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Analytik des Erkenntnißvermögens. 22 page

Ihre Wirksamkeit war anfänglich außerordentlich segensreich. Sie wurde der Lehre ihres erhabenen Stifters in der Hauptsache niemals untreu, sondern, wie er, wandte sie sich unmittelbar an das Individuum, dessen Bedeutung sie nicht aus den Augen verlor. Jedem predigte sie die Heilswahrheit, Jedem war der Weg zu ihr immer frei, Jedem gab sie, was sie überhaupt hatte, Jeden begleitete sie von der Wiege bis zum Grabe. In die rohen Menschen trug sie den Zwiespalt zwischen dem natürlichen Egoismus und den klaren Geboten Gottes, gab ihnen ein strengeres Gewissen und mit ihm die Gewissensangst, Furcht und Schrecken: die besten Bändigungsmittel für wildes Blut. Auf den zermürbten Boden aber warf sie mit vollen Händen die Wahrheit, daß das Leben werthlos sei, und den Samen der Hoffnung, der Liebe und des Glaubens an die ewige Seligkeit.

Sie wendete den Blick auf ein unvergängliches Gut und gab den richtigen Weg an, auf dem die Creatur Frieden mit ihrem Schöpfer machen kann. Sie verbot, getragen von echt christlichem Geiste, ihren Priestern die Ehe und in ebenso echt christlichem Geiste begünstigte sie die Gründung von Klöstern, die ein Bedürfniß waren und sich lange in Reinheit erhielten. Das Wesen, das sich in den Klöstern ausdrückte, war, ist und wird immer vorhanden sein. Die große Gemeinde, der unsichtbare Orden der Entsagenden erweitert sich täglich.

Da die Kirche von der Wissenschaft noch Nichts zu befürchten hatte, erwarb sie sich in jenen Zeiten das Verdienst, von der Literatur des Alterthums so viel gerettet zu haben, als sie konnte. Sie barg die Schätze in den Klöstern, wo sie abgeschrieben und dadurch den Menschen erhalten wurden. Mit den Klöstern verband sie Schulen, wo, wenn auch nur als kleine Flamme, die Wissenschaft, geschützt, bessere Zeiten abwarten konnte. Die Priester waren überzeugt von der hohen Wahrheit der Religion und ihrer unbesiegbaren Stärke. Das machte sie duldsam. Man setzte das Bestreben der Kirchenväter, hellenische Wissenschaft zu pflegen, fort. Später ver|knöcherte

i279 die Kirche, und die Ansicht, daß das, was nicht in der Bibel stehe, falsch und gefährlich sei, gewann die Oberhand.

Dagegen begünstigte sie mit allen Mitteln die Kunst. Es entstand die so außerordentlich bedeutende, ganz eigenthümliche christliche Kunst, welche sich, als ein wesentliches Bildungselement, neben die Religion stellte. Die vom echten Glauben beseelten Künstler stellten die Wirkungen der göttlichen Gnade am Menschen dar, und an ihren Werken entzündeten sich die Gemüther. Die Kunst führte sie tiefer in die Religion ein, näherte sie dem in Christo verkörperten befreienden Princip und gab ihnen inneren Frieden durch den Glauben.

Aehnlich wirkten die überall entstehenden prachtvollen Dome. Die hohen, himmelanstrebenden Gewölbe stimmten die Seele erhaben, und sie ließ sich, ledig alles Drucks, auf den Schwingen der immer mehr sich ausbildenden Kirchenmusik, vor den Thron Gottes tragen. Das Herz demüthigte sich, und die Erkenntniß, daß alle irdische Freude, alles Glück, im Vergleich mit dem reinen Leben im Reiche Christi, Nichts sei, schlug zündend in dasselbe ein.



Auch wirkte die Kirche durch die dramatischen Passionsspiele, welche mit erschütternder Macht auf den Zuschauer eindrangen und ihn ernstlich und mit Erfolg mahnten, daß er ein Fremdling auf dieser Erde sei.

