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Analytik des Erkenntnißvermögens. 20 page

i253 Die Folge dieses Abfalls des Einzelnen von der Gesammtheit war der Zerfall der letzteren. Die Reibung zwischen den Parteien wurde immer größer, bis die Fäulniß so allgemein wurde, daß das Gesetz der Verschmelzung durch Eroberung wieder hervortreten konnte. Das im Greisenalter angelangte griechische Volk unterlag den kräftigen, abgehärteten Macedoniern. – Im Leben der Menschheit wirken immer dieselben Gesetze, aber der Kreis der Civilisation wird dabei immer größer.

 

16.

Den Motiven, welche der griechische Genius für die ganze Menschheit erzeugte, wollen wir jetzt eine kurze Betrachtung widmen.

Die Naturreligion der Hellenen, ein heiterer Polytheismus, wurde nicht speculativ vertieft, sondern künstlerisch verklärt. Die alten Pelasger hatten zwar, vor ihrer Verschmelzung mit den Griechen, unter aegyptischem Einfluß einen Anlauf genommen, die Religion weiterzubilden (Eleusinische Mysterien), wofür in der abgeschlossenen Priesterkaste ein günstiger Boden war, aber die Bewegung stockte, als die alte Kastenordnung unter- und das Priesteramt auf die Könige überging. Der einzige speculative Gedanke, der hervortrat und dogmatisch wurde, war der Schicksalsbegriff. Man schmolz nicht die Götter zu einer Gottheit zusammen, welche die Loose der Sterblichen bestimmte, sondern setzte über die Götter und Menschen das eiserne Schicksal als eine Thatsache. Man hatte eine vortreffliche Einheit gewonnen, welche freilich ihrem Wesen nach nicht erkannt wurde, aber auf die sich alle Vorkommnisse im menschlichen Leben zwanglos zurückführen ließen. Man muß der Enthaltsamkeit der Griechen hier die größte Bewunderung zollen. Sie hatten sehr richtig erkannt, daß sie vor etwas rein Abstraktem standen und ihr Alles gestaltender, künstlerischer Geist trat bescheiden zurück, dafür mit Liebe die ihnen jetzt so nahe gerückten Olympier erfassend. (Die Erinnyen sind nur die personificirte Gewissensangst, die Parzen nur Verbildlichung des menschlichen Lebenslaufs.) Aber eben diese Scheu vor der geheimnißvollen Macht trübte das Urtheil der Griechen über dieselbe. Man stellte sich das Schicksal nicht als eine auf irgend eine Weise sich ergebende Bewegung der Welt, sondern als starres, über ihr waltendes Verhängniß vor, das schlechterdings nicht zu ergründen sei.

i254 Da nun die Naturreligion erstens, auf diese Weise, keiner Entwicklung fähig, zweitens unantastbar war, weil sie eine der Grundlagen des Staates ausmachte, während andererseits die fortschreitende Intelligenz das Bedürfniß hatte, das Verhältniß des Menschen zum Naturganzen zu durchdringen, so entstand neben der Religion die Philosophie.

Es kann nicht unsere Aufgabe sein, die vielen griechischen philosophischen Systeme einer Betrachtung zu unterwerfen. Es muß uns genügen, einige derselben kurz in’s Auge zu fassen.



Heraklit, welcher nach meiner Ueberzeugung der bedeutendste Philosoph des Alterthums ist, warf einen sehr klaren Blick in den Zusammenhang der Natur. Er hütete sich wohl, der Wahrheit in’s Gesicht zu schlagen und die realen Individuen zu Gunsten einer erträumten Einheit zu verwischen, und lehrte, daß Alles in einem Flusse des Werdens begriffen sei, eine unaufhörliche Bewegung habe. Dadurch aber, daß er immer wieder Leben entstehen sah, wo der Tod eingetreten war, wurde er verleitet, die Bewegung des Ganzen als eine ziellose zu erfassen. Er construirte mit den Gliedern Sein- Nichtsein und Nichtsein-Sein eine endlose Kette oder besser einen unaufhörlichen Kreislauf. Durch das Aufheben einer Bestimmtheit wird immer wieder eine Bestimmtheit gesetzt, und der Weg nach oben (Auflösung der Individualität) wird sofort zum Weg nach unten (Bildung einer neuen Individualität).

