchste Gewalt in jedem Staate auf der Seite des reinen Staatsgedankens? Ist es schließlich wahrscheinlich, daß die Capitalisten einen Tag haben werden, wie der 4. August 1789 für die Feudalen einer war?
Nein! dies Alles ist nicht wahrscheinlich. Wahrscheinlich ist dagegen, daß die Umwälzungen alle gewaltsam sein werden. Die Menschheit kann nur in heftigen Geburtswehen, unter Blitz und Donner, in einer Luft voll Fäulnißgeruchs und Blutdunsts, die Form und das Gesetz einer neuen Zeit in das Dasein werfen. |
i303 So lehrt die Geschichte, »das Selbstbewußtsein der Menschheit.« Aber die Umwälzungen werden sich rascher vollziehen und von weniger Gräueln begleitet sein: dafür sorgen die Guten und Gerechten, oder, mit anderen Worten, die zu einer Großmacht gewordene Humanität.
Es ist die Aufgabe der philosophischen Politik, den Gang der Menschheit, unter weiten Gesichtspunkten, in großen Zügen zu entwerfen, weil sie allein es kann. Aber es wäre Vermessenheit, die einzelnen Ereignisse bestimmen zu wollen.
In dieser Richtung darf sie, wenn sie ihrer Würde keinen Eintrag thun will, nur allgemeine Andeutungen geben und, der Fülle wirkender Ursachen auf den Grund blickend, Gruppirungen als wahrscheinlich bezeichnen.
Zunächst ist klar, daß keine der in Rede stehenden Umwälzungen in der nächsten Zukunft sich ganz rein vollziehen wird. In den Kampf des Staates mit der Kirche werden Bestrebungen, die im Nationalitätsprincip wurzeln, eingreifen, und zugleich wird die Fahne der Socialdemokratie entfaltet werden.
Im Vordergrunde aber steht der Kampf des Staates mit der Kirche, der Vernunft mit der Unwissenheit, der Wissenschaft mit dem Glauben, der Philosophie mit der Religion, des Lichtes mit der Finsterniß, und er wird der nächsten Geschichtsperiode die Signatur geben.
Wir haben ihn deshalb vorerst in’s Auge zu fassen.
Welche europäischen Nationen sich in diesem Kampfe gegenüberstehen werden, kann Niemand voraussagen. Dagegen ist sicher, daß Deutschland den Staatsgedanken vertreten, Frankreich auf der Seite der Kirche stehen wird.
Wer siegen wird, ist fraglich; aber wie auch der Krieg ausfallen möge – die Menschheit wird einen sehr großen Fortschritt machen.
Dies haben wir zu begründen.
Führt Frankreich einen reinen Rache-Krieg unter der Fahne Rom’s, unterstützt von Allen, welche, unter den Scherben zersprungener historischer Kategorien, ein lichtscheues, verbissenes, rachsüchtiges, armseliges und bornirtes Leben führen, so kann mit Bestimmtheit vorausgesagt werden, daß es, es stehe allein oder es habe mächtige Verbündete, schließlich unterliegen muß; denn wie sollte es |
i304 siegen können über eine Macht, die, weil sie, unter den gegebenen Bedingungen, in der Bewegung der Menschheit steht, ihre Kraft vertausendfacht durch die moralische Begeisterung, in welcher ihre Heerschaaren erglühen werden? Wie wird es in Deutschland brausen, wenn die zündende Loosung ausgegeben wird: Letzte und definitive Abrechnung mit Rom, mit Pfaffenlug und Pfaffentrug? Würde es einen einzigen verständigen Socialdemokraten geben, der dann nicht das Schwert ergriffe und spräche: Erst Rom, dann meine Sache!? O, welch ein Tag wäre dieser!
Schreibt dagegen Frankreich die Lösung der socialen Frage auf seine Fahne, gleichfalls unterstützt von Rom und allen ränkeschmiedenden Romantikern, die in der Illusion befangen sind, sie könnten, nach dem Siege, die Geister bannen, welche sie heraufbeschworen, – so ist es nicht gewiß, aber sehr wahrscheinlich, daß Deutschland nicht erfolgreich sein wird; denn dann steht Frankreich in der Bewegung der Menschheit, während Deutschland eine fest zusammengehaltene Macht nicht sein wird.
