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Analytik des Erkenntnißvermögens. 21 page

Dieses Verhältniß änderte nun Christus mit fester Hand.

An den Sündenfall anknüpfend, lehrte er die Erbsünde. Der Mensch wird sündhaft geboren.

Aus dem Herzen des Menschen gehen heraus böse Gedanken, Ehebruch, Hurerei, Mord, Dieberei, Geiz, Schalkheit, List, Unzucht, Schalksauge, Gotteslästerung, Hoffart, Unvernunft.

(Marc. 7, 21-22.)

Demgemäß gestaltet sich sein individuelles Schicksal zunächst aus ihm selbst heraus, und alles Unglück, das ihn trifft, alle Noth und Pein, fällt allein der Sünde Adam’s, in welchem alle Menschen gesündigt haben, zu.

Auf diese Weise nahm Christus von Gott alle Grausamkeit und Unbarmherzigkeit und machte ihn zu einem Gott der Liebe und Barmherzigkeit, zu einem treuen Vater der Menschen, dem man vertrauensvoll, ohne Furcht, nahen kann.

i266 Und dieser reine Gott leitet nun die Menschen so, daß sie Alle erlöst werden.

Denn Gott hat seinen Sohn nicht gesandt in die Welt, daß er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn selig werde.

(Joh. 3, 17.)

Und ich, wenn ich erhöhet werde von der Erde, so will ich sie Alle zu mir ziehen.

(Joh, 12, 32.)

Diese Erlösung Aller wird im ganzen Verlauf der Welt, den wir gleich berühren werden, sich vollziehen, und zwar allmählich, indem Gott nach und nach die Herzen aller Einzelnen gnädig erwecken wird. Dieses direkte Eingreifen Gottes in das durch die Erbsünde verstockte Gemüth ist die Vorsehung.

Kauft man nicht zwei Sperlinge um einen Pfennig? Noch fällt derselben keiner auf die Erde ohne euren Vater.

Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupte alle gezählet.

(Matth. 10, 29-30.)

Von der Vorsehung ist die Gnadenwirkung ein Ausschnitt, gleichsam die Blüthe.

Es kann Niemand zu mir kommen, es sei denn, daß ihn ziehe der Vater, der mich gesandt hat.

(Joh. 6, 44.)

Bleiben wir hier einen Augenblick stehen. Was war geschehen? War das Schicksal an sich, die Weltbewegung, plötzlich milde und friedvoll geworden? Trat fortan in der Welt kein Uebel mehr auf: keine Seuchen, keine Krankheiten, keine Erdbeben, keine Ueberschwemmungen, keine Kriege? Waren die Menschen alle friedfertig geworden? hatte der Kampf in der Gesellschaft aufgehört? Nein! das Alles war geblieben. Nach wie vor trug der Weltlauf das fürchterliche Gepräge. Aber die Stellung des Individuums zu Gott hatte sich total verändert. Der Weltlauf war nicht mehr der Ausfluß einer einheitlichen Macht; er entstand jetzt aus Faktoren, und diese Faktoren, aus denen er sich erzeugte, waren streng geschieden worden. Auf der einen Seite stand die sündhafte Creatur, welche die Schuld an ihrem Unglück allein trägt, aus eigenem Willen handelt, und auf der anderen Seite stand der barmherzige Gott-Vater, der Alles zum Besten lenkt.

Das Einzelschicksal war fortan das Produkt der Erbsünde und der Vorsehung (Gnadenwirkung): das Individuum handelte zur |



i267 Hälfte selbständig, zur Hälfte wurde es von Gott geleitet. Eine große, schöne Wahrheit.

So steht das Christenthum zwischen Brahmanismus und Budhaismus in der richtigen Mitte, und alle drei beruhen auf dem richtigen Urtheil über den Werth des Lebens.

Aber nicht nur lehrte Christus die Bewegung des Individuums aus dem irdischen Leben in das Paradies, sondern auch eine einheitliche Bewegung des Weltalls aus dem Sein in das Nichtsein.