Heraklit täuschte sich dagegen nicht über den Werth des Lebens, und so lehrte er ferner, daß es kein höheres Glück für den Menschen geben könne, als sich feurig diesem endlosen Werden, dem Allgemeinen hinzugeben, und keinen größeren Schmerz, als sich in die Besonderheit, in das eigene Fürsichsein, zurückzuziehen, sich gegen die Aufhebung eines bestimmten Seins zu sträuben, »sich wie das Vieh zu mästen und nach dem Magen und den Schaamtheilen, dem Verächtlichsten an uns, unser wahres Wohl festzusetzen.«

Was er also verlangte, war, daß sich der Einzelne in die Bewegung des Ganzen durch völlige Hingabe an den allgemeinen, allerdings endlosen Prozeß stelle, d.h. den natürlichen Egoismus in den geläuterten überführe und moralisch handle.

Seine Lehre ist eine hohe und reine; aber sie leidet am endlosen Werden.

Wie Heraklit, lehrte Plato einen endlosen Kreislauf. Er faßte |

i255 die Welt als eine Composition von Abbildern der, hinter der Welt, in ewiger Ruhe, schmerzlos und selig lebenden Ideen auf. Die menschliche Seele stammt aus dieser reinen Ideenwelt, kann aber nicht auf die Dauer in sie zurückkehren. Verläßt die Seele den Körper, in Verbindung mit welchem sie nur ein verunreinigtes Leben führen kann, so geht sie, hatte sie sich nicht der Sinnlichkeit ergeben, sondern die Tugenden der Weisheit, Tapferkeit, Mäßigkeit und Gerechtigkeit ausgeübt, in einen Zustand ruhiger Seligkeit ein, andernfalls muß sie so lange in anderen Körpern wandern, bis sie sich ihre ursprüngliche Reinheit wieder erkämpft hat, und dadurch des gedachten Zustandes theilhaftig werden kann. In diesem Zustand aber kann die Psyche nicht bleiben, sie muß nach einer bestimmten Zeit, nach tausend Jahren (De Rep. X.) wieder ein irdisches Loos erwählen. Dann beginnt der Kreislauf von Neuem.

In der bloßen Annahme einer göttlichen reinen Seele, welche an ein verwerfliches sinnliches Begehrungsvermögen gekettet ist, lag die Verurtheilung des menschlichen Lebens.

Sieht man von dem Kreislauf ab, so haben Heraklit und Plato durch ihre Lehren Motive in die Welt geworfen, welche in manchen Herzen Sehnsucht nach einem reineren Zustand und Abscheu vor einem Leben der Ungerechtigkeit und Zügellosigkeit erwecken mußten. Sie veredelten dadurch das Gemüth und regten zugleich den Wissensdurst an, der ein hohes Gut ist, da er den Menschen vom gemeinen Treiben in dieser verächtlichen Welt abzieht.

Aristoteles nenne ich nur, weil er der Erste war, der sich dem Einzelnen in der Natur zuwandte und dadurch den Grund zu den Naturwissenschaften legte, ohne welche die Philosophie nie aus dem Meinen herausgekommen wäre und sich zu einem reinen Wissen hätte fortbilden können.