Am großartigsten und deutlichsten offenbarte sich die Kraft der Kirche in den Kreuzzügen, aus denen wir das wichtige Civilisationsgesetz der geistigen Ansteckung ziehen. Hoch und Niedrig, Hunderttausende nach Hunderttausenden, nahmen das Kreuz und zogen in die Ferne, den sicheren Tod vor Augen, um das Grab des Erlösers zu befreien. Ein elektrischer Strom ging durch die ganze Christenheit und befähigte den Menschen, allen Schwierigkeiten zu trotzen, alle Mühseligkeiten zu ertragen. Die Kreuzzüge sind eine sehr merkwürdige Erscheinung. Wer sich in sie vertieft, dem ist, als lege sich ihm ein Pfand in die Hände, daß sich in einer ähnlichen Stimmung die ganze Menschheit dereinst erlösen werde. Es ergriff die Menschen kein sinnliches, sondern ein ideales Motiv, und erhob sie über sich selbst. Der Geist, der in den ersten drei Jahrhunderten der Kirche herrschte, lebte wieder auf und bewirkte, daß man das Leben mit Wollust, wie eine schwere Last, abwarf. –

In keiner Geschichtsperiode ist die Gebundenheit auf allen Gebieten größer gewesen als im Mittelalter. Alles Leben bewegte sich |

i280 in starren drückenden Formen. Die Menschen gingen eingeschnürt vom Kopf bis zu den Füßen. Der Geist war gebunden, der Wille und die Arbeit waren gebunden. Die anscheinend Freien, die Geistlichen und Ritter, waren Sklaven, wie alle Anderen, denn sie band die gegenseitige Beschränkung und die allgemeine geistige Knechtschaft.

Dieses Gebundensein nach allen Richtungen hat große Aehnlichkeit mit dem in den alten orientalischen Staaten, in denen auch erst die natürliche Rohheit und Wildheit durch Despotismus gebrochen, »der Thiermensch aus Nichts zu Etwas« gemacht werden mußte. Der Wille wurde in den neuen Reichen vorbereitet, einem großen geistigen Anstoß folgen zu können, damit die Menschheit einen neuen großen Fortschritt zu machen im Stande sei.

 

30.

In diese feste Organisation der Völker im Mittelalter auf politischem, ökonomischem und geistigem Gebiete brach zuerst die Erfindung des Schießpulvers eine große Bresche und veranlaßte die Umbildung des Feudalstaates in das Landesfürstenthum, später in den absoluten Staat.

Die Macht der großen und kleinen Herren wurde gebrochen und der Adel genöthigt, in die seitdem immer mehr in Aufnahme kommenden stehenden Heere und in die Verwaltung der Fürsten einzutreten. In der rechtlichen Stellung der privilegirten Classen wurde indessen Nichts geändert. Rechtlich waren Adel und Geistlichkeit die beiden herrschenden Stände, aber der Einzelne hatte seine Selbständigkeit verloren und gravitirte, wie die Planeten nach der Sonne, nach dem Staatsoberhaupte. Die Bewegung gipfelte im absoluten Staate, in dem sich der Fürst mit dem Staate identificirte (l’état c’est moi). Im Fürsten faßte sich der ganze Staat zusammen, von ihm allein hing das Wohl und Wehe der Unterthanen ab, und der Adel, wie die Geistlichkeit, war nur Werkzeug in seiner Hand zur Ausführung seiner Gedanken, Pläne, Einfälle und Launen (tel est mon plaisir). Die Form des absoluten Staats war dieselbe, wie die des despotischen im Alterthum; aber der große Unterschied zwischen beiden liegt darin, daß der letztere nothwendig für die Anfänge der Cultur, der erstere dagegen berufen war, die bis zur äußerst möglichen Grenze partikularer Ausbildung gelangten Theile in den |

i281 Strom des Werdens zurückzuziehen. Es offenbarte sich hier das Gesetz der Nivellirung.

 

31.