Und es wird gepredigt werden das Evangelium vom Reich in der ganzen Welt, zu einem Zeugniß über alle Völker; und dann wird das Ende kommen.

(Matth. 24, 14.)

Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen. Von dem Tage aber und der Stunde weiß Niemand, auch die Engel nicht im Himmel, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater.

(Marc. 13, 32.)

Auch hier vereinigt das Christenthum die beiden einseitigen Wahrheiten des Pantheismus und Budhaismus: es verknüpft die reale Bewegung des Individuums (Einzelschicksal), welche Budha allein anerkannte, mit der realen Bewegung der ganzen Welt (Weltallschicksal), welche der Pantheismus allein gelten ließ.

Demnach hatte Christus den tiefsten Blick, der überhaupt möglich ist, in den dynamischen Zusammenhang des Weltalls geworfen, und dies stellt ihn hoch über die weisen Pantheisten Indien’s und über Budha.

Daß er Brahmanismus und Budhaismus einerseits und die abgelaufene Geschichte der Menschheit andererseits gründlich kannte, kann keinem Zweifel unterworfen sein. Immerhin reicht dieses bedeutende Wissen nicht hin, um die Entstehung der großartigsten und besten Religion zu erklären. Man muß den gewaltigen Dämon des Heilands zur Hülfe nehmen, der, in Form von Ahnungen, seinen Geist unterstützte. Für die Bestimmung des Einzelschicksals der Menschen lagen alle nöthigen Anhaltspunkte in der reinen, herrlichen Persönlichkeit Christi, nicht aber für die Bestimmung des Weltallsschicksals, dessen Verlauf er trotzdem ohne Schwanken feststellt, wenn er auch seine Unwissenheit, in Betreff der Zeit des Endes, offen bekennt.

Von dem Tage aber und der Stunde weiß Niemand – – auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater.

i268 Mit welcher apodiktischen Gewißheit spricht er dagegen von demjenigen Faktor des Schicksals, der, unabhängig vom Menschen, das individuelle Schicksal gestalten hilft!

Ich rede, was ich von meinem Vater gesehen habe.

(Joh, 8, 38.)

und dann die herrliche Stelle:

Ich aber kenne ihn. Und so ich würde sagen, ich kenne ihn nicht, so würde ich ein Lügner sein, gleich wie ihr seid. Aber ich kenne ihn, und halte sein Wort. (Joh. 8, 55.)

Man vergleiche hiermit das Urtheil des pantheistischen Dichters über die unerkennbare, verborgene Einheit in der Welt:

Wer darf ihn nennen?

Und wer bekennen:

Ich glaub’ ihn?

Wer empfinden

Und sich unterwinden

Zu sagen: ich glaub’ ihn nicht?

Der Allumfasser,

Der Allerhalter,

Faßt und erhält er nicht

Dich, mich, sich selbst?

(Goethe.)

Wer vorurtheilslos die Lehre Christi untersucht, der findet nur immanentes Material: Herzensfrieden und Herzensqual; Einzelwillen und dynamischen Zusammenhang der Welt; Einzelbewegung und Weltallsbewegung. – Himmelreich und Hölle; Seele, Satan und Gott; Erbsünde, Vorsehung und Gnadenwirkung; Vater, Sohn und heiliger Geist; – dieses Alles ist nur dogmatische Hülle für erkennbare Wahrheiten.

Aber diese Wahrheiten waren zur Zeit Christi nicht erkennbar, und deshalb mußten sie geglaubt werden und in solchen Hüllen auftreten, die wirksam waren. So hatte die Frage des Johannes:

Wer ist aber, der die Welt überwindet, ohne der da glaubet, daß Jesus Gottes Sohn ist?

volle Berechtigung.

 

22.

Die neue Lehre wirkte gewaltig. Die wunderschönen, ergreifenden Worte des Heilands:

i269 Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer anzünde auf Erden; was wollte ich lieber, denn es brennete schon!

