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Analytik des Erkenntnißvermögens. 23 page

 

38.

Die Zustände auf ökonomischem Gebiete vergrößerten die Kluft zwischen den drei oberen Ständen und dem neuen vierten Stande täglich mehr, bis in letzterem das Classenbewußtsein erwachte. Die Arbeiter forderten in Frankreich Wahlreform, weil die Kammer nicht der entsprechende Ausdruck des Volkswillens sei. Die Weigerung des Königs erregte den Sturm, und am 24. Februar 1848 brach die Revolution aus. Man berief einen Arbeiter in die provisorische Regierung, machte dem Staate die Verbesserung der Lage der niederen arbeitenden Classe zur Pflicht und proclamirte das direkte und allgemeine Wahlrecht, wodurch jeder unbescholtene Bürger, der älter als 21 Jahre war, einen Einfluß auf den Staatswillen erhielt.

Die Republik ging jedoch zu Grunde, sowohl an der Spaltung der socialistischen Parteien, als an den Intriguen der Bourgeoisie, welche erkannt hatte, daß die Reformen ihre Macht bedrohten. Aber das Volk hatte in einen hellen Osten gesehen, und seitdem lebt in ihm die Gewißheit, daß die Sonne hervorbrechen und leuchten wird über eine nivellirte Gesellschaft, welche die ganze Menschheit ist.

Goethe sagt sehr richtig:

Die Welt soll nicht so rasch zum Ziele, als wir denken und wünschen. Immer sind die retardirenden Dämonen da, die |

i291 überall dazwischen und überall entgegentreten, so daß es zwar im Ganzen vorwärts geht, aber sehr langsam.

Wie Sterne still zu stehen, ja, rückläufig zu sein scheinen, so scheint auch dem in das Einzelne versunkenen Geist die Menschheit bald stille zu stehen, bald rückläufig. Der Philosoph aber sieht überall nur resultirende Bewegung, und zwar eine stetige Vorwärtsbewegung der Menschheit.

 

39.

Wir haben jetzt, mit Vorsicht und Umsicht, einen Blick in die Zukunft der Menschheit zu werfen, indem wir die Richtung der auf dem rein politischen, ökonomischen (social- politischen) und rein geistigen Gebiete der Gegenwart herrschenden Strömungen verfolgen.

In Europa stehen die rein politischen Erscheinungen zur Zeit unter drei großen Gesetzen: unter dem Nationalitätsgesetze, dem Gesetze des Humanismus und dem Gesetze der Ablösung des Staates von der Kirche, d.h. der Vernichtung der Kirche.

Dem ersteren Gesetze gemäß werden alle kleinen Staaten, welche entweder aus dem Mittelalter stammen und in künstlicher Absonderung sich erhalten haben, oder nach den Napoleon’schen Kriegen nach Laune geschaffen wurden, in den allgemeinen Strom des Werdens gerissen, halb gezogen, halb aus sich selbst in ihn getrieben. Die Völker mit gemeinsamer Sprache, Sitte und Cultur suchen, mit unwiderstehlicher Gewalt, die staatliche Einheit, damit sie in dem furchtbaren Kampfe der Nationen um die politische Existenz nicht unterliegen und vergewaltigt werden. Dieses Streben drängt auch gegen die Wände großer Staaten, welche Völker verschiedener Nationalität in sich schließen.



Das zweite Gesetz offenbart sich in sehr verschiedenartigen Erscheinungen. Zunächst im Innern der Culturstaaten: jeder Mensch, was immer auch seine Stellung sei, wird als das kostbarste, wichtigste und unantastbarste Wesen in der Welt angesehen.

Mais qu’est-ce donc que l’association humaine, si l’un de ses membres peut disparaître, comme une feuille emportée par le vent?

(Souvestre.)