Im letzteren, wie im ersteren Falle ist aber Rom dem Untergang geweiht; denn ein Frankreich, das unter social-demokratischer Fahne gesiegt hat, muß die brüchige Form zu Boden werfen, daß sie in Splitter zerschellt, die nie mehr zusammengeleimt werden können.
Die große, gewaltige historische Form der römisch- katholischen Kirche ist reif für den absoluten Tod. Daß sie sich selbst hineintreibt und nicht hineingetrieben wird, daß sie mit eigener Hand das Zeichen der Vernichtung auf ihre Stirn gedrückt hat, das macht ihren Fall so tief tragisch und ergreifend. Sie hat, was man auch sagen möge, überaus segensreich für die Menschheit gewirkt. Sie hat, als politische Macht, den Streit vermehrt: ein großes Verdienst, und namentlich nach der Willensseite erfolgreich gehandelt. Den Geist verdüsterte sie nicht: sie ließ ihn nur verdüstert, aber die Herzen, die trotzigen, wilden und rebellischen, hat sie gebrochen mit ihren eisernen Händen und schneidigen Waffen. –
Erwägen wir beide Fälle aufmerksam, so werden wir finden, daß der erstere der wahrscheinlichere ist; denn wie sollte Frankreich unter social-demokratischer Fahne gegen Deutschland in den Kampf ziehen können? Die Verhältnisse des zerrissenen Landes in der Gegenwart geben keinen Anhaltspunkt dafür.
i305
43.
Wie nun auch der unabwendbare, in der Entwicklung der Dinge liegende neue Krieg mit Frankreich ausfallen möge, so ist gewiß, daß nicht nur die Macht der Kirche vernichtet, sondern auch die sociale Frage ihrer Lösung sehr nahe gebracht werden wird.
Siegt Frankreich, so muß es die Frage lösen. Siegt dagegen Deutschland, so sind zwei Fälle möglich.
Entweder entwickelt sich dann die sociale Bewegung machtvoll aus dem in sich vollständig zerrütteten Frankreich: es entsteht in ihm ein Brand, der alle Culturvölker ergreifen wird, oder Deutschland dankt großmüthig Denjenigen, deren Söhne den größten Theil seines siegreichen Heeres ausgemacht haben, indem es die schwersten Fesseln des Capitals von ihnen abstreift. Soll Deutschland nur berufen sein, geistige Probleme zu lösen? Ist es impotent auf ökonomischem Gebiete und kann es hier nur immer Anderen nachsinken? Warum soll das Volk, das Luther, Kant und Schopenhauer, Copernicus, Kepler und Humboldt, Lessing, Schiller und Goethe geboren hat, nicht zu dem Ruhmeskranz, Rom zum zweiten Male geschlagen und diesmal zerschlagen zu haben, nicht auch den anderen fügen können, die sociale Frage gelöst zu haben? –
Hier ist auch der Ort, den Kosmopolitismus und die moderne Vaterlandsliebe zu beleuchten und die gesunde Verbindung beider festzustellen. Ersterer ist, in unserer Zeit, nur im Princip festzuhalten, d.h. es darf nicht aus den Augen verloren werden, daß alle Menschen Brüder und berufen sind, erlöst zu werden. Aber es herrschen jetzt noch die Gesetze der Ausbildung des Theils und der Völkerrivalität. Die Grundbewegung ist noch nicht, als eine einheitliche, auf die Oberfläche gekommen, sondern legt sich hier noch in verschiedene Bewegungen auseinander. Diese müssen erst zusammengefaßt werden, um das Bild jener zu geben, d.h. jene muß sich aus den verschiedenartigen Bestrebungen der einzelnen Nationen erzeugen. Es hat sich demnach der Wille des Individuums, die ganze Menschheit im Auge behaltend, an der Mission seines Vaterlandes zu entzünden. In jedem Volke herrscht der Glaube an eine solche Mission, nur ist sie bald eine höhere, bald eine tiefere; denn das nächste Bedürfniß entscheidet, und die Gegenwart behält Recht. So ist die Mission eines Volkes, dem noch die Einheit fehlt, sich zunächst die Einheit zu erringen, und seine Bürger |
i306 mögen für das Nähere eintreten, im Vertrauen, daß ein günstiger situirtes Brudervolk inzwischen das höhere Ziel erreicht und die Befruchtung alsdann nicht ausbleiben kann.