Aber ich muß mich zuvor taufen lassen mit einer Taufe, und wie ist mir so bange bis sie vollendet werde.

Meinet ihr, daß ich hergekommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Ich sage nein, sondern Zwietracht.

(Luc. 12, 49-51.)

gingen in Erfüllung. »Jede große Idee, sobald sie in die Erscheinung tritt, wirkt tyrannisch,« sagt Goethe. Ihre Wahrheit hat deshalb die außerordentliche Macht, weil sie sofort in das Gewissen übergeht. Der Mensch weiß fortan ein höheres Wohl; es umklammert sein Herz und, wie er sich auch schütteln mag, es läßt ihn nicht mehr los. Und so war auch die Lehre Christi, einmal als neues Motiv in die Welt geworfen, nicht mehr zu vernichten. Sie ergriff zunächst die Niederen, die Verachteten, die Ausgestoßenen. »Alle Menschen sind Brüder, sind Kinder eines liebenden Vaters im Himmel und Jeder ist berufen an Gottes Herrlichkeit Theil zu nehmen.« Zum ersten Mal wurde im Occident die Gleichheit Aller vor Gott gelehrt, zum ersten Mal feierlich erklärt, daß vor Gott kein Ansehen der Person gelte, und zum ersten Mal neigte sich die Religion zu jedem Individuum herab, nahm es liebevoll in ihre Arme und tröstete es. Sie richtete seinen Blick von dem rasch verlaufenden Leben in dieser Welt auf ein ewiges Leben und setzte klar und bestimmt den Preis fest, um den es zu erlangen war: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst; willst du aber ganz sicher die unvergängliche Krone des Lebens erhalten, so berühre nie ein Weib.« Die Sehnsucht nach dem Himmelreich mußte in der Brust der in Ketten Schmachtenden um so größer werden, als gar keine Aussicht vorhanden war, daß durch innere Umwälzungen die persönliche, bürgerliche und politische Freiheit Aller je eine Wahrheit werden würde. Aber warum sollte sie denn überhaupt zur Wahrheit werden? Wie bald ist das kurze Leben vorbei und dann ist ja die Freiheit für ewig gesichert!

Die neue Lehre ergriff dann ganz besonders die Frauen. Der Charakter des Weibes ist durch die beständige Unterdrückung seit Jahrtausenden, auch theilweise durch Verzärtelung in der Civilisation, ein viel milderer als der des Mannes. Das Weib ist vorzugsweise barmherzig. Die Religion der Liebe mußte nun die größte Gewalt über das gleichsam prädisponirte Gemüth der in ihren Kreis ein|tretenden

i270 Frauen ausüben. Sie wurden die Hauptverbreiter des Christenthums. Ihr Beispiel, ihr Lebenswandel wirkte ansteckend. Und wie mußte die neue Generation den Adel ihrer Seelen zeigen. Ich erinnere nur an Macrina und Emmelia, die Großmutter und Mutter des Basilius, an Nonna, die Mutter von Gregor von Nazianz, an Anthusa, die Mutter von Chrysostomos, an Monica, die Mutter von Augustinus und an den Ausruf des Hellenisten Libanius: Welche Frauen haben doch die Christen!