Wird irgendwo ein Mensch in einer Weise bedrängt, welche dem sehr unvollständigen und außerordentlich unklar abgefaßten un|geschriebenen

i292 Codex der Humanität widerspricht, so erzittert die ganze gebildete Menschheit und schreit laut auf. So muß es sein, wenn die Erlösung sich vollziehen soll. Je mehr in den Augen des Einzelnen sein Leben an Werth verliert, desto höher muß seine Bedeutung in den Augen der Gesammtheit steigen. Im Alterthum war es gerade umgekehrt: da kannte der Einzelne nichts Kostbareres, als sein Leben, welches die Gesammtheit nicht höher schätzte als das eines Baumblattes oder einer Ratte. Auf dieses Gesetz ist auch die Emancipation der Juden hauptsächlich zurückzuführen, welche ein weltgeschichtliches Ereigniß von der größten Bedeutung war. Die Juden treten mit ihrem, durch den langen Druck außerordentlich entwickelten Geiste überall auf und machen die Bewegung, wohin sie kommen, intensiver.

Das Gesetz zeigt sich dann in der Wirksamkeit der Staaten nach außen. Ueberall, wohin die Vertreter großer Nationen kommen, wird die persönliche Freiheit des Individuums gefordert. Es sollen keine persönlich Unfreien mehr in der Welt sein; die Sklaverei soll auf dem ganzen Erdboden aufhören.

Ferner suchen alle civilisirten Staaten allmählich aus dem Naturzustande, in welchem sie zu einander stehen, herauszukommen. Bereits sind mehrere leichten Conflikte zwischen Staaten durch Schiedsrichter geschlichtet worden (Alabama-Frage etc.), und mehrere mächtigen Vereine sorgen dafür, daß in der angedeuteten Richtung immer weiter vorwärts gegangen wird. Auf diesem Wege liegt ein völkerrechtliches Gesetzbuch; und wird die Bewegung nicht durch Strömungen auf social- politischem Gebiete abgelenkt, so wird sie, darüber kann kein Zweifel sein, schließlich die »vereinigten Staaten von Europa« herbeiführen.

Das wirksamste Mittel der Humanität ist die gute Presse. Sie deckt alle Schäden schonungslos auf und fordert, unentwegt, die Abstellung der Uebel.

Der Kampf des Staates mit der Kirche ist jetzt in einer Weise ausgebrochen, welche einen gesunden Friedensschluß unmöglich macht: er ist einem Duell zu vergleichen, in dem Einer bleiben muß. Daß der Staat siegen wird, liegt im Entwicklungsgange der Menschheit. Im siegreichen Staate wird die auf geistigem Gebiete inzwischen erblühte absolute Philosophie schließlich an die Stelle der Religion treten. –

i293 In Asien werden die alten Gesetze der Verschmelzung durch Eroberung und der geistigen Befruchtung die Vorgänge leiten. Es handelt sich darum, allmählich alle Völker des großen Welttheils ganz für die europäische Civilisation zu gewinnen.

Rußland und England sind berufen, das Werk vorzubereiten. Ersteres rückt unablässig in den weiten Steppen vor und bändigt die letzten Reste der unruhigen Kraft, welche im Mittelalter so oft in die Culturreiche verheerend eingebrochen ist.

England beschränkt sich einstweilen auf Indien. Es wirft über das große Reich, geleitet von einer engherzigen, aber trotzdem segensreichen Politik, ein Netz von Eisenbahnen, Landstraßen, Kanälen und Telegraphen und verbreitet überall europäische Cultur.

Wie sich die Verhältnisse gestalten, wann die asiatischen Besitzungen Englands und Rußlands aneinander grenzen werden, ist in keiner Weise zu bestimmen und übrigens gleichgültig. China wird alsdann bereits aus seiner Abgeschlossenheit herausgetreten sein und mächtig in die Entwicklung der Dinge eingreifen, welche auch unter dem Einflusse aller großen Nationen der Welt stehen wird.