Die festen Formen auf ökonomischem Gebiete wurden durch die großen Entdeckungen und Erfindungen: die Erfindung des Compasses, die Entdeckung des Seewegs nach Ostindien und nach Amerika, gesprengt. Es wurde die Produktionsweise von Gütern total umgestaltet. Wie die Wogen des Meeres so lange einen Felsen auswaschen, bis die Kuppe sich nicht mehr halten kann und herabstürzt, so drängte machtvoll und unablässig der neu entstandene Welthandel gegen die Zunftverfassung. Jetzt mußten die in den neuen Ländern erweckten Bedürfnisse: Kleider, Geräthschaften u.s.w., und die Bedürfnisse der in den europäischen Ländern stetig zunehmenden Bevölkerung befriedigt werden. Die Anforderungen an die Zünfte wurden immer größer; aber wie sollten sie ihnen entsprechen können, wenn die Zahl der Meister bestimmt blieb und keiner derselben eine größere Quantität von Gegenständen produciren durfte, als gesetzlich festgesetzt war? Da mußte sich das Band lockern. Es stellten sich neben die fortbestehenden Werkstätten der zünftigen Meister, welche für den Lokalbedarf arbeiteten, die Fabriken, die immer loser mit den Zünften verknüpft wurden, und es entstand die historische Form der Industrie.

Ihre nächste Folge war, daß das Gesetz der Auswicklung der Individualität wieder mit neuer Kraft die Erscheinungen leiten konnte. Die Eheschließung war im Mittelalter außerordentlich beschränkt. Der Geselle kam fast nie zur Ehe, und die Verehelichten, durch die schwierige Ernährungsweise gehemmt, zeugten nur wenige Kinder. Aber die Civilisation will, daß alle Menschen sich so viel als möglich in neuen Individuen auseinanderlegen, damit unmittelbar und mittelbar der Wille geschwächt werde: unmittelbar durch die Zersplitterung, mittelbar durch die größere Reibung. Die segensreichen Folgen des Kampfes um die Existenz schütten sich erst dann reichlich über die Kämpfenden aus, wenn diese auf dem engsten Raum zusammengepreßt sind und sich gehörig auf die Füße treten.

Auch sei hier auf die Wirkung aufmerksam gemacht, welche die Einführung der Kartoffel in Europa hervorbrachte. Die Volkszahl |

i282 stieg rapid; sie vervierfachte sich in Irland z.B. durch das neue Nahrungsmittel. Welche Vermehrung der Reibung!

Eine andere Folge der Industrie, welche sich auf dem politischen Gebiete bemerkbar machte – die wichtigste – war die Erstarkung des dritten Standes, des Bürgerthums. Handel und Gewerbe hatten schon im frühesten Mittelalter die Blüthe der Städte herbeigeführt und ihre Bürger befähigt, sich vom Adel der Umgebung und dann auch vom Adel in ihrer Mitte unabhängig zu machen. Jetzt aber wuchs die Macht der Bürger mit jedem Tage, weil sie täglich reicher wurden, so daß der Adel sogar sich herbeiließ, in die Heere der gegründeten Handelscompagnieen zu treten und dem Bürgerthum zu dienen, um Antheil an den beweglichen Gütern zu haben, die der fleißige und gewandte Kaufmann, wie durch Zauberei, hervorbrachte.

 

32.

Auf geistigem Gebiete herrschte noch immer unbeschränkt die Kirche. Den Wissenschaften wurde von ihr der Raum abgesteckt, in dem sie sich zu bewegen hatten, und sie trugen deutlich die Spuren des eisernen Drucks. Welche verkümmerte Blüthe war die Scholastik!