Schließlich ergriff sie die Gebildeten, die eine entsetzliche Leere in sich empfunden haben und unsagbar unglücklich gewesen sein müssen. Sie warfen sich, um nicht ganz im Schlamme zu versinken, und weil der Geist Nahrung verlangt, wie der Körper, dem crassesten Aberglauben in die Arme, ließen ihrer Phantasie die Zügel schießen und haschten nach Phantomen in großer Angst und Beklommenheit. Das Christenthum gab ihnen ein festes Ziel und damit eine bestimmte Richtung. Es setzte an die Stelle der endlosen Entwicklungen Heraklit’s und der endlosen Wanderungen Plato’s, in deren Betrachtung dem Menschen zu Muthe ist, wie einem vom brennendsten Durste geplagten Wanderer in der Wüste, einen Abschluß: die herzerquickende Ruhe im Reiche Gottes. Der Unwissende, der Rohe, läßt sich, wie ein welkes Blatt vom Herbstwinde, immer vorwärts treiben und bringt sich seine Pein selten zum Bewußtsein. Wer aber der Noth entrissen ist und die mit dem Leben wesentlich verbundene Ruhelosigkeit erkannt und schmerzlich empfunden hat, in dem erwacht und wird immer heftiger die Sehnsucht nach Ruhe, nach Enthebung aus dem flachen, ekelhaften Treiben der Welt. Die Philosophie Griechenlands konnte aber den Durst nicht stillen. Sie schleuderte den Verschmachtenden, der Trost bei ihr suchte, immer wieder in den Proceß des Ganzen, dem sie kein Ziel zu setzen vermochte. Das Christenthum dagegen gab dem müden Wanderer einen Ruhepunkt voll Seligkeit. Wer nahm da nicht gern die unbegreiflichen Dogmen in den Kauf?

An allen Ergriffenen aber bewährte es sich als eine große Kraft, die den Menschen wirklich glücklich machen kann. In der besten Zeit Griechenlands und Rom’s war nur eine moralische Entzündung des Willens an der Erkenntniß möglich, nämlich die Vaterlandsliebe. Wer die Güter erkannt und schätzen gelernt hatte, die der Staat ihm darbot, der mußte entflammen, und die Hingabe |

i271 an den Staat gab ihm große Befriedigung. Ein anderes, höheres Motiv, als die Wohlfahrt des Staates, das den Willen hätte ergreifen können, gab es nicht. Nun aber verinnerlichte der Glaube an das selige ewige Leben die Gemüther, durchglühte und läuterte sie, ließ sie Werke reiner Menschenliebe vollbringen und machte sie schon selig in diesem Leben.

 

23.

Den Absterbungsproceß der Römer beschleunigte dann der Neu-Platonismus. Er ist auf brahmanische Weisheit zurückzuführen. Er lehrte, ganz indisch, eine Ur-Einheit, deren Ausströmung die Welt ist, jedoch verunreinigt durch die Materie. Damit sich die Seele des Menschen von ihren sinnlichen Beimischungen befreie, genügt aber nicht die Ausübung der vier platonischen Tugenden, sondern die Sinnlichkeit muß durch Askese ertödtet werden. Eine also gereinigte Seele muß nun nicht wieder, wie bei Plato, in die Welt zurück, sondern versinkt in den reinen Theil der Gottheit und verliert sich in bewußtloser Potenzialität. Der Neu-Platonismus, der eine gewisse Ähnlichkeit mit der christlichen Lehre hat, ist die Vollendung der Philosophie des Alterthums und, gegen Plato’s und Heraklit’s Systeme gehalten, ein ungeheuerer Fortschritt. Das Gesetz der geistigen Befruchtung ist überhaupt nie bedeutsamer und folgenschwerer hervorgetreten, als in den ersten Jahrhunderten nach Christus.

Der Neu-Platonismus bemächtigte sich derjenigen Gebildeten, welche die Philosophie über die Religion stellten, und beschleunigte ihr Absterben. Später wirkte er auf die Kirchenväter und dadurch auf die dogmatische Ausbildung der Christuslehre. Die Wahrheit ist außerordentlich einfach. Sie läßt sich zusammenfassen in die wenigen Worte: »Bleibe keusch und du wirst das größte Glück auf Erden und nach dem Tode Erlösung finden.« Aber wie schwer fällt ihr der Sieg! Wie oft mußte sie schon die Form wechseln! wie vermummt mußte sie auftreten, um überhaupt in der Welt Fuß fassen zu können.

 

24.

