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Analytik des Erkenntnißvermögens. 19 page

Es ist der Civilisation wesentlich, daß sie, nach dem Gesetze der Ausbildung des Theils, in kleinen Kreisen beginnt und diese alsdann erweitert. Die Civilisation ist nicht der Gegensatz zur Bewegung der Naturvölker; denn beide Bewegungsarten haben eine Richtung. Erstere ist nur eine beschleunigte Bewegung. Die Bewegung eines Naturvolks ist der einer Kugel auf einer fast horizontalen Fläche, die Bewegung eines Culturvolks dagegen dem Sturze dieser Kugel in den Abgrund zu vergleichen. Bildlich geredet, hat nun die Civilisation das Bestreben, alle Völker in ihren Kreis zu ziehen; sie hat die ganze Menschheit im Auge und übersteht auch nicht die kleinste Genossenschaft im verborgensten Winkel der Erde.

Zu den Gesetzen, wonach sie hierbei verfährt, gehören die beiden erwähnten. Jeder Culturstaat sucht sich in seiner Individualität zu erhalten und dieselbe so viel als möglich zu stärken. So mußten sich auch die gedachten Staaten zunächst gegen die sie von anderen Staaten trennenden Nomadenhorden und Jagdvölker, welche ihre Grenzen beunruhigten, Einfälle in ihr Gebiet machten, raubten und mordeten, wenden und sie unschädlich zu machen suchen. Sie bekriegten dieselben und fügten sie, als Sklaven, in ihr Gemeinwesen ein. Nachdem auf diese Weise die Staaten aneinander gerückt waren, |

i241 suchte jeder den anderen zu schwächen, oder, sobald es seine Macht gestattete und sein Interesse es erheischte, sich denselben ganz einzuverleiben.

Im ersteren Falle fand, durch Eroberung, in den unteren Classen des Staats eine Verschmelzung wilder Völker mit solchen, die unter Gesetzen bereits verschlossen waren, statt, wobei auch zuweilen Völker verschiedener Race (Arier, Semiten etc.) vermischt wurden; im letzteren Falle wurden Glieder der höheren Classen in das niedere Volk hinabgestoßen. Durch diese Vermengungen und Verschmelzungen erfuhr der Charakter Vieler eine Umbildung.

Die Bewegung, welche sich nach dem Gesetze der Eroberung vollzieht, ist eine kräftige vom Inneren des Staates nach außen, diejenige dagegen, welcher das Gesetz der Fäulniß zu Grunde liegt, ist eine kräftige von außen in das Innere des Staates. Das Resultat beider aber ist dasselbe, nämlich Verschmelzung von Völkern, Umbildung der Individuen, oder auch, ganz allgemein ausgedrückt, Erweiterung des Civilisations-Kreises.

In den gedachten Reichen ergriff mit der Zeit Zuchtlosigkeit die Individuen der höheren Classen. Die sehr ausgebildete Individualität streifte nach und nach alle Ringe ab, welche Sitte, Gesetz und religiöses Gebot um sie gelegt hatten, und ihr, nur auf Sinnengenuß gerichteter Glückseligkeitstrieb stieß sie in einen Zustand völliger Erschlaffung und Verweichlichung. Jetzt fanden kräftige Gebirgsvölker, oder Nomaden, welche entweder außerhalb des Staates standen, oder nur mit einem dünnen Faden an ihn gefesselt waren, keinen Widerstand mehr. Sie brachen, angezogen von den aufgehäuften Schätzen der Cultur, in das schlaff regierte Gemeinwesen ein und stürzten entweder die Versumpften in das niedere Volk hinab, oder verschmolzen sich mit ihnen durch geschlechtliche Vermischung.



 

10.

Der Kreis der Civilisation erweiterte sich ferner, und erweitert sich noch immer, nach den Gesetzen der Colonisation und der geistigen Befruchtung. Unter den alten orientalischen Völkern waren es besonders die Phönizier, welche durch den Handel Cultur verbreiteten. Uebervölkerung, Streit in den vornehmen Geschlechtern und andere Ursachen bewirkten die Anlage von Colonien in entfernten |

i242 Gegenden, welche sich zu selbständigen Staaten fortbildeten und mit dem Mutterlande eng verknüpft blieben.

Dann zogen die Phönizier von Volk zu Volk Fäden und vermittelten dadurch nicht nur den Austausch überschüssiger Produkte, wodurch der Reichthum der Staaten bedeutend stieg, sondern brachten auch überall in das geistige Leben frische Bewegung, indem sie zündende Funken aus den von bevorzugten Völkern gefundenen Wahrheiten in diejenigen Völker warfen, welche nicht die Kraft besaßen, sich selbständig auf eine höhere Stufe der Erkenntniß zu schwingen. In dieser Hinsicht sind die Kaufleute des Alterthums jenen Insekten zu vergleichen, welche im Haushalte der Natur dazu bestimmt sind, mit dem an ihren Flügeln hängen gebliebenen Staube männlicher Blüthen weibliche zu befruchten.