Es gilt also für die Geschichtsperiode, in der wir leben, das Wort: Aus Kosmopolitismus sei Jeder ein opferwilliger Patriot.
44.
Ich kann nicht oft genug wiederholen, und jeder Einsichtige, der die Fäden verfolgt, welche aus dem Dunkel des Alterthums bis in die Gegenwart reichen und die Richtung ihres Laufs in die Zukunft deutlich zeigen, wird zustimmen: daß die sociale Bewegung in der Bewegung der Menschheit liegt, und daß sie, sie vollziehe sich nun halbfriedlich, oder, wie die französische Revolution, unter den entsetzlichsten Gräueln und dem Gewimmer der gewaltsam vom Baume des Lebens in die Nacht des Todes Abgestoßenen, nicht aufzuhalten ist.
Wie es dem Marius gelungen ist, die Cimbern und Teutonen zu vernichten, so gelang es dem Bürgerthum, die Arbeiter 1848 zurückzuschlagen und andere socialistische Erhebungen, die inzwischen in mehreren Ländern stattfanden, zu unterdrücken. Können aber mindestens 4/5des Volkes auf die Dauer, durch die heutige Productionsweise, von den Schätzen der Wissenschaft ausgeschlossen bleiben? Gewiß nicht; so wenig als die Plebejer Rom’s auf die Dauer von den Aemtern fern zu halten waren, so wenig als das Bürgerthum selbst auf die Dauer von der Regierung des Staates ausgeschlossen bleiben konnte.
Die Civilisation tödtet, sagte ich oben. Naturgemäß schwächt sie die höheren Schichten der Gesellschaft mehr als die unteren, weil sich das Individuum jener rascher ausleben kann. Es steht unter dem Einflusse vieler Motive, welche viele Begierden erwecken, und diese verzehren die Lebenskraft.
Karger Mangel ist der beste Boden für die Menschenpflanze, sagt der conservative Staatsmann.
Treibhauswärme muß die Menschenpflanze haben, sagt der immanente Philosoph.
Die ältesten Urgeschlechter des hohen Adels sind gegen das Ende des Mittelalters fast alle ausgestorben. Wie der einzelne |
i307 Mensch von hinnen geht, wenn er seine Sendung erfüllt hat, so treten auch die Geschlechter und Familien ab, wenn das Maß ihres Wirkens voll ist. Das stolzeste Haus, dem zahlreiche Sprößlinge noch eine vielhundertjährige Dauer zu verheißen scheinen, erlöscht oft plötzlich.
(Riehl.)
Die Corruption und Verdorbenheit in den oberen Classen der heutigen Gesellschaft ist groß. Der Aufmerksame findet in ihnen alle Fäulnißerscheinungen wieder, welche ich am absterbenden römischen Volke gezeigt habe.
Ueberall nun, wo Fäulniß in der Gesellschaft auftritt, offenbart sich das Gesetz der Verschmelzung; denn die Civilisation hat, wie ich mich bildlich ausdrückte, das Bestreben, ihren Kreis zu erweitern, und sie schafft gleichsam die Fäulniß, damit wilde Naturvölker, angelockt, ihre langsame Bewegung aufgeben und sie mit der raschen der Civilisation vertauschen.
Wo sind aber die wilden Naturvölker, welche jetzt in die Staaten eindringen könnten?
Es ist wahr: die Lebenskraft der romanischen Nationen ist kleiner als die der germanischen, und die Kraft dieser geschwächter als die der slavischen Völker. Aber eine Völkerwanderung kann nicht mehr stattfinden; denn alle diese Nationen sind bereits in einem geschlossenen Kreise der Civilisation und in jeder dieser Nationen, in Rußland so gut als in Frankreich, ist die Fäulniß vorhanden.