Neu-Platonismus und Christenthum wendeten den Blick ihrer Bekenner von der Erde ab, weshalb ich oben sagte, daß sie nicht nur nicht den Verfall des römischen Reichs aufhielten, sondern ihn |

i272 herbeizogen. »Mein Reich ist nicht von dieser Welt,« hatte Christus gesagt. Die Christen der ersten Jahrhunderte beherzigten den Ausspruch wohl. Sie ließen sich lieber zu Tausenden hinschlachten, ehe sie sich dem Staate hingaben. Jeder war nur besorgt um sein Seelenheil und das seiner Glaubensbrüder. Die irdischen Dinge mochten sich gestalten wie sie wollten, – was konnte der Christ verlieren? Doch höchstens das Leben: und gerade der Tod war sein Gewinn; denn das Ende des kurzen irdischen Lebens war der Anfang des ewigen seligen Lebens. Diese Denkungsart war in Alle so eingedrungen, daß man allgemein den Todestag des Märtyrers als seinen Geburtstag feierte.

Auch als das Christenthum zur Staatsreligion erhoben worden war, änderten die Christen ihre Haltung nicht. Die Bischöfe benutzten nur ihren Einfluß, um die blutigen Gladiatorenkämpfe abzuschaffen, Armenhäuser und Spitäler überall entstehen zu lassen, und um die an den Grenzen des Reichs wohnenden Barbaren leichter bekehren zu können.

So vollzogen sich denn endlich die Geschicke des römischen Weltreichs, und auf die großartigste Fäulniß folgte die großartigste Verschmelzung, von der die Geschichte erzählt.

Schon im zweiten Jahrhundert v. Chr. hatten Theile der im Norden des römischen Reichs wohnenden kräftigen Völker germanischen Stammes, die Cimbern und Teutonen, versucht, das Reich zu zertrümmern. Aber die Zeit war noch nicht gekommen, wo frisches, wildes Blut, in dem die gesunde, würzige Luft der Steppe lebte, die siechen Römer regeneriren sollte. Die gedachten Schaaren wurden von Marius geschlagen und großentheils vertilgt. Aber 500 Jahre später ließ sich der Strom nicht mehr dämmen. Vandalen, Westgothen, Ostgothen, Longobarden, Burgundionen, Sueven, Alanen, Franken, Sachsen u.s.w. brachen von allen Seiten in den Staat ein, welcher vorher in ein ost- und west-römisches Reich getheilt worden war. Die Greuel der Völkerwanderung spotten jeder Beschreibung. Wohin die wilden Völkerschaften kamen, zerstörten sie die Werke der Kunst, für die sie kein Verständniß hatten, ließen die Städte in Flammen aufgehen, mordeten den größten Theil der Einwohner und machten das Land zur Einöde. Das Schicksal zeigte unverschleiert sein Ziel und bestätigte die christliche Lehre, die immer lauter und eindringlicher die Abkehr vom entsetzlichen Kampf |

i273 um’s Dasein und die Abtrennung des Individuums von der Welt forderte.

Allmählich aber setzten sich die rohen Schaaren fest und vermischten sich mit den übrig gebliebenen Culturvölkern des abendländischen Römerreichs. Es entstanden überall neue eigenthümliche Charaktere und kräftige Mischvölker, welche größere selbständige Staaten bildeten. Nur diejenigen Germanen, welche in Deutschland theils verblieben, theils dahin zurückgeworfen worden waren, erhielten sich unvermischt in der vollen ursprünglichen Kraft. Das Christenthum wurde nach und nach in allen neuen Staaten die herrschende Religion und unter seinem Einflusse erlagen die rohen Sitten, erweichten die Herzen und wurden gezähmt.

In die verlassenen Wohnsitze der Germanen rückten die Slaven, welche theils in friedlicher Berührung mit den angrenzenden Deutschen und Mischvölkern, theils von denselben unterjocht, in die Civilisation hereingezogen wurden.

 

25.