Es ist sehr wahrscheinlich, daß, wie zur Zeit der Völkerwanderung, aber ohne deren schreckliche Greuel, eine Verschmelzung eintritt und neue Reiche von kräftigen Mischvölkern entstehen werden; denn ein vollständiges Absterben der Ueberbleibsel der alten morgenländischen Culturvölker darf man für unmöglich halten. –

In Amerika breitet sich das jugendfrische Mischvolk, welches die Vereinigten Staaten bewohnt, immer weiter aus. Das Gesetz der Verschmelzung fand und findet noch fortwährend in der Union die größte Anwendung. Wer kann die Kreuzungen verfolgen, die durch die geschlechtlichen Vermischungen von Franzosen, Deutschen, Engländern, Irländern, Italienern etc., ferner durch die von Weißen mit Schwarzen, Chinesen, Indianern u.s.w. entstehen? Wie werden da Willensqualitäten gebunden, erweckt, gestärkt und geschwächt, und jede Generation ist eine wesentlich andere.

Die Amerikaner der Union werden mit der Zeit ganz Nord-Amerika überschwemmen und vielleicht sich auch über den Süden verbreiten.

Inzwischen sterben in Amerika und Australien immer mehr die halbwilden Urbewohner ab. Sie haben nicht die Kraft, die Berührung |

i294 der höheren Cultur zu ertragen, und die Civilisation stürzt sie kalt in den Tod. –

Dasjenige Land, welches am schwierigsten in den Kreis der Cultur zu ziehen ist und zuletzt in denselben eintreten wird, ist Afrika. Einstweilen ist es mit einem Gürtel von Colonieen umgeben, der sich nach und nach immer mehr verbreitern wird, bis das ganze Land erschlossen ist. Vielleicht ist die Republik Liberia berufen, in späterer Zeit der Hauptstützpunkt der Civilisation in Afrika zu werden. Es wäre sonderbar, wenn unter den gebildeten Schwarzen der Union nicht Apostel aufstünden für die Erhebung ihrer armen Brüder in eine menschenwürdigere Lebensform.

Auch scheint Aegypten berufen zu sein, das Innere des Welttheils umzugestalten.

Ferner sind die edlen Afrikareisenden zu nennen, welche die geheimnißvollen Länder des Inneren zu erforschen bestrebt sind. Ihren Bemühungen gelingt es vielleicht mit der Zeit, solche Motive in die alte Welt zu werfen, daß sich Ströme von Auswanderern in das mittlere Afrika ergießen und es colonisiren. Schließlich müssen wir die christlichen Missionäre erwähnen, die in Afrika ganz am Platze sind. So sehr man ihre Wirksamkeit in Indien tadeln muß, wo sie die christliche Religion an die Stelle ebenbürtiger ethischer Systeme setzen wollen, so sehr sind ihre Bestrebungen bei den rohen Negerstämmen anzuerkennen. –

Ist nun auch der Kreis der Civilisation noch nicht geschlossen, so ist doch klar aus den jetzt wirkenden Ursachen zu erkennen, daß er sich dereinst schließen wird. Daß er sich immer mehr ausdehnt, bewirken die täglich sich vermehrenden Schienenwege und Schifffahrtslinien. Die Auswanderung ist im Zuge und wird immer größer. Bald locken schimmernde Gold- und Diamantfelder, bald die freieren Lebensformen. Die Gesetze der Verschmelzung und der Auswicklung der Individualität stehen der Bewegung vor und beschleunigen ihr Tempo.

 

40.

Auf ökonomischem (social- politischem) Gebiete tritt uns die sogenannte sociale Frage allein entgegen. Ihr liegt das Gesetz der Verschmelzung durch innere Umwälzung zu Grunde, welches, sobald die Frage gelöst ist, keine Erscheinung mehr im Leben der |

i295 Menschheit leiten wird: denn dann ist der Anfang des Endes herbeigekommen.