Die Regeneration kann also nur von unten herauf stattfinden, nach dem Gesetze der Verschmelzung im Innern, dessen Folgen aber diesmal andere sein werden, als die in Griechenland und Rom waren. Erstens existiren keine persönlich Unfreien mehr, dann sind die Mauern zwischen den Ständen schon halb zertrümmert. Das Gesetz wird deshalb die Nivellirung der ganzen Gesellschaft herbeiführen.
Wenn die Mittagssonne der Civilisation die Ebenen bereits versengt hat, dann wird von den culturarmen Berg- und Hochländern der Odem eines ungebrochenen, naturfrischen Volksgeistes, wie Waldesluft, wieder neubelebend über sie hinziehen.
(Riehl.)
Aber nicht nur die Bauern, sondern auch die Arbeiter, die hektischen, aber gleichfalls ungebrochenen, werden, unwiderstehlich |
i308 getrieben vom Genius der Menschheit, die künstlichen Dämme einreißen, und es wird in jedem Staate eine einzige nivellirte Gesellschaft vorhanden sein.
45.
Es ist klar, daß die sociale Frage nicht vorhanden, eine Lösung derselben also gar nicht zu erstreben wäre, wenn alle Menschen Weise (oder auch nur gute Christen) wären; aber eben weil die Menschen alle Weise werden sollen, da sie nur als solche Erlösung finden können, ist die sociale Frage vorhanden und muß gelöst werden.
Jetzt nehmen wir den höchsten Standpunkt ein.
Es ist die größte Thorheit zu sagen, daß die socialen Zustände keiner durchgreifenden Verbesserung fähig seien. Aber ebenso thöricht ist es zu sagen, daß eine radicale Veränderung derselben ein Schlaraffenleben begründen würde.
Gearbeitet muß immer werden, aber die Organisation der Arbeit muß eine solche sein, daß Jedem alle Genüsse, welche die Welt bieten kann, zugänglich sind.
Im Wohlleben liegt kein Glück und keine Befriedigung; folglich ist es auch kein Unglück, dem Wohlleben entsagen zu müssen. Aber es ist ein großes Unglück, ein Glück in das Wohlleben zu setzen und nicht erfahren zu können, daß kein Glück darin liegt.
Und dieses Unglück, das nagende und das Herz durchzuckende, ist die treibende Kraft im Leben der niederen Volksgruppen, welche sie auf den Weg der Erlösung peitscht. Es verzehren sich die Armen in Sehnsucht nach den Häusern, den Gärten, den Gütern, den Reitpferden, den Carossen, dem Champagner, den Brillanten und Töchtern der Reichen.
Nun gebt ihnen all diesen Tand und sie werden wie aus den Wolken fallen. Dann werden sie klagen: wir haben geglaubt, so glücklich zu sein, und es hat sich in uns Nichts wesentlich geändert.
Satt von allen Genüssen, welche die Welt bieten kann, müssen erst alle Menschen sein, ehe die Menschheit reif für die Erlösung werden kann, und da ihre Erlösung ihre Bestimmung ist, so müssen die Menschen satt werden, und die Sättigung führt nur die gelöste sociale Frage herbei.
i309 So läßt sich der Erfolg der socialen Bewegung aus der Gerechtigkeit (Humanität), aus der rein politischen Rivalität der Nationen, aus der Fäulniß im Staate selbst und aus dem allgemeinen Schicksal der Menschheit ableiten. Die moderne sociale Bewegung ist eine nothwendige Bewegung, und wie sie mit Nothwendigkeit aufgetreten ist, so wird sie auch mit Nothwendigkeit zum Ziele kommen: zum idealen Staate.
46.
Im Bisherigen haben wir, im Allgemeinen, die Veränderungen zu bestimmen gesucht, welche auf politischem und ökonomischem Gebiete eintreten werden; jetzt wollen wir die Entwicklung des rein geistigen Lebens in der Zukunft verfolgen.
Nehmen wir die Kunst zuerst.
Der Kunst kann man nur eine beschränkte Weiterbildung zusprechen. In der Architektur ist das Formal-Schöne des Raumes, durch orientalische, griechische, römische, maurische und gothische Kunst, fast, wenn nicht ganz, erschöpft. Nur die Combination der Formen und die Verschiebung der Maßverhältnisse bieten einen kleinen Spielraum.