Kurze Zeit nachdem die durch gewaltigen Anstoß von Norden entstandene Völkervermischung sich einigermaßen abgeklärt und neue Reiche ausgeschieden hatte, drangen auch von Süden halbwilde Völker in den Kreis der Civilisation. Der Araber Muhammed hatte auf Handelsreisen das Christenthum und die jüdische Religion kennen gelernt und sich daraus eine Weltanschauung gebildet, die ihn entflammte. Das Schicksal tritt in ihr sehr bedeutend hervor und wird richtig gekennzeichnet: allerdings nur von der Peripherie aus, wo es sich als unerbittliche, unaufhaltbare, mit Nothwendigkeit verlaufende Weltbewegung zeigt. Es schwebt über der Welt, wie bei den Griechen, und kein Individuum in der Welt hilft, aus seiner Natur heraus, es gestalten, indem jedes Wesen, auf Allah’s Antrieb, ausführen muß, was geschehen soll; während die richtige Ansicht vom Schicksal die ist, daß es die aus den Bewegungen aller Individuen, des Sonnenstäubchens sowohl, als des Menschen, resultirende Bewegung der ganzen Welt ist, daß es also aus der Welt allein, und hier durch das Ineinandergreifen aller nothwendigen Handlungen aller Individuen entspringt.

Es drängte den Propheten, das gefundene Heil seinen Stammesgenossen mitzutheilen und sie zugleich in die höheren Lebensformen |

i274 der Civilisation, die er schätzen gelernt hatte, einzuführen. Er stiftete eine neue Religion, den Muhammedanismus, mit dem verlockenden Paradiese, begeisterte die phantasievollen Nomaden Arabien’s und gab ihnen Motive, welche sie in die Ferne, zu den absterbenden Völkern Kleinasien’s, Aegypten’s, Persien’s und Nord-Indien’s trieben. Wie die germanischen Völker, unterwarfen sie, in heißem Fanatismus, alle Länder, in welche sie eindrangen, bis sie auf die neuen romanisch- germanischen Reiche in Spanien und Frankreich stießen und an ihnen einen Damm fanden. Sie setzten sich jedoch in Süd-Spanien fest. Hier, und überall sonst, vermischten sie sich theils mit den alten Einwohnern, theils ließen sie sich von der vorgefundenen hohen Cultur befruchten. So entstand allmählich eine ganz eigenthümliche, sogenannte maurische Cultur, welche großen Einfluß auf die Völker des Abendlandes ausübte. Die Mauren pflegten die Wissenschaften, besonders Mathematik, Astronomie, Philosophie, Arzneikunde, brachten hervorragende Werke der Poesie hervor und bildeten einen zierlichen Baustil aus, der das Formal-Schöne des Raumes nach einer neuen Richtung auf das Edelste offenbarte.

 

26.

Das Gesetz der geistigen Befruchtung zeigt sich recht deutlich an der einfachen christlichen Lehre. Sie hat ihre Wurzeln in der jüdischen Religion, welche eine unter aegyptischem und persischem Einflusse gereinigte Naturreligion ist, und in den indischen Religionen (wahrscheinlich durch aegyptische Vermittlung).

In ihrer Weiterbildung trat neben jenes Gesetz das der geistigen Reibung. Zum ersten Male war sich im Occident eine Religion selbst überlassen; sie war nicht eine feste Grundlage des Staates, sondern schwebte über demselben ganz frei und wendete sich an die Individuen ohne weltliche Hülfe, bald dieses, bald jenes ergreifend. Hätten sich nun die Bekenner mit kindlichem Sinne an die einfache Heilswahrheit gehalten, welche in keiner Weise mißzuverstehen ist, so hätten Sekten gar nicht entstehen können. Aber der grübelnde Geist versenkte sich mit Wollust in die Heimlichkeiten Gottes, die Doppel-Natur Christi, das Verhältniß des heiligen Geistes zu Gott und Christo, in das Wesen der Sünde und Gnade u.s.w. und selbstverständlich mußten hier die Meinungen weit auseinander gehen, weil die heiligen Schriften |

i275 in dieser Hinsicht vieldeutig sind. Hierzu trat das Bestreben der Gelehrten (der oberflächlichen »Vielwisser«, wie sie der düstere Herakleitos verächtlich nennt), alle guten Elemente des philosophischen Wissens der damaligen Zeit mit der Offenbarung Gottes durch Christum zu verschmelzen. So bildeten sich denn einseitige Lehren aus; ein einheitliches Christenthum existirte nicht mehr und die verschiedenen Lehrmeinungen standen sich schroff gegenüber.