Die sociale Frage ist nichts Anderes, als eine Bildungsfrage, wenn sie auch an der Oberfläche ein ganz anderartiges Ansehen hat; denn in ihr handelt es sich lediglich darum, alle Menschen auf diejenige Erkenntnißhöhe zu bringen, auf welcher allein das Leben richtig beurtheilt werden kann. Da aber der Weg zu dieser Höhe durch rein politische und ökonomische Hindernisse gesperrt ist, so stellt sich die sociale Frage in der Gegenwart nicht als eine reine Bildungsfrage, sondern vorerst als eine politische, dann als eine ökonomische dar.

Es müssen demnach, in den nächsten Perioden der Zukunft, zuvörderst die Hindernisse im Wege der Menschheit fortgeschafft werden.

Das Hinderniß auf rein politischem Felde ist der Ausschluß der besitzlosen Volksclassen von der Regierung des Staates. Es wird durch die Gewährung des allgemeinen und direkten Wahlrechts beseitigt.

Die Forderung dieses Wahlrechts ist in mehreren Staaten bereits gewährt worden, und alle anderen müssen mit der Zeit dem Beispiele folgen: sie können nicht zurückbleiben.

Die Forderung konnte von den conservativen Elementen im Staate erfüllt werden, erstens, weil, in Folge der bestehenden Theilung der Staatsgewalt, der Volkswille kein absoluter ist, Beschlüsse deshalb nicht immer ausgeführt werden müssen; zweitens, weil eben die Unwissenheit der Massen das Recht vorläufig zu einer stumpfen Waffe macht. Die Gefahr, daß jetzt sofort das Volk alle Staatsinstitutionen gesetzlich umstoßen werde, war also gar nicht vorhanden. Man befriedigte auf der anderen Seite das Volk vollständig, weil in der That kein höheres rein politisches Recht verlangt werden kann, und konnte ruhig der Entwicklung der Dinge das Weitere überlassen. Jede gesetzgebende Versammlung, die auf dem allgemeinen und direkten Wahlrecht beruht, ist der adäquate Ausdruck des Volkswillens, denn sie ist es auch dann, wenn ihre Majorität dem Volke feindlich gesinnt ist, da die Wähler Furcht, Mangel an Einsicht u.s.w. verrathen und bekunden, daß sie einen getrübten Geist haben.

Ein besseres Wahlgesetz kann also dem Volke nicht gegeben |

i296 werden. Aber seine Anwendung kann eine ausgedehntere werden. Halten wir uns an Deutschland, so werden nach dem Gesetze nur die Wahlen zum Reichstag bewerkstelligt. Es sollten aber sämmtliche Wahlen darnach stattfinden: die Wahlen für die Landtage, für die Provinzial- und Kreistage, für die Gemeindevorstände, für die Schwurgerichte u.s.w. Eine solche Ausdehnung hängt aber von der Bildung der Einzelnen ab.

Hier stehen wir vor dem ökonomischen Hinderniß, durch welches das wahre Wesen der socialen Frage bereits ganz deutlich zu erkennen ist. Der gemeine Mann soll seine politischen Aemter verwalten können.

Zu diesem Zwecke muß er Zeit gewinnen. Er muß Zeit haben, um sich bilden zu können. Hier liegt der Quellpunkt der ganzen Frage. Der Arbeiter hat jetzt thatsächlich nicht die Zeit dazu, sich auszubilden. Er muß, weil ihm nicht der ganze Ertrag seiner Arbeit zufällt, indem das herrschende Capital den Löwenantheil davon nimmt, lange arbeiten, um überhaupt leben zu können, so lange, daß er, Abends zurückkehrend, keine Kraft mehr hat, seinen Geist zu cultiviren. Die Aufgabe des Arbeiters ist also: sich einen kürzeren Arbeitstag bei auskömmlicher Existenz zu erringen. Hierdurch aber steigert sich nicht nur der Preis der von ihm erzeugten Produkte, sondern auch der Preis aller Lebensbedürfnisse, da in der ökonomischen Kette ein Glied von dem anderen abhängt, und er muß deshalb mit Nothwendigkeit Lohnerhöhung, bei gleichzeitiger Verkürzung der Arbeitszeit, fordern; denn die Lohnerhöhung wird von den allgemein gestiegenen Preisen absorbirt, und es bleibt ihm nur die verkürzte Arbeitszeit als einziger Gewinn.