Ich habe auch Herodot, den Vater der Geschichte, zu erwähnen; denn die Geschichte ist so nothwendig für die Philosophie, wie die Naturwissenschaften. Letztere erweitern die Erkenntniß des dynamischen Zusammenhanges der Welt, können aber nur unsicher auf ein Ende des Werdens, worauf doch Alles ankommt, zeigen. Die Uebersicht dagegen über das abgelaufene Leben der Menschheit führt zu den wichtigsten Schlüssen; denn die Geschichte bestätigt das, was immer subjektive Erfahrung bleibt und deshalb immer angezweifelt werden darf (nämlich die aus dem klar erkannten individuellen |

i256 Schicksal sich ergebende Wahrheit, daß Alles ein bestimmtes Ziel hat) durch das Schicksal der Menschheit in einer Weise, daß Keiner daran zweifeln darf: ein großer Gewinn.

 

17.

Wenn es demnach dem griechischen Genius auf dem Gebiete der Wissenschaft nur beschieden war, die von der Religion getrennte Philosophie, die Naturwissenschaften und die Geschichte zu gebären, welche, als Säuglinge, den kommenden Geschlechtern zur Pflege übergeben werden mußten, so hat er dagegen auf dem Gebiete der Kunst das Höchste erreicht.

Wie die Natur des Landes die Ursache davon war, daß sich die Individualität des Griechen zur freien Persönlichkeit ausbilden konnte, so war sie es auch, welche den für die Kunst unentbehrlichen Schönheitssinn entwickelte und rasch zur Vollendung reifen ließ. Es bildete das Auge: die Pracht des Meeres, der Glanz des Himmels, die Phänomene der klaren Luft, die Form der Küsten und Inseln, die Linien der Gebirge, die reiche Pflanzenwelt, die leuchtende Schönheit der menschlichen Gestalten, die Grazie ihrer Bewegungen; es bildete das Ohr: der Wohlklang der Sprache. Der Grund des Schönen in den Dingen war verschwenderisch über das herrliche Land ausgestreut. Wohin das Auge blicken mochte, überall mußte es harmonische Bewegungen objektiviren. Welcher Zauber lag in der Bewegung der Einzelnen beim Ringen, Fechten, und in der Bewegung von Massen bei festlichen Aufzügen! Welchen großen Unterschied zeigte das Leben des Volks gegen das der Orientalen. Hier strenge Feierlichkeit und ängstliche Gemessenheit, ja, wenn man will, durch Einschnürung erzeugte Steifheit, starres Ceremoniell, tiefer Ernst – dort maßvolle Ungebundenheit, quellende Lebenslust an der Hand der Grazien, einfache Würde, abwechselnd mit anmuthsvoller Heiterkeit.

Als dann in den Seelen der unsterblichen bildenden Künstler und Dichter der Schöpfungstrieb erwacht war; als die Gesänge Homer’s zu kühnen Thaten begeisterten und die Dramen des Sophokles die Macht des Schicksals und das Innere des Menschen dem objektiv gewordenen Geiste zeigten; als sanfte jonische Musik die schwungvollen Hymnen Pindar’s begleitete; als weithin die marmornen Tempel strahlten und die Götter selbst in verklärten |

i257 Menschenleibern herabstiegen, um Wohnung unter dem entzückten Volke zu nehmen, – da war ja nur herausgestellt worden, was in Jedem lebte, da hatte sich ja nur in Einzelnen verdichtet, was Alle erfüllte. Wie in einer Nacht waren die Knospen aufgesprungen und die Blüthen des Formal-Schönen hatten sich entfaltet in unvergänglicher Pracht und Herrlichkeit.

Fortan hatten die Griechen, und durch sie die ganze Menschheit, neben dem begrifflichen Gesetz ein bildliches. Während das erstere mit Ketten und Schwert auf den Einzelnen eindringt und die sich gegen den Zwang trotzig auflehnende Individualität zu Boden wirft und knebelt, naht sich das letztere mit freundlicher Miene, streichelt das wilde Thier in uns und bindet uns, unser unaussprechliches Behagen benutzend, mit unzerreißbaren Blumenkränzen. Es wirft das aesthetische Maß über uns und läßt uns dadurch Ekel vor Ausschreitungen und Rohheiten empfinden, die uns vorher gleichgültig waren, wenn nicht gar ergötzten.