An dieser Herrschaft rüttelten aber schon lange vor der Reformation Sekten und brachten der großen, stahlharten historischen Form die ersten Sprünge bei. Die Veranlassung hierzu gab der Fäulnißproceß, der in den obersten Schichten der Priesterschaft aufgetreten war. Während der niedere Clerus in sehr dürftiger Lage war, schwelgten die Kirchenfürsten, und namentlich hatten die Verschwendung, Prachtliebe und Sittenlosigkeit der meisten Päpste keine Grenzen mehr. Sie benutzten die Kirche zur Erreichung von persönlichen und Familien-Zwecken und entheiligten schamlos die Christuslehre. Zuerst trat gegen diese Entartung Petrus Waldus auf, welcher die Gemeinde der Waldenser gründete. Sie sagten sich vom Papste los und erwählten ihre Seelsorger. In den blutigen Albigenserkriegen wurden sie zwar fast ganz vernichtet, aber der erste Anstoß war gegeben und mußte neue Bewegungen erzeugen. Ein neues gutes Motiv war wieder gegeben und zündete in Einzelnen. Es traten Wycliffe, Huß, Savonarola auf. Auch die beiden letzteren wurden von der Kirche unschädlich gemacht und die Spuren |

i283 ihrer Wirksamkeit ausgelöscht; aber das Feuer war nicht mehr zu dämpfen, es glimmte, anscheinend zertreten, fort und schlug endlich als helle Lohe empor, als Luther seine Thesen gegen Rom in Wittenberg veröffentlichte (31. October 1517).

Begünstigt durch die politische Stellung der Fürsten Deutschlands zu einander, zerhieb er die Form des Papstthums, befreite einen großen Theil Derjenigen, welchen schon längst die starren Wände das quellende Leben zur Qual gemacht hatten, und setzte neben die zerbrochene Form eine andere, welche den Geistern einen großen Spielraum gewährte.

Die Reformation bewirkte zwei große Umgestaltungen. Einmal gab sie dem geistigen Leben einen gesunden Boden und löste die Wissenschaft von der Religion ab; dann verinnerlichte sie das Gemüth, indem sie den Glauben zu neuer Gluth anfachte und den Blick wieder auf ein höheres besseres Leben als das irdische richtete.

Ein Frühlingswehen ging durch die Culturwelt. Kurz vorher hatten die Türken das byzantinische Reich zerstört und viele gelehrten Griechen waren nach dem Abendland geflohen, wo sie die Begeisterung für antike Bildung erweckten. Es fand eine neue Befruchtung der Geister statt; man vertiefte sich in die Werke der Alten und pfropfte das edle griechische Reis auf den kräftigen germanischen Stamm: das classische Alterthum vermählte sich mit dem gemüthstiefen Mittelalter. So schloß sich an die neue Religion eine neue Kunst und eine neue selbständige Wissenschaft, welche auf den vielen gegründeten Universitäten einen geschützten, günstigen Boden fand.

Die geistige Bewegung wuchs mit jedem Tage, beschleunigt durch die erfundene Buchdruckerkunst. Die Philosophie nahm eine ganz andere Richtung. Hatte man sich seither nur in metaphysischen Grübeleien nutzlos gemartert, so fing man jetzt an zu untersuchen, wie der Geist zu allen diesen wunderbaren Begriffen gekommen sei. Es war der einzig richtige Weg. Man zweifelte an Allem, verließ den »uferlosen Ocean« und stellte sich auf den sichern Boden der Erfahrung und Natur. Besonders waren die Engländer in dieser Richtung thätig und sind hier Baco, Locke, Berkeley, Hume, Hobbes zu nennen.

Auf dem Felde der reinen Naturwissenschaft brachten die großen Männer: Copernicus, Kepler, Galilei und Newton die bekannten großen Revolutionen hervor.

i284 Es entstand ferner eine neue Kunst. Der Renaissancestil führte in die Baukunst frisches wogendes Leben ein, und überall, namentlich in Italien, entstanden die prachtvollsten Kirchen und Paläste. – Die Skulptur trieb eine herrliche Nachblüthe unter dem Einflusse der an das Licht des Tages wieder getretenen antiken Meisterwerke, und die Malerei erreichte zum ersten Male die lichte Höhe der Vollendung (Lionardo da Vinci, Michel Angelo, Raphael, Tizian, Correggio).