Die Schönheit der menschlichen Gestalt ist von den griechischen Bildhauern und großen italienischen Malern unübertrefflich und vollendet gebildet worden. Das Menschengeschlecht nimmt täglich an Schönheit ab, und es kann deshalb nie ein anderes besseres Ideal aufgestellt werden. Insofern aber das Innerste des menschlichen Wesens in die Erscheinung leuchtet, kann über die christliche Skulptur und Malerei nicht hinaus gegangen werden. Nur der realistischen bildenden Kunst bleibt Raum zur Hervorhebung großer geschichtlicher Momente und der Darstellung großer Männer.
In der Musik darf man billig, nach Bach, Händel, Gluck, Haydn, Mozart und Beethoven, eine Weiterbildung nur in engen Grenzen zugeben.
Nur der Dichtkunst bleibt noch ein hohes Ziel. Sie hat neben den optimistischen Faust, der, thätig und schaffend, im Leben an sich scheinbare Befriedigung fand:
Den letzten, schlechten, leeren Augenblick
Der Arme wünscht ihn fest zu halten!
i310 den pessimistischen zu stellen, der sich den echten Seelenfrieden erkämpfte. Der geniale Meister wird sich hierzu finden. –
Die Naturwissenschaften haben noch ein weites Arbeitsfeld vor sich; aber sie müssen und werden zu einem Abschlusse kommen. Die Natur kann ergründet werden, denn sie ist rein immanent, und nichts Transscendentes, was immer auch sein Name sei, greift, coexistirend mit ihr, in sie ein.
Die Religion wird, in dem Maße als die Wissenschaft wächst, immer weniger Bekenner finden. Die Verbindung des Rationalismus mit der Religion (Deutsch- Katholicismus, Alt- Katholicismus, Neu- Protestantismus, Reform- Judenthum etc.) beschleunigt ihren Untergang und führt zum Unglauben wie der Materialismus.
Das reine Wissen dagegen zerstört nicht den Glauben, sondern ist seine Metamorphose; denn die reine Philosophie ist die durch die Vernunft geläuterte, im Grunde aber doch nur bestätigte Religion der Liebe. Das reine Wissen ist deshalb nicht der Gegensatz des Glaubens. Früher mußte man, wegen unreifer Erkenntniß, an die Erlösung der Menschheit glauben; jetzt weiß man, daß die Menschheit erlöst wird.
Man kann auch die Bewegung der Menschheit, mit Absicht auf die Haupteinwirkung des Denkens auf den Willen, bestimmen als Bewegung durch den Aberglauben (Furcht) zum Glauben (selige Verinnerlichung), durch diesen zum Unglauben (trostlose Oede) und durch den Unglauben schließlich zum reinen Wissen (moralische Liebe).
Die Philosophie selbst endlich wird gleichfalls einen Abschluß finden. Ihr Endglied wird die absolute Philosophie sein.
Wenn einmal die absolute Philosophie gefunden wird, dann ist die rechte Zeit für den jüngsten Tag gekommen,
ruft Riehl scherzhaft aus. Wir heben das kecke Wort mit Ernst auf.
So tendirt Alles auch auf geistigem Gebiete nach Vollendung, nach Abschluß, nach reiner Arbeit.
Darin aber werden sich die folgenden Perioden von den vergangenen unterscheiden, daß Kunst und Wissenschaft immer tiefer in das Volk eindringen werden, bis die ganze Menschheit von ihnen durchdrungen ist. Das Verständniß für die Werke der genialen Künstler wird immer entwickelter werden. Dadurch wird die aesthe|tische
i311 Freude häufiger in das Leben jedes Menschen treten und sein Charakter immer mehr Maß gewinnen. Die Wissenschaft wird ferner Gemeingut und die Aufklärung der Massen zur Thatsache werden.
47.
Auf diese Weise wird endlich der ideale Staat in die Erscheinung treten.
Was ist der ideale Staat?
Er wird die historische Form sein, welche die ganze Menschheit umfaßt. Wir werden jedoch diese Form nicht näher bestimmen, denn sie ist durchaus Nebensache: die Hauptsache ist der Bürger des idealen Staates.