Die Kunst schwächt auf diese Weise den Willen direkt; indirekt aber dadurch, wie ich in der Aesthetik zeigte, daß sie im Menschen, nach dem kurzen Rausche der reinen Freude, die Sehnsucht nach seliger Ruhe erweckt und ihn, behufs anhaltender Befriedigung derselben, an die Wissenschaft weist. Sie schiebt ihn auf das moralische Gebiet hinüber. Hier nun bindet er sich selbst durch Erkenntniß, ohne Zwang des Gesetzes.

Ferner läßt sie den Menschen durch die dramatische Poesie einen Blick in sich und auf das unerbittliche Schicksal werfen und klärt ihn über das unselige Wesen auf, das in Allem, was ist, wirkt und kämpft.

 

18.

Als Alexander der Große Griechenland unterworfen hatte, trat er als siegreicher Eroberer im Orient auf und trug hellenische Cultur in die Reiche mit despotischer Verfassung: nach Aegypten, Persien und Indien. Es fand eine großartige Verschmelzung von Orientalismus und Hellenismus statt; der starre Formelkram, das erdrückende Ceremoniell wurde durchbrochen, und ein reiner frischer Luftzug strömte in die abgeschlossenen düsteren Länder. Dagegen ergoß sich orientalische Weisheit reichlicher als vorher in das Abendland und befruchtete die Geister.

i258 Neben diesem geistigen Befruchtungsproceß ging der physische Verschmelzungsproceß her. Beide entsprachen den bestimmten Absichten des jugendlichen Helden. Er selbst heirathete eine Tochter des Perserkönigs und ließ in Susa 10,000 Macedonier mit Perserinnen ehelich vereinen.

Wenn auch das von ihm gegründete große Weltreich nach seinem Tode wieder zerfiel, so blieb doch in den einzelnen Theilen die hellenische Bildung, als die kräftigste und edelste von allen, vorherrschend und modelte die Menschen allmählich um. Die große Masse des Volks hatte entschieden gewonnen. Der Grieche war ein milder Herr, und die Menschlichkeit wurde zur strengen Sitte, vor welcher sich auch der orientalische Herr beugen mußte. Der Druck der eisernen Hand ließ nach, und die durch das Gesetz zermürbte rohe, wilde Individualität konnte zur strebenden Persönlichkeit werden; wenigstens hatte sie die dazu nöthige größere Beweglichkeit gewonnen, die Möglichkeit, sich aus der Masse herauszuheben.

 

19.

In ähnlicher Weise wie in Griechenland verhinderte auch in Italien die wohlwollende Natur, daß die Religion der eingewanderten Völker arischen Stammes zu einer Alles gefangen nehmenden und lähmenden Macht wurde. Es konnten die Freien, wie dort, die Persönlichkeit erringen und dadurch Staaten von großer Lebenskraft und mit civilisatorischem Berufe gründen.

Der Kampf des niederen Volks um Rechte, welche den Pflichten entsprachen, ein Kampf, der sich nach dem Gesetze der Verschmelzung durch Umwälzung im Innern vollzieht, war bei den Römern hartnäckiger als bei den Griechen, weil jene einen schrofferen und härteren Charakter hatten als diese. Stückweise mußten sich die Plebejer den Antheil an der Regierung des Staates erringen und es vergingen beinahe fünf Jahrhunderte, bis ihnen endlich alle Aemter zugänglich wurden. Als die Verfassungsstreitigkeiten beendet waren, welche auf beiden Seiten die segensreichsten Folgen hatten, da die Intelligenz geschärft wurde, begann die Blüthezeit des römischen Staates, das Zeitalter der echten Bürgertugend.