Wie die Malerei, schwang sich auch die realistische Poesie auf die höchste Stufe (Shakespeare), und machtvoll, wie nie zuvor, trat die Musik in die Erscheinung: fortan eine wahre Großmacht für das Gemüth (Bach, Händel, Haydn, Gluck, Mozart, Beethoven).

Unter der Einwirkung der großen Summe dieser neuen Motive gestaltete sich das Geistesleben im Bürgerthum immer freier und tiefer und das Leben des Dämons immer edler. Die Entwicklung des Geistes schwächt den Willen direkt, weil der Geist nur auf Kosten des Willens sich stärken kann (Veränderung der Bewegungsfaktoren). Sie schwächt ihn aber noch mehr indirekt durch vermehrtes Leiden (Erhöhung der Sensibilität und Irritabilität: Leidenschaftlichkeit) und durch die in dem häufiger wiederkehrenden Zustand reiner Contemplation geborene Sehnsucht nach Ruhe.

Auch offenbarte sich jetzt immer deutlicher der Entwicklungsgang der Menschheit. Hervorragende Köpfe sahen, alle Bewegungen verfolgend, ein ideales Ziel: den Rechtsstaat und ein vollkommeneres Völkerrecht, und stellten sich, aufglühend in moralischer Begeisterung, in die Bewegung, diese beschleunigend.

 

33.

Dem Protestantismus gegenüber sammelte sich die katholische Kirche und machte ungeheuere Anstrengungen, um das Schisma zu überwinden (Entstehung des Jesuitenordens; Religionskriege). Aber es gelang ihr nicht, obgleich die Gegner in sich zerfallen waren (Reformirte, Lutheraner etc.). Die blutigsten, verheerendsten Kämpfe hatten nur die Folge, daß in einigen Ländern, wie Frankreich, Oesterreich, Ungarn, die neue Lehre ausgerottet wurde.

Die Reibung auf geistigem Gebiete war eine große und die Bewegung in den Staaten wurde immer frischer und lebendiger. Alle Früchte der neuen Zeit fielen dem Bürgerthum in den Schooß, |

i285 dem Alle angehörten, welche durch Reichthum, Herzens- und Geistesbildung hervorragten. Und dieser dritte Stand war so gut wie politisch rechtlos im Staate, da Adel und Geistlichkeit fest zusammenhielten, um sich ihre Privilegien zu sichern. Diese Lage der Dinge war unhaltbar. Zuerst errang sich das Bürgerthum in den Niederlanden und England größere Freiheit und einen bestimmenden Einfluß auf die Leitung des Staates. Dann ergriff die Bewegung die Bürger Frankreichs. Die tüchtigsten und geistreichsten Männer, wie Voltaire, Montesquieu, Rousseau, Helvetius, griffen das Bestehende auf allen Gebieten schonungslos an. Der dritte Stand machte seine Sache zur Sache der ganzen Menschheit; der Same des Christenthums: »Alle Menschen sind Brüder« hatte sich machtvoll entwickelt, und alles Leben im Staate drängte mit zwingender Gewalt nach dem einen Punkte: volle rechtliche Anerkennung des dritten Standes.

 

34.

Nun war die Zeit gekommen, wo das Gesetz der Verschmelzung im Innern, durch Einreißung der politischen Standesunterschiede, wieder in Thätigkeit treten konnte, und der Sturm, verstärkt durch die freie Luft, welche von dem glorreich errichteten amerikanischen Bundesstaat über das Meer herüberwehte, brach mit einem Male los. Er fegte alle Lasten des Feudalstaates: Leibeigenschaft, Naturaldienst, Naturalleistung, Kirchenzehnt, Zunftzwang, Niederlassungsbeschränkung u.s.w. fort. An dem unvergeßlichen 4. August 1789 wurden alle diese Fesseln vom Volke abgestreift und die Menschenrechte erklärt. Später wurden die Kirchengüter und die Güter aller derjenigen Adeligen, welche sich der neuen Ordnung der Dinge nicht fügen wollten, eingezogen und ein freier Bauernstand begründet. Ihm zur Seite stand der freie Arbeiterstand.