Er wird sein, was Einzelne seit Beginn der Geschichte gewesen sind: ein durchaus freier Mensch. Er ist dem Zuchtmeister der historischen Gesetze und Formen vollständig entwachsen und steht, frei von allen politischen, ökonomischen und geistigen Fesseln, über dem Gesetz. Zersplittert sind alle äußeren Formen: der Mensch ist vollkommen emancipirt.
Alle Triebfedern sind allmählich aus dem Leben der Menschheit geschwunden: Macht, Eigenthum, Ruhm, Ehe; alle Gefühlsbande sind allmählich zerrissen worden: der Mensch ist matt.
Sein Geist beurtheilt jetzt richtig das Leben und sein Wille entzündet sich an diesem Urtheil. Jetzt erfüllt das Herz nur noch die eine Sehnsucht: ausgestrichen zu sein für immer aus dem großen Buche des Lebens. Und der Wille erreicht sein Ziel: den absoluten Tod.
48.
Im idealen Staate wird die Menschheit das »große Opfer,« wie die Inder sagen, bringen, d.h. sterben. In welcher Weise es gebracht werden wird, kann Niemand bestimmen. Es kann auf einem allgemeinen moralischen Beschluß beruhen, der sofort ausgeführt wird, oder dessen Ausführung man der Natur überläßt. Es kann aber auch in anderer Weise bewerkstelligt werden. Jedenfalls wird das Gesetz der geistigen Ansteckung, welches sich so machtvoll beim Auftreten des Christenthums, in den Kreuzzügen (und neuerdings in den Wallfahrten in Frankreich und in der Betseuche in Amerika) offenbarte, die letzten Vorgänge in der Mensch|heit
i312 leiten. Es wird sein wie zur Zeit Dante’s, wo das Volk die Straßen von Florenz mit dem Rufe durchzog:
Morte alla nostra vita! Evviva la nostra morte!
(Tod unserem Leben! Hoch lebe unser Tod!) – – –
Man könnte hier auch die Frage aufwerfen, wann das große Opfer gebracht werden wird.
Blickt man lediglich auf die dämonische Macht des Geschlechtstriebs und die große Liebe zum Leben, welche fast alle Menschen zeigen, so ist man versucht, den Zeitpunkt für die Erlösung der Menschheit in die fernste, fernste Zukunft zu stellen.
Erwägt man dagegen die Stärke der Strömungen auf allen Gebieten des Staates; die Hast und Ungeduld, die jede Brust dämonisch erzittern macht; die Sehnsucht nach Ruhe auf dem Grund der Seele; erwägt man ferner, daß um alle Völker bereits unzerreißbare Fäden gesponnen sind, die sich täglich vermehren, so daß kein Volk mehr einen langsamen, abgeschlossenen Culturgang haben kann; daß wilde Völker, in den Strudel der Civilisation getrieben, in eine am Marke ihrer Kraft zehrende Aufregung kommen, gleichsam fieberkrank werden; erwägt man endlich die ungeheuere Gewalt der geistigen Ansteckung – so giebt man der Civilisation keinen längeren Lauf als ein platonisches Jahr, das man 5000 v. Chr. beginnen lassen kann. Dann aber, wenn man bedenkt, daß hiernach die Menschheit noch über 3000 Jahre sich hinschleppen müßte, läßt man auch diese Bestimmung fallen, und es scheint ein Zeitraum von nur noch wenigen Jahrhunderten der größte zu sein, den man annehmen darf.
49.
Blicken wir zurück, so finden wir bestätigt, daß die Civilisation die Bewegung der ganzen Menschheit und die Bewegung aus dem Leben in den absoluten Tod ist. Sie vollzieht sich in einer einzigen Form, dem Staate, der verschiedene Gestaltungen annimmt, und nach einem einzigen Gesetze, dem Gesetze des Leidens, dessen Folge die Schwächung des Willens und das Wachsthum des Geistes (Umbildung der Bewegungsfactoren) ist. Das Gesetz legt sich in verschiedene Gesetze auseinander, welche ich zusammenstellen |
i313 will. Das Schema erhebt indessen durchaus keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Leibeigenschaft,Hörigkeit ÙÚÜÛ Feudalstaat Absoluter Staat Ö×ØÖ×ÜØ christliche Kirche ,, KunstScholastische PhilosophieEvangelische KircheRenaissanceMusikKritische Philosophie
Capital – Welthandel Industrie Constitutionelle Monarchie ÖÜ×ÜØ Moderne NaturwissenschaftenStaatswissenschaftenRationalismusMaterialismus
Productiv-AssociationenÜ ÜAllgemeine Organisation der Arbeit Vereinigte StaatenÜ ÜIdealer Staat Reine PhilosophieÜ ÜAbsolute Philosophie.