Jetzt fiel das Wohl des Individuums mit dem Wohl des Ganzen zusammen, und dieser Einklang mußte dem Bürger großen inneren Frieden und außerordentliche Tapferkeit geben. Der Gehorsam |

i259 gegen die Gesetze erhob sich zur wärmsten Vaterlandsliebe; Jeder hatte nur das eine Bestreben: die Macht des Gemeinwesens zu starken und den Staat auf seiner Höhe zu erhalten. Hierdurch mußte, nach dem Gesetze der Völkerrivalität, Rom in die Bahn der Eroberung, die es auch mit Nothwendigkeit nicht eher verlassen konnte, als bis es zur Weltherrschaft gelangt war; denn jeder neue Zuwachs zum Reiche brachte den Staat mit neuen Elementen in Berührung, deren Macht er aus Selbsterhaltungstrieb nicht neben sich dulden durfte. Und so entstand allmählich das große römische Weltreich, welches fast sämmtliche Culturstaaten des Alterthums in sich vereinigte. In dem ungeheuren Staate wogten die verschiedenartigsten Völker mit den verschiedenartigsten Sitten und religiösen Anschauungen und im verschiedenartigsten Culturzustand durcheinander. Nun traten wieder die Gesetze der geistigen Befruchtung und der Verschmelzung in den Vordergrund und erzeugten theils neue Charaktere, theils Abschleifung und Umbildung der alten, unter dem Einfluß der nach und nach sich gestaltenden allgemeinen Cultur.

Dies und der immer mehr sich aufhäufende Reichthum bewirkten dann den größten Fäulnißproceß, von dem die Geschichte berichtet. Die Sitten der alten Republikaner: Zucht, Einfachheit, Mäßigkeit und Abhärtung verschwanden immer mehr, und Faulheit, Genußsucht und Zügellosigkeit traten an ihre Stelle. Fortan gab es keine Unterordnung mehr des Einzelnen unter das Ganze.

Die zum großen Leben

Gefügten Elemente wollen sich

Nicht wechselseitig mehr mit Liebeskraft

Zu stets erneuter Einigkeit umfangen.

Sie fliehen sich, und einzeln tritt nun Jedes

Kalt in sich selbst zurück.

(Goethe).

Jeder dachte nur an sich und seinen niedrigsten Vortheil und war nicht mit seinem Antheil an der Summe von Gütern zufrieden, die, wie in einem Bienenstock, die Hingabe des Einzelnen an die Gesammtheit erzeugt. Die gewachsene Intelligenz hatte ferner die sichere Bewegung des Menschen zerstört, denn je mehr ganze Bewegung sich spaltet, d.h. je größer Sensibilität und Irritabilität werden, desto schwankender wird der Wille. Die sicherste Bewegung hat der Flachkopf.

i260 Es gab nichts Heiliges mehr: weder der Wille der Gottheit, die verlacht wurde, noch das Vaterland, dessen Schutz man den Söldnern überließ, war noch heilig. Jeder glaubte, für seine Person die ehrwürdigen Verträge aufheben zu dürfen. Nur ein Ziel gab es noch, das wenige Römer zur inneren Sammlung und ihr Herz zum Erglühen bringen konnte: die Herrschaft. Die Meisten ergriffen bald dies, bald das, wollten bald dies, bald das, und haschten nach Allem. Sie hatten allen Ernst verloren und waren am Abhang angekommen, der zur Vernichtung führt. Die Reibung erreichte ihren Höhepunkt und zermürbte mit ihren eisernen Händen die in der tollsten Leidenschaftlichkeit sich austobenden Menschen. Die blutigsten Bürgerkriege brachen aus; denselben folgte totale Ermattung des Volks, welche zur Errichtung des despotischen Kaiserreichs führte.

 

20.