 

35.

Die Errungenschaften der großen Revolution konnten in Frankreich nicht eingeschlossen bleiben; denn die Civilisation hat die ganze Menschheit im Auge, und reiner als jemals hatte sich dies gerade in der französischen Revolution offenbart. Die Gelegenheitsursache der Verbreitung war der Kriegszug vieler Fürsten, welche die Folgen der Revolution fürchteten und sie zu ersticken versuchten. Der wirkliche Verbreiter der neuen Einrichtungen war Napoleon. Er trug |

i286 das heilige Feuer auf der Spitze seines Degens durch ein Meer von Blut in die meisten Länder Europa’s. Und wieder wälzten sich die Völker durcheinander, aber diesmal schwebte in hellerer Gestalt der Genius der Menschheit über dem ungeheuren Wirrwarr.

Die allgemeine Umrüttelung bezweckte indessen vorerst nur die Auflockerung der Erde und die Einsaat. Der Same ging im Frieden auf, und allmählich wurden dem Volke aller Culturstaaten die Fesseln des Feudalstaates abgenommen.

 

36.

Während diese Umgestaltungen auf politischem und ökonomischem Gebiete sich verbreiteten, vollzog ein deutscher Mann, Kant, die größte Revolution auf geistigem Gebiete. Seine unsterbliche That, die Abfassung der Kritik der reinen Vernunft (vollendet am 29. März 1781), war größer und folgenreicher als die That Luther’s. Er verwies den forschenden Geist ein- für allemal auf den Boden der Erfahrung; er beendigte in der That für alle Einsichtigen den Kampf der Menschen mit Spukgestalten in, über oder hinter der Welt, und zertrümmerte die Reste aller Naturreligionen, die die Furcht erzeugt hat.

Erst durch Kant wurde die Revolution eine vollständige. Auf ökonomischem Gebiet war die Freiheit der Arbeit, auf politischem die persönliche, bürgerliche und politische Freiheit Aller, auf geistigem die Unabhängigkeit von allem Aberglauben und Glauben entstanden. Für die Einsichtigen war auch die letzte Form einer Kirche zerschlagen und die Grundlage des Tempels der echten reinen Wissenschaft errichtet worden, in den einst die ganze Menschheit eintreten wird.

 

37.

Die französische Revolution und die Napoleon’schen Kriege, mit ihrem Jammer auf der einen, ihren Errungenschaften auf der anderen Seite, gehören zu den geschichtlichen Ereignissen, wo vorübergehend die Grundbewegung der menschlichen Gattung, aus dem Leben in den absoluten Tod, sich offenbart, wo der Genius der Menschheit gleichsam sein Antlitz, mit den ernsten geheimnißvollen Augen, entschleiert und die Verheißung tröstend ausspricht:

i287 Durch ein rothes Meer des Blutes und des Krieges waten wir dem gelobten Land entgegen und unsere Wüste ist lang.

(Jean Paul.)

Nach der gewaltigen Action trat nothwendigerweise eine Reaction ein, die den Zustand der Abspannung, in dem sich Alle befanden, benutzte, um die gewonnenen Freiheiten zu beschneiden. Ganz vernichtet konnten sie nicht werden; denn die Bourgeoisie war zu mächtig. Sie bot außerdem selbst die Hand zur Zurückführung der Zugeständnisse auf ein Maß, das in ihrem Interesse lag. Sie hatte nur vorübergehend ihre Sache zu der der Menschheit gemacht; nun, im Frieden, führte sie die Scheidung aus und schloß das niedere Volk vollständig von der Regierung ab.