50.
Die Menschheit ist zunächst ein Begriff; ihm entspricht in der Wirklichkeit eine Gesammtheit von Individuen, welche allein real sind und sich, vermittelst der Zeugung, im Dasein erhalten. Die Bewegung des Individuums aus dem Leben in den Tod giebt, in Verbindung mit seiner Bewegung aus dem Leben in das Leben, die Bewegung aus dem Leben in den relativen Tod, welche jedoch, da in diesen kontinuirlichen Uebergängen der Wille geschwächt und die Intelligenz gestärkt wird, auf dem Grunde die spiralförmige Bewegung aus dem Leben in den absoluten Tod ist.
Die Menschheit muß dieselbe Bewegung haben, da sie ja nichts weiter ist, als die Gesammtheit der Individuen. Jede Definition ihrer Bewegung, welche den absoluten Tod nicht als Zielpunkt enthält, ist zu kurz, weil sie nicht sämmtliche Vorgänge deckt. Wäre die wahre Bewegung nicht deutlich zu erkennen, so müßte die immanente Philosophie den absoluten Tod, als Zielpunkt, postuliren.
Alle individuellen Lebensläufe: die kurze Lebenszeit von Kindern, von Erwachsenen, die der Tod vernichtet, ehe sie zeugen konnten, und die lange Lebenszeit solcher Menschen, welche auf die Kinder ihrer Kindeskinder blicken, müssen sich, wie auch alle Lebensläufe |
i315 von Menschengruppen (von Indianerstämmen, Südsee- Insulanern) zwanglos in die aufgestellte Bewegung der Menschheit einreihen lassen. Ist dies in einem einzigen Falle nicht thunlich, so ist die Definition falsch.
Die Bewegung der Menschheit aus dem Sein in das Nichtsein deckt nun alle, alle besonderen Bewegungen. Der Denker, der sie erkannt hat, wird kein Blatt der Geschichte mehr mit Erstaunen lesen, noch wird er klagen. Er wird weder fragen: was haben die Einwohner Sodom’s und Gomorrha’s verschuldet, daß sie untergehen mußten? was haben die 30,000 Menschen verschuldet, die das Erdbeben von Riobomba in wenigen Minuten vernichtete? was die 40,000 Menschen, welche bei der Zerstörung Sidon’s den Flammentod fanden? noch wird er klagen über die Millionen Menschen, welche die Völkerwanderung, die Kreuzzüge und alle Kriege in die Nacht des Todes gestoßen haben. Die ganze Menschheit ist der Vernichtung geweiht.
Die Bewegung selbst unserer Gattung resultirt (wenn wir von den sonstigen Einflüssen der Natur absehen) aus den Bestrebungen aller Menschen, wie ich am Anfang der Politik bereits sagte. Sie entsteht aus den Bewegungen der Guten und Schlechten, der Weisen und Narren, der Begeisterten und Kalten, der Kühnen und Verzagten, und kann deshalb kein moralisches Gepräge tragen. Sie erzeugt in ihrem Verlauf Gute und Schlechte, Weise und Narren, Moralisch- Begeisterte und Verruchte, weise Helden und Bösewichter, Erzschelme und Heilige, und erzeugt sich wiederum aus den Bewegungen dieser. An ihrem Ende aber stehen nur noch Müde, Ermattete, Todtmüde und Flügellahme.
Und dann senkt sich die stille Nacht des absoluten Todes auf Alle. Wie sie Alle, im Moment des Uebergangs, selig erbeben werden: sie sind erlöst, erlöst für immer!