Auf dieser Erkenntniß beruhen alle Strikes unserer Zeit. Man darf sich nicht dadurch beirren lassen, daß die gewonnene Zeit, wie das gewährte Wahlrecht, von den Meisten nicht richtig angewandt wird. Der erkannte Vortheil wird allmählich Jeden zur Sammlung drängen, wie schon jetzt Viele, deren Namen (wie in den Katakomben Neapel’s zu lesen ist) Gott allein kennt, die gewonnene Zeit gehörig benutzen. (Die schöne und zugleich erhabene Inschrift lautet: Votum solvimus nos quorum nomina Deus scit.)

i297 Nehmen wir nun an, die Arbeiter hätten ihre Aufgabe ganz allein, ohne irgend eine Hülfe, zu lösen, so würde die Folge von Allem sein, daß Alt und Jung eine klare Einsicht in ihre Interessen gewönnen und so allmählich dahin gelangten, eine starke Minorität in die gesetzgebenden Körper zu senden, die immer und immer wieder zwei Forderungen zu stellen hätten:

1) freie Schule;

2) gesetzliche Aussöhnung zwischen Capital und Arbeit.

Durch die gewonnene Zeit kann der Einzelne jetzt eine umfassende Geistesbildung nicht erlangen. Nur hie und da kann er ein Körnchen einheimsen. Die Hauptsache ist und bleibt, daß er sich an seinem Interesse entzündet, sich klar über die gesellschaftlichen Verhältnisse wird, Andere darüber aufklärt, fest an der Gesammtheit hält und so durch würdige Vertreter bestimmenden Einfluß auf den Staatswillen erhält. Diese Vertreter haben nun zunächst die Verpflichtung, das Uebel an der Wurzel anzufassen und laut die freie Schule zu verlangen, d.h. unentgeltlichen wissenschaftlichen Unterricht für Jeden. Es giebt kein größeres Vorurtheil, als die Annahme, daß Jemand kein guter Bauer, Handwerker, Soldat u.s.w. sein könne, welcher englisch und französisch spricht, oder den Homer in der Ursprache lesen kann.

Damit aber diese Forderung, wenn gewährt, durchführbar sei, müssen die Eltern in ihrem Erwerb so gestellt sein, daß sie nicht nur die Arbeit der Kinder entbehren, sondern auch den Unterhalt derselben bis zur völligen Ausbildung bestreiten können, d.h. die Lohnverhältnisse müssen durchgreifend verändert werden.

Lassalle, dieses, in theoretischer und praktischer Hinsicht, großartige Talent, aber ohne eine Spur von Genialität, hat vorgeschlagen, durch Gewährung von Staatscredit Arbeiterassociationen nach Gewerken zu ermöglichen, welche mit dem Capital in Concurrenz treten könnten. Das bestehende Kapital bleibe unangetastet, und es werde nur die Concurrenz mit demselben dadurch gestattet, daß sich die Arbeiter durch den Credit in den Besitz der unbedingt nothwendigen Arbeitsinstrumente setzen könnten.

So unbestreitbar es ist, daß das Mittel helfen würde, so sicher ist, daß der Staat nicht die Hand dazu reicht (denn wie oben: »die Welt soll nicht so rasch zum Ziele, als wir denken und wünschen«). |

i298 Was kann man nun Anderes vom Staate fordern, der jedenfalls verpflichtet ist, gerechte Forderungen seiner Steuerzahler zu bewilligen?