In den meisten Ländern wurde, nach dem Vorbilde Englands, die constitutionelle Monarchie eingeführt, wonach die Macht im Staate unter Bürgerthum, Adel und Geistlichkeit und den Fürsten vertheilt wurde. Die zweite Kammer, welche das Volk repräsentiren sollte, vertrat nur einen kleinen Theil desselben, nämlich das reiche Bürgerthum, denn ein strenger Census wurde eingeführt, der den armen Mann wieder politisch rechtlos machte.

Auf ökonomischem Felde war allerdings der Arbeiter und seine Kraft frei, aber der Ertrag der Arbeit war ein beschränkter, und dadurch wurde der Arbeiter wieder faktisch unfrei. An die Stelle des Herrn in irgend einer Form, für welchen man, gegen Deckung der Lebensbedürfnisse, arbeitete, war das Capital getreten, der kälteste und schrecklichste aller Tyrannen. Die rechtlich frei erklärten Leibeigenen, Hörigen und Gesellen waren thatsächlich mittellos und mußten, trotz ihrer Freiheit, wieder in das Verhältniß des Sklaven zum Herrn treten, um nicht zu verhungern. Mehr erhielten sie nicht. Jeder Ueberschuß, den die Arbeit des Arbeiters über diesen Lohn hinaus abwirft, fließt in der Regel in die Tasche weniger Einzelnen, die ungeheuere Reichthümer, wie die antiken Sklavenhalter, aufhäufen. Nur besteht im neuen Verhältniß der Mißstand, daß der moderne Sklave, in Handelskrisen, vom Unternehmer ohne Erbarmen seinem Schicksal überlassen und in die Qualen des Hungers und Elends gestoßen wird, während der antike Sklavenhalter seinen Sklaven, in Zeiten der Theuerung und Noth durch Mißernte, nach wie vor zu erhalten hatte. Die Züchtigung, welche den Arbeitgebern eben in |

i288 solchen Krisen für ihre Herzlosigkeit und, im Ganzen genommen, auch Bornirtheit zu Theil wird, sowie der Umstand, daß die Arbeiter in guten Zeiten sich vorübergehend einen höheren Lohn erringen, ändert das schreckliche Grundverhältniß nicht ab.

In diesem Zustande zeigt sich das große Civilisationsgesetz des socialen Elends. »Durch Trübsal wird das Herz gebessert.« Das sociale Elend zermürbt den Willen immer mehr, glüht ihn aus, schmelzt ihn, macht ihn weicher und bildsamer und bereitet ihn vor, empfänglich für diejenigen Motive zu werden, welche eine aufgeklärte Wissenschaft ihm bieten wird.

Ferner wirkt das sociale Elend weckend und verschärfend auf die Geisteskräfte: es erhöht die geistige Kraft. Man blicke nur auf die Landleute und auf die Bewohner großer Städte. Der Unterschied im Körperbau ist, da der Körper nichts Anderes ist, als das durch die subjektiven Formen gegangene Ding an sich, in der Idee begründet. Der Proletarier zeigt sich als ein schwächliches Individuum mit einem verhältnißmäßig großen Gehirn, welche Erscheinung die verkörperte Wirkung des Hauptgesetzes der Politik ist. Der Proletarier ist ein Produkt der immer wachsenden Reibung im Staate, die erst für die Erlösung vorbereitet, dann erlöst. Während die Genußsucht die höheren Classen schwächt, schwächt die niederen das Elend, und alle Individuen werden dadurch befähigt, ihr Glück ganz wo anders zu suchen, als in diesem Leben und seinen leeren, aufgeblasenen, armseligen Reizen.

Daß die größere Intelligenz viele Proletarier zu Verbrechern macht, indem in ihrem lebhafteren Geiste der Wille, durch vernachlässigte Erziehung und mangelhafte Bildung, für Motive erglüht, die er sonst nicht sehen, oder verabscheuen würde, belegt nur das Gesetz der Reibung. Die nothwendige Verirrung erweckt auf der anderen Seite die Menschenliebe und das Bestreben, die Niederen auf eine höhere Stufe der Erkenntniß zu heben. Klagen über die zunehmende Verworfenheit kann nur ein Phantast; der Edle wird helfen. Denn man muß den Grund des Uebels nicht erst suchen; er liegt offen zu Tage und verlangt bloß kräftige Hände, um ihn unschädlich zu machen.