Wer sich in den Fäulniß- und Absterbungsproceß der asiatischen Militärdespotieen, Griechenlands und Rom’s vertieft und lediglich die Bewegung auf dem Grunde im Auge hat, der gewinnt die unverlierbare Erkenntniß, daß der Gang der Menschheit nicht die Erscheinung einer sogenannten sittlichen Weltordnung, sondern die nackte Bewegung aus dem Leben in den absoluten Tod ist, die, überall und immer, auf ganz natürlichem Wege aus den wirkenden Ursachen allein entsteht. In der Physik konnten wir zu keinem anderen Resultat kommen, als dem einen, daß aus dem Kampfe um das Dasein immer höher organisirte Wesen hervorgehen, daß sich das organisirte Leben immer wieder erneuere, und es war ein Ende der Bewegung nicht zu entdecken. Wir befanden uns im Thale. In der Politik dagegen befinden wir uns auf einem freien Gipfel und erblicken ein Ende. Allerdings sehen wir dieses Ende in der Periode des Untergangs der römischen Republik noch nicht klar. Noch haben sich die Morgennebel des Tages der Menschheit nicht ganz verzogen und das goldene Zeichen der Erlösung Aller blitzt nur hie und da aus dem Schleier, der es verhüllt; denn nicht die ganze Menschheit lag in der Form des babylonischen, assyrischen und persischen Staates, auch nicht im griechischen und römischen Staate. Ja, nicht einmal sämmtliche Völker dieser Reiche sind abgestorben. Es waren gleichsam nur die Spitzen von Zweigen des großen Baumes, welche verdorrten. Aber |

i261 wir erkennen klar in den Vorgängen die wichtige Wahrheit: daß die Civilisation tödtet. Jedes Volk, welches in die Civilisation eintritt, d.h. in eine schnellere Bewegung übergeht, fällt und wird in der Tiefe zerschmettert. Keines kann sich in seiner männlichen Kraft erhalten, Jedes muß altersschwach werden, entarten und sich ausleben.

Es ist ganz gleich, wie seine dem absoluten Tode geweihten Individuen in die Vernichtung sinken; ob nach dem Gesetze der Fäulniß: verlottert, sich wälzend im Schlamme und Koth raffinirter Wollust; oder nach dem Gesetze des Individualismus: mit Ekel fortwerfend alle köstlichen Früchte, weil sie keine Befriedigung mehr geben, sich verzehrend in Ueberdruß und Langeweile, hin- und herschwankend, weil sie den festen Willen und klare Ziele verloren haben,

Nicht erstickt und ohne Leben;

Nicht verzweifelnd, nicht ergeben.

(Goethe).

oder durch Moralität: im Aether der Seligkeit ihr Leben verhauchend. Die Civilisation ergreift sie und tödtet sie. Wie gebleichte Gebeine die Wege durch die Wüste, so bezeichnen die Denkmäler zerfallener Culturreiche, den Tod von Millionen verkündend, die Bahn der Civilisation.

Aber Erlösung haben alle Zerschmetterten gefunden und sie haben sie verdient. Denn welcher Vernünftige hätte den Muth zu sagen: Erlösung wird nur Demjenigen zu Theil, welcher sie sich erworben hat durch Menschenliebe oder Keuschheit? Alle, die das Schicksal hinabstürzt in die Nacht der völligen Vernichtung, haben sich die Befreiung von sich selbst theuer erkauft durch Leiden allein. Bis zum letzten Heller haben sie das ausbedungene Lösegeld dadurch entrichtet, daß sie überhaupt lebten: denn Leben ist Qual. Durch Tausende von Jahrhunderten mußten sie, als hungriger Wille zum Leben, bald in dieser, bald in jener Gestalt, ruhelos vorwärts, immer die Peitsche im Nacken fühlend, gestoßen, getreten, zerfleischt; denn es fehlte ihnen das befreiende Princip: die denkende Vernunft. Als sie endlich in den Besitz des kostbaren Gutes gelangt waren, da wuchs erst recht die Reibung und Noth mit der wachsenden Intelligenz. Und immer kleiner wurde die lodernde Willensflamme, bis sie zu einem unstät flackernden Irrlicht herabsank, das der leiseste Windhauch verlöschte. Die Herzen wurden ruhig, |

i262 sie waren erlöst. Reines echtes Glück hatten die Meisten von ihnen auf ihrer langen Bahn nur für kurze Zeit gefunden, damals nämlich, als sie sich ganz dem Staate hingaben und ihre Vaterlandsliebe alles Gemeine in ihnen gebunden auf den Grund ihrer Seele hinabwarf. Ihr ganzes übriges Leben war blinder Drang und, im Bewußtsein des Geistes, Zwang, Mühsal und Herzeleid.