Die Gefahr für das Christenthum war groß. Sie erweckte Männer, welche Alles aufboten, um sie zu beschwören. Sie verfochten mit Geschick den einheitlichen Glauben, und ihren Bemühungen gelang es schließlich, als die Lehre Staatsreligion geworden und deshalb nöthig war, sie zu einem festen, unantastbaren Grund für das Gemeinwesen zu machen, auf Concilien den feinen ethischen Duft des Christenthums in die festen Behältnisse von Dogmen einzuschließen. Die Ketzer wurden verfolgt, und wenn auch die Sekten nicht ganz auszurotten waren, so verloren sie doch allen Einfluß auf die Geschicke der Menschheit.

Später jedoch führten Rangstreitigkeiten zwischen dem Bischof von Rom und dem Patriarchen von Konstantinopel, hauptsächlich verschärft durch die verschiedenartige Auslegung der Dreieinigkeit, zu einer Spaltung der Kirche in einen römisch- katholischen und einen griechisch- katholischen Zweig.

Um den Kampf mit der griechischen Kirche, welche vom byzantinischen Kaiser mächtig beschützt wurde, erfolgreich durchführen zu können, ließ die römische Kirche das römische Kaiserthum wieder aufleben, und bekleidete zuerst Karl den Großen mit der Kaiserwürde. Der Kaiser sollte der Stellvertreter Gottes auf Erden, ein höchster Schiedsrichter in irdischen Sachen, sein und diese Welt zu einem Abglanz des Reiches Gottes machen. »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden.« Die Kirche huldigte indessen dieser Ansicht nur so lange, als sie sich schwach fühlte. Als sie, durch die Siege der ihr ergebenen Fürsten und die aufopfernde Thätigkeit gottbegeisterter Wanderlehrer, den größten Theil der europäischen Länder dem christlichen Glauben unterworfen sah, machte sie den Papst zum alleinigen Stellvertreter Gottes auf Erden. Der Papst übertrug nur seine Macht auf den Kaiser und nur so lange, als dieser den Instruktionen gemäß handelte. Jetzt entstand der lange Hader |

i276 zwischen Papstthum und Kaiserthum, zwischen weltlicher und geistlicher Macht, der noch heute nicht geschlichtet ist.

 

27.

Wir haben jetzt die Zustände des Mittelalters auf politischem, ökonomischem und geistigem Gebiete kurz zu betrachten. –

Die abendländische Christenheit zerfiel in eine große Anzahl selbständiger Staaten, welche den Kaiser im Prinzip als obersten Herrn anerkannten. In ihm war scheinbar, thatsächlich aber im Papste ein ungeschriebenes Völkerrecht verkörpert, so daß Ausrottungskriege gegen Christen unmöglich waren und nach dem Gesetze der Völkerrivalität ein reges politisches Leben Platz greifen konnte.

Die Form der Staaten war der Feudal-Staat. Der König wurde als Besitzer des ganzen eroberten Landes angesehen. Er gab Theile davon an den hohen Adel, an die hohe Geistlichkeit und an Städte ab, d.h. er belehnte sie damit, und erhielt als Gegenleistung Heerfolge und bestimmte Abgaben. Die Belehnten gaben ihrerseits wieder Theile des Lehns an ihre Mannen und an die Bauern, welche ihnen zu Diensten dafür verpflichtet waren.