Das Aufgehen der kleinen Werkstätten in große Fabriken ist eine Folge des großen Capitals. Es liegt im Zuge unserer Zeit, der vom kleinen Capital verstärkt wird (die Krisis von 1873 und ihre Folgen haben diesen Zug nur vorübergehend geschwächt), daß die Fabriken in Actiengesellschaften umgewandelt werden. Es ist nun zunächst vom Staate zu verlangen, daß er diese Umbildung der Fabriken begünstige, jedoch die Bedingung stellend, daß der Arbeiter am Gewinn des Geschäfts betheiligt werde. Ferner kann man vom Staate fordern, daß er selbständige Fabrikanten zwinge, gleichfalls die Arbeiter am Gewinn zu betheiligen. (Mehrere Fabrikanten, in der richtigen Erkenntniß ihres Vortheils, haben dies bereits gethan.) Das Actiencapital werde zum landesüblichen Zinsfuße verzinst und andererseits der Lohn der Arbeiter nach Verdienst ausgezahlt. Der Reingewinn wäre dann in gleichen Hälften unter Capital und Arbeiter zu vertheilen; die Vertheilung unter die Arbeiter hätte nach Maßgabe ihres Lohnes zu geschehen.

Man könnte dann allmählich, nach bestimmten Perioden, die Verzinsung des Capitals immer mehr herabsetzen; auch den Vertheilungsmodus des Reingewinnes allmählich immer günstiger für die Arbeiter feststellen; ja, durch allmähliche Amortisation der Actien mit einem bestimmten Theil des Reingewinns, die Fabrik ganz in die Hände aller am Geschäft Betheiligten bringen.

Ingleichen wären Banken und Handelsgesellschaften und der Ackerbau ähnlich zu organisiren, immer nach dem Gesetze der Ausbildung des Theils verfahrend, denn mit Einem Schlage können die socialen Verhältnisse nicht umgestaltet werden.

Daß die jetzige Bewirthschaftungsmethode des Bodens unhaltbar ist, geben alle Einsichtigen aller Parteien zu. Ich erinnere nur an den vortrefflichen Riehl, der die Formen des Mittelalters, allerdings umgemodelt, conservirt haben möchte. Er sagt:

Man hat die Frage aufgeworfen, wie lange wohl die landwirthschaftlichen Voraussetzungen der Art bleiben würden, daß ein Stand der kleinen Grundbesitzer, der von uns geschilderte Bauernstand, möglich sei? Denn das Unvollkommene, Mühselige und wenig Ausgiebige der Bewirthschaftungsmethode – – – muß doch bei den riesigen Fortschritten der Agriculturchemie, des ratio|nellen

i299 Landbaus und bei dem zu der immer noch oberflächlichen Ausnützung des Bodens bald in keinem richtigen Verhältnisse mehr stehenden Wachsthum der Bevölkerung, über kurz oder lang, einem gleichsam fabrikmäßigen, in’s Große gearbeiteten Landbau weichen, der alsdann den kleinen Bauernstand in der gleichen Weise trocken legen würde, wie das industrielle Fabrikwesen den kleinen Gewerbestand bereits großentheils trocken gelegt hat. Daß diese Eventualität einmal eintreten muß, bezweifeln wir durchaus nicht.

Wäre dies erlangt, so könnten die Actiengesellschaften eines Arbeitszweiges in Verbindung mit einander für bestimmte Zwecke treten; es könnten Gruppen ihr Genossenschaftsbankhaus, ihre Versicherungsgesellschaft für die verschiedenartigsten Fälle (Krankheit, Invalidität, Todesfall, Verlust aller Art etc.) haben u.s.w.

Ferner könnten sämmtliche Verkaufsläden einer Stadt, eines Stadttheils, nach ähnlichen Grundsätzen organisirt werden, kurz, der jetzige Verkehr würde im Ganzen derselbe bleiben und nur außerordentlich vereinfacht werden. Die Hauptsache aber würde sein, daß eine thatsächliche Versöhnung zwischen Capital und Arbeit eintreten und die Bildung das Leben Aller wesentlich veredlen würde.

Eine andere gute Folge dieser Vereinfachung würde eine veränderte Steuergesetzgebung sein; denn der Staat hätte jetzt einen klaren Einblick in das Einkommen Aller, und indem er die Gesellschaften besteuerte, hätte er den Einzelnen besteuert.