 

21.

In diesen Auslösungs- und Absterbungsproceß, der in der historischen Form des Kaiserreichs verlief, fiel, wie Oel in’s Feuer, zunächst die frohe Botschaft vom Reiche Gottes.

Was lehrte Christus?

Die alten Griechen und Römer kannten keine höhere Tugend als die Gerechtigkeit. Außerdem gingen ihre Bestrebungen im Staate auf. Sie klammerten sich an das Leben in dieser Welt. Wenn sie an die Unsterblichkeit ihrer Seele und das Reich der Schatten dachten, wurden die Augen trübe. Was war das schönste Leben in der Unterwelt gegen das Treiben im Licht der Sonne?

Christus dagegen lehrte Nächstenliebe und Feindesliebe und verlangte die unbedingte Abwendung des Menschen vom Leben: Haß gegen das eigene Leben. Er verlangte mithin die Aufhebung des innersten Wesens des Menschen, welches unersättlicher Wille zum Leben ist, er ließ Nichts mehr im Menschen frei; er band und schnürte den natürlichen Egoismus ganz ab, oder, mit anderen Worten: er verlangte langsamen Selbstmord.

Da aber der Mensch, eben weil er hungriger Wille zum Leben ist, das Leben als das höchste Gut preist, so mußte Christus dem Drange nach dem irdischen Leben ein Gegenmotiv geben, welches die Kraft hatte, von der Welt abzuziehen, und dieses gewaltige Gegenmotiv war das Reich Gottes, das ewige Leben voll Ruhe und Seligkeit. Die Wirksamkeit dieses Gegenmotivs wurde erhöht durch die Drohung mit der Hölle; doch trat die Hölle sehr in den Hintergrund: sie hatte nur die Bestimmung, die allerrohesten Gemüther zu schrecken, das Herz zu durchfurchen, damit die Hoffnung auf ein reines Lichtleben von Ewigkeit zu Ewigkeit Wurzel fassen könne.

Es läßt sich nichts Verkehrteres als die Behauptung denken, Christus habe nicht die volle und ganze Ablösung des Individuums von der Welt verlangt. Die Evangelien lassen über seine |

i263 Forderung gar keinen Zweifel aufkommen. An der Hand der gepredigten Tugenden will ich zunächst den indirekten Beweis dafür geben.

Ihr habt gehört, daß gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, und deinen Feind hassen.

Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde, thut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen.

(Matth. 5, 43-44.)

Kann Der seinen Feind lieben, in dem noch der Wille zum Leben mächtig ist?

Dann:

Das Wort faßt nicht Jedermann, sondern denen es gegeben ist.

Denn es sind Etliche verschnitten, die sind aus Mutterleibe also geboren, und sind Etliche verschnitten, die von Menschen verschnitten sind, und sind Etliche verschnitten, die sich selbst verschnitten haben um des Himmelreichs willen. Wer es fassen mag, der fasse es.

(Matth. 19, 11-12.)

Kann Der die Tugend der Virginität ausüben, welchen auch nur noch ein einziges dünnes Fädchen an die Welt fesselt?

Der direkte Beweis ergiebt sich aus folgenden Stellen:

Also auch ein Jeglicher unter euch, der nicht absaget Allem, das er hat, kann nicht mein Jünger sein.

(Luc. 14, 33.)

Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe was du hast, und gieb es den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach.

(Matth. 19, 21.)

Es ist leichter, daß ein Ankertau durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher in das Reich Gottes komme.