Aus diesem allgemeinen Lehnsverbande schieden mit der Zeit der höchste Adel, die Kirchenfürsten und die freien Städte aus. Sie benutzten ihre Macht dazu, ihr Lehen zu freiem Eigenthum zu machen und dagegen das Abhängigkeitsverhältniß nach unten zu verstärken. Die meisten Bauern wurden zu Leibeigenen herabgedrückt und sanken in Noth und Elend.

Auf diese Weise wurde die Gewalt des Königs gelähmt. Er konnte fast nur dann noch das Wohl des Staates fördern, wenn es mit dem Privatinteresse der Herren übereinstimmte.

Der Feudalstaat war somit die Brutstätte der maßlosesten Zersplitterung. Das Gesetz der Ausbildung des Theils, welches man hier am besten Gesetz des Particularismus nennt, trat mächtig in ihm auf. Jeder sonderte sich mit seinem Anhang ab und bildete seine Persönlichkeit einseitig aus. Es entstand eine Fülle echter trotziger Charaktere, die vor Fäulniß bewahrt wurden, weil Reichthum nicht vorhanden war und die bei einer solchen Lage der Dinge hohe Reibung die Kräfte beständig in Spannung erhielt und vor Erschlaffung schützte. Eckige, querköpfige, eiserne Menschen, die lieber zerbrachen, als ihren Eigensinn aufgaben! Aber sie wur|den

i277 von der Civilisation nicht vergessen! Sie ließ dieselben auf die Seite treten und sich absondern, um sich und Anderen großes Leid zu bereiten. Dann kam die Hochfluth, welche sie in den Strom des Werdens riß, sie schmelzte und zu neuen Crystallen von weicherer Natur anschießen ließ.

 

28.

Wenn wir jetzt das ökonomische Gebiet des Mittelalters betreten, so haben wir zunächst einen Blick auf die Arbeit im Alterthume zu werfen.

Das ökonomische Gepräge der alten Welt ist die Sklaverei. Die herrschenden Classen der Priester und Adeligen, jene im Besitze der geheimen Wissenschaft, diese das Schwert in der Hand, ließen die unteren Classen für sich arbeiten und wurden reich. Während das Volk darbte, weil ihm nur so viel kärglich zugemessen wurde, als zur Fortführung eines mühseligen Lebens nöthig war, schwelgten die Herrschenden im Ueberfluß. Der wirthschaftliche Schwerpunkt lag im Ackerbau, der die meisten Sklaven beschäftigte. Der Rest wurde dazu verwandt, nothwendige Gegenstände, wie Kleider, Waffen, Geräthschaften u.s.w. anzufertigen. Den Ueberschuß an solchen Produkten tauschte der antike Herr, vermittelst der Kaufleute, gegen die Luxusprodukte anderer Länder aus.

In ähnlicher Weise gestalteten sich die wirthschaftlichen Verhältnisse im Mittelalter. Die Sklaverei war zwar durch das Christenthum abgeschafft worden, aber an ihre Stelle trat die Leibeigenschaft und die Hörigkeit. Die freieren Bauern mußten dem Herrn Naturaldienste leisten und Theile ihrer Ernte, ihres Viehs etc. an ihn abtreten.

Die Gewerke, wenn sie nicht im Dienste der Feudalherren standen, konnten sich dem herrschenden Zeitgeiste nicht entziehen und gliederten sich nach streng abgeschlossenen Zünften. Für jeden Ort waren die Gewerke und für jedes Gewerk die Zahl der Meister bestimmt; ferner war genau festgestellt, auf welche Weise Einer Meister werden konnte, welche Anzahl von Gesellen er halten, was er produciren durfte.

 

29.

Auf geistigem Gebiete herrschte die Kirche. Ihre Stellung zu den lebenskräftigen Mischvölkern und reinen Germanen war eine |

i278 andere, als die der christlichen Lehre zum römischen Volke. Diese hatte Bruchtheile einer absterbenden Nation bergab zu führen, jene sämmtliche Individuen bergauf zu geleiten und ihre Lebenskraft zu dämpfen und zu mildern.


Date: 2014-12-29; view: 359


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