Das Gesetz des socialen Elends und das Gesetz des Luxus (unter welches man eine Hauptbewegung der höheren Classen stellen kann), sind der Ausdruck für die Schäden der ganzen |

i289 Gesellschaft, ihrer unvernünftigen Productions- und Lebensweise. Man kann auch beide, von einem besonderen Standpunkte aus, das Gesetz der Nervosität nennen. Die nach anderen großen Civilisationsgesetzen constant zunehmende Sensibilität wird nach diesem Gesetze künstlich gereizt, oder mit anderen Worten: einer der Bewegungsfactoren wird in eine intensivere Thätigkeit versetzt, und die ganze Bewegung des Individuums wird dadurch eine andere, eine wesentlich intensivere und raschere. Hierher gehören die, nach den Gesetzen der Ansteckung und Gewohnheit, zum Bedürfniß für Alle gewordenen giftigen Reizmittel, wie Alkohol, Tabak, Opium, Gewürze, Thee, Kaffee u.s.w. Sie schwächen die Lebenskraft im Allgemeinen, indem sie unmittelbar die Sensibilität und mittelbar die Irritabilität erhöhen. Die in den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika im Jahre 1870 consumirten spirituösen Getränke z.B. repräsentiren einen Werth von 1,487,000,000 Dollars. Es wurde berechnet, daß die flüssige Masse einen Kanal von 80 engl. Meilen Länge, 4 Fuß Tiefe und 14 Fuß Breite ausfüllen würde!

Auf geistigem Gebiete entfalteten sich, nach der Revolution, vor Allem die Naturwissenschaften. Man ging endlich voraussetzungslos und unbefangen an die Natur, befragte sie aufrichtig und vermied ängstlich, die Physik an eine Metaphysik zu binden. Kant’s Moraltheologie, in welcher eine außerweltliche Macht die denkbar höchste Läuterung erfuhr, wurde bald auf die Seite gelegt und der Materialismus trat an ihre Stelle, welcher ein durchaus unhaltbares philosophisches System ist. Sein Hauptgebrechen habe ich bereits in der Physik beleuchtet; hier habe ich das andere anzuführen, daß er zwar Veränderungen in der Welt, aber keinen Verlauf der Welt kennt. Er kann es deshalb zu keiner Ethik bringen.

Dagegen ist der Materialismus eine sehr wichtige und segensreiche historische Form auf geistigem Felde. Er ist einer Säure zu vergleichen, die allen Schutt der Jahrtausende, alle Ueberreste zersprungener Formen, allen Aberglauben zerstört, das Herz des Menschen zwar unglücklich macht, aber den Geist dafür reinigt. Er ist, was Johannes der Täufer für Christus war, der Vorläufer der echten Philosophie, zu der der geniale Nachfolger Kant’s, Schopenhauer, den Grund gelegt hat. Denn es kann gar keine andere Aufgabe für die Philosophie aufgestellt werden, als die, den |

i290 Kern des Christenthums auf der Vernunft zu errichten, oder, wie es Fichte ausdrückt:

Was ist denn die höchste und letzte Aufgabe der Philosophie als die, die christliche Lehre recht zu ergründen, oder auch sie zu berichtigen?

Dies hat aber Schopenhauer zuerst mit Erfolg versucht.

Die Naturwissenschaft griff dann immer tiefer in das praktische Leben ein und gestaltete es um. Welche Veränderungen haben die beiden wichtigen Erfindungen: die Dampfmaschine und der electrische Telegraph, in der Welt hervorgebracht! Die Bewegung der Menschheit ist durch dieselben in ein zehnfach schnelleres Tempo übergegangen, der Kampf um’s Dasein zehnfach intensiver, das Leben des Einzelnen zehnfach ruheloser geworden als seither.


Date: 2014-12-29; view: 332


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