(ib. 19, 24.)

In diesen Stellen wird zunächst die Ablösung des Menschen von allem äußeren Besitz, der ihn so sehr an die Welt fesselt, verlangt. Der Schwere der Forderung gaben die Jünger Christi den naivsten und beredtesten Ausdruck, als sie den Meister, in Bezug auf den letzteren Ausspruch, entsetzt fragten:

Ja, wer kann denn selig werden?

Aber Christus verlangt viel, viel mehr.

Und ein Anderer sprach: Herr ich will dir nachfolgen, aber |

i264 erlaube mir zuvor, daß ich einen Abschied mache mit denen, die in meinem Hause sind.

Jesus aber sprach zu ihm: Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes.

(Luc. 9, 61-62.)

So Jemand zu mir kommt, und hasset nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein.

(ib. 14, 26.)

Wer sein Leben lieb hat, der wird es verlieren und wer sein Leben auf dieser Welt hasset, der wird es erhalten zum ewigen Leben.

(Joh. 12, 24-25.)

Hier verlangt also Christus ferner: erstens die Zerreißung aller süßen Herzensbande; dann vom nunmehr ganz allein und vollständig frei und ledig dastehenden Menschen Haß gegen sich selbst, gegen sein eigenes Leben.

Wer ein echter Christ sein will, darf und kann mit dem Leben keinen Compromiß abschließen. Entweder – Oder: tertium non datur. –

Der Lohn für die volle Resignation war das Himmelreich, d.h. der Herzensfriede.

Nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir; denn ich bin sanftmüthig und von Herzen demüthig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.

(Matth, 11, 29.)

Das Himmelreich ist Seelenruhe und durchaus nichts jenseit der Welt Liegendes, etwa eine Stadt des Friedens, ein neues Jerusalem.

Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch.

(Luc. 17, 21.)

Der echte Nachfolger Christi geht durch den Tod in das Paradies, d.h. in das absolute Nichts: er ist frei von sich selbst, ist völlig erlöst.

Hieraus ergiebt sich auch, daß die Hölle nichts Anderes ist, als Herzensqual, Daseinspein. Das Weltkind geht nur scheinbar im Tode aus der Hölle heraus: es hatte sich schon vorher wieder ganz in ihre Gewalt begeben.

Solches habe ich mit euch geredet, daß ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst.

(Joh. 16, 33.)

i265 Das Verhältniß des Individuums zur Natur, des Menschen zu Gott, kann nicht tiefsinniger und wahrer aufgefaßt werden als es im Christenthum dargestellt ist. Es tritt nur verschleiert auf, und diesen Schleier abzuziehen, ist Aufgabe der Philosophie.

Wie wir gesehen haben, entstanden die Götter nur dadurch, daß einzelne Thätigkeiten der nicht abzuleugnenden Gewalt der Natur personificirt wurden. Die Einheit, Gott, entstand durch Verschmelzung der Götter. Immer aber wurde das Schicksal, die aus der Bewegung aller Individuen der Welt sich ergebende einheitliche Bewegung, entweder theilweise oder ganz erfaßt, und dem entsprechend personificirt. Diese Gestaltung eines abstrakten Verhältnisses lag in der Richtung des Geistes, in welchem die Einbildungskraft die Urtheilskraft überwog.

Und immer wurde der Gottheit die ganze Gewalt gegeben: das Individuum erkannte sich in totaler Abhängigkeit und hielt sich deshalb für Nichts.

Im Pantheismus der Inder tritt dieses Verhältniß des Individuums zur Einheit ganz nackt zu Tage. Aber auch im Monotheismus der Juden ist es unverkennbar. Das Schicksal ist eine wesentlich unbarmherzige, schreckliche Macht, und die Juden hatten vollkommen Recht, daß sie sich Gott als einen zornigen, eifrigen Geist vorstellten, den sie fürchteten.


Date: 2014-12-29; view: 355


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