 

41.

Auf diese Weise könnte die sociale Frage in einem friedlichen, langsamen Entwicklungsgange der Dinge gelöst werden, wenn die Arbeiter beharrlich und ohne Ausschreitungen ihre Ziele verfolgten. Aber ist dies anzunehmen? An den gesellschaftlichen Zuständen, die das Gepräge des Capitals tragen, rütteln die Arbeiter ingrimmig und begierig, wie die halbwilden germanischen Völker an den Grenzen des Römerreichs gerüttelt haben. Die Ungeduld legt sich, wie ein Schleier, über das klare Auge des Geistes, und fessellos wogt die Begierde nach einem genußreicheren Leben.

Ständen die Arbeiter demnach allein, so wäre mit Gewißheit |

i300 vorauszusagen, daß eine friedliche Lösung der socialen Frage nicht möglich sei. Diese aber haben wir jetzt allein im Auge, und wir haben deshalb diejenigen Elemente ausfindig zu machen, welche gleichsam ein Gegengewicht für die Ungeduld der niederen Classen sind und die sociale Bewegung derartig beeinflussen können, daß ihr Gang ein stetiger bleibt.

Diese Elemente liefern die höheren Classen.

Wir haben die Bewegung der Menschheit, als Civilisation, mit dem Sturze einer Kugel in den Abgrund verglichen, und wer aufmerksam dem Vorhergehenden gefolgt ist, der wird erkannt haben, daß der Kampf und Streit, im Fortschreiten der Menschheit, immer intensiver wird. Der ursprüngliche Zerfall der Einheit in die Vielheit gab allen folgenden Bewegungen die Tendenz, und so vermehrten sich continuirlich die Gegensätze auf allen Gebieten. Man betrachte nur oberflächlich das geistige Feld der Gegenwart. Während im ersten Mittelalter nur geglaubt und äußerst selten von einem muthigen, freien Einzelnen ein Versuch gemacht wurde, das Bestehende anzugreifen, steht jetzt, wohin man blickt, Meinung gegen Meinung. Auf keinem Felde des geistigen Gebiets herrscht Friede. Auf religiösem Felde findet man tausend Sekten; auf philosophischem tausend verschiedene Fahnen; auf naturwissenschaftlichem tausend Hypothesen, auf aesthetischem tausend Systeme; auf politischem tausend Parteien; auf merkantilem tausend Meinungen; auf ökonomischem tausend Theorieen.

Jede Partei nun auf rein politischem Gebiete sucht die sociale Frage zu ihrem Vortheil auszubeuten und verbündet sich mit den Arbeitern bald zu diesem, bald zu jenem, von ihr erstrebten Zweck. Hierdurch wird zunächst die sociale Bewegung in einen rascheren Fluß gebracht.

Dann haben Ehrgeiz, Ruhmbegierde und Herrschsucht von jeher bedeutende Männer aus den höheren Gesellschaftsschichten veranlaßt, ihr faules Leben zu verlassen und die Sache des Volkes zu der ihrigen zu machen. Der Stoff ist außerordentlich spröde: die Finger bluten, und ermattet sinken oft die Arme herab, – aber rollt dort nicht das Glück, hochhaltend den Lorbeerkranz, oder die Zeichen der Macht?

Aber die immanente Philosophie gründet ihre Hoffnung hauptsächlich auf die Einsicht der vernünftigen Arbeitgeber und auf die |

i301 Guten und Gerechten aus den höheren Ständen. Die Unhaltbarkeit der socialen Zustände drängt sich jedem Denkenden und Vorurtheilslosen auf. Sie wird selbst in den »allerhöchsten« Schichten der Gesellschaft erkannt, und führe ich zum Beleg die Worte des unglücklichen Maximilian von Habsburg an:

An was ich mich noch immer nicht gewöhnen kann, ist zu sehen, wie der reiche aussaugende Fabrikbesitzer in Masse herstellt, was den unmäßigen Luxus der Reichen befriedigt und ihre Prachtliebe kitzelt, während die Arbeiter, durch sein Gold geknechtet, blasse Schatten wirklicher Menschen sind, die, in gänzlicher Seelenverdummung, ihren Körper seinem Geldsacke, zur Stillung der Bedürfnisse des Magens, in maschinenmäßigem Takte opfern.

(Aus meinem Leben.)

Von der Lösung der socialen Frage hängt die Erlösung der Menschheit ab: das ist eine Wahrheit, an der sich ein edles Herz entzünden muß. Die sociale Bewegung liegt in der Bewegung der Menschheit, ist ein Theil des Schicksals der Menschheit, das die Wollenden und Widerstrebenden mit gleicher Gewalt in seinen unabänderlichen Gang zwingt. Hierin liegt die Aufforderung für Jeden, der nicht ganz gebannt ist in den engen, öden Kreis des natürlichen Egoismus, mit Gut und Blut, mit seiner ganzen Kraft sich dem Schicksal als Werkzeug anzubieten, sich einzustellen in die Bewegung und dafür das höchste Glück auf dieser Erde zu erlangen: den Herzensfrieden, der aus der bewußten Uebereinstimmung des individuellen Willens mit dem Gange der Gesammtheit, mit dem, an die Stelle des heiligen Willens Gottes getretenen Entwicklungsgang der Menschheit entspringt. Wahrlich, wer dieses Glück nur vorübergehend in sich empfindet, der muß aufglühen in moralischer Begeisterung, dem muß der klare Kopf das kräftige Herz entzünden, daß unwiderstehlich aus ihm die Lohe der Menschenliebe hervorbricht, denn

die Frucht des Geistes ist Liebe.

(Galater 5, 22.)

Sursum corda! Erhebt euch und tretet herab von der lichtvollen Höhe, von wo aus ihr das gelobte Land der ewigen Ruhe mit trunkenen Blicken gesehen habt; wo ihr erkennen mußtet, daß das Leben wesentlich glücklos ist; wo die Binde von euren Augen fallen mußte; – tretet herab in das dunkle Thal, durch das sich der trübe Strom der Enterbten wälzt und legt eure zarten, aber |

i302 treuen, reinen, tapferen Hände in die schwieligen eurer Brüder. »Sie sind roh.« So gebt ihnen Motive, die sie veredeln. »Ihre Manieren stoßen ab.« So verändert sie. »Sie glauben, das Leben habe Werth. Sie halten die Reichen für glücklicher, weil sie besser essen, trinken, weil sie Feste geben und Geräusch machen. Sie meinen, das Herz schlage ruhiger unter Seide als unter dem groben Kittel.« So enttäuscht sie; aber nicht mit Redensarten, sondern durch die That. Laßt sie erfahren, selbst schmecken, daß weder Reichthum, Ehre, Ruhm, noch behagliches Leben glücklich machen. Reißt die Schranken ein, welche die Bethörten vom vermeintlichen Glück trennen; dann zieht die Enttäuschten an eure Brust und öffnet ihnen den Schatz eurer Weisheit; denn jetzt giebt es ja nichts Anderes mehr auf dieser weiten, weiten Erde, was sie noch begehren und wollen könnten, als Erlösung von sich selbst. –

Wenn dies geschieht, wenn die Guten und Gerechten die sociale Bewegung reguliren, dann und nur dann kann der Gang der Civilisation, der nothwendige, bestimmte, unaufhaltbare, nicht über Berge von Leichen und durch Bäche von Blut stattfinden.

 

42.

Blicken wir von hier aus zurück, so sehen wir, daß das Nationalitätsprincip, der Kampf des Staates mit der Kirche und die sociale Bewegung große Umwälzungen hervorbringen werden, welche sämmtlich einen unblutigen Verlauf nehmen können.


Date: 2014-12-29; view: 368


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