 

11.

Ich sagte oben, daß das Hauptgesetz der Civilisation das Leiden sei, wodurch der Wille geschwächt und der Geist gestärkt werde. Sie bildet den Menschen continuirlich um und macht ihn immer empfänglicher für das Leiden. Zugleich läßt sie unablässig durch den Geist mächtige Motive auf ihn einfließen, welche ihm keine Ruhe geben und sein Leiden vergrößern. Auf diese, von dem Geiste gebotenen, aus dem Geiste erzeugten Motive, wie sie sich im Orient gestalteten, müssen wir jetzt einen kurzen Blick werfen.

Jedes Volk, welches in den Culturstaat eintrat, konnte nicht bei seiner Naturreligion stehen bleiben: es mußte sie speculativ vertiefen; denn die Intelligenz wächst mit Nothwendigkeit im Staate und ihre Früchte müssen deshalb andere sein, als in der losen Genossenschaft.

Wer sein Auge frei von Verwirrung halten kann und nicht geblendet wird von der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, der wird in jeder Naturreligion und in jeder geläuterten Religion nichts Anderes finden, als den mehr oder weniger klaren Ausdruck des Abhängigkeitsgefühls, das jeder Mensch dem Weltall gegenüber empfindet. Nicht um die philosophische Erkenntniß des dynamischen Zusammenhangs der Welt handelt es sich in der Religion, sondern um Aussöhnung des Individuums mit dem aus den Naturerscheinungen gefolgerten allmächtigen Willen einer Gottheit.

i243 In den asiatischen Naturreligionen, welche die Allmacht der Welt zersplitterten und die Splitter personificirten, versöhnte das zitternde Individuum die zürnenden Götter durch äußere Opfer. In den geläuterten Religionen dagegen opferte es der Gottheit durch Beschränkung seines inneren Wesens. Das äußere Opfer, welches beibehalten wurde, war nur eine Andeutung der thatsächlich vollzogenen inneren Beschränkung.

Es ist außerordentlich bedeutsam, daß eine solche Beschränkung des inneren Menschen, die, wie erwähnt, bei den Indern bis zur vollständigen Ablösung des Individuums von der Welt ging, überhaupt gefordert werden konnte und fast überall gefordert worden ist. Was konnte man, wie gesagt, von der Gottheit wissen? Nur ihren Willen, wie er sich in der Natur offenbarte. Er zeigte sich deutlich genug, nämlich allmächtig und bald gnädig, bald vernichtend. Aber wie sollte man seine Absicht erfassen? Warum blieb man nicht beim äußeren Opfer stehen und ging so weit darüber hinaus? Ich habe schon oben die Antwort darauf gegeben. Der Geist Einzelner hatte sich so entwickelt, daß das menschliche Leben an sich beurtheilt werden und zwar, weil der Standpunkt der Urtheilenden, durch günstige Verhältnisse, die erforderliche Höhe hatte, auch richtig beurtheilt werden konnte. Jetzt wurde die Absicht der Gottheit dahin gedeutet, daß das Individuum ihr sein ganzes Wesen zum Opfer bringen solle.

Immerhin bleibt es eine stets bewunderungswürdige Thatsache der Geschichte, daß auf dem richtigen Urtheil über das menschliche Leben allein eine so großartige und tiefe Religion, wie der indische Pantheismus, sich aufbauen konnte. Sie ist nicht anders zu erklären, als daß ausnahmsweise der Dämon gewaltiger Menschen in der Erkenntniß die Hauptrolle spielte und auf Anlaß des vom Geiste gegebenen richtigen Motivs (Verachtung des Lebens) aus der Tiefe seines Gefühls Ahnungen aufsteigen ließ, welche der Geist in Begriffe faßte.

O, ich sah’s über der Welt schweben, wie eine Taube, die ein Nest sucht zum Brüten, und die erste Seele, die in der Erstarrung erglühend aufging, mußte den Erlösungsgedanken empfangen.

(Hebbel.)

Denn die Hauptwahrheit des indischen Pantheismus ist der zwischen einem Anfangs- und Endpunkte liegende einheitliche Ent|wicklungsgang,

i244 nicht nur der Menschheit, sondern des Universums. Konnte ihn der Geist allein finden? Unmöglich! Was konnte man zur Zeit der Inder von dieser Bewegung wissen? Sie hatten nur den Ueberblick über ihre eigene Geschichte, welche weder einen Anfang, noch ein Ende zeigte. Blickten sie in die Natur, so sahen sie die Sonne und die Sterne regelmäßig auf- und untergehen, regelmäßig auf den Tag die Nacht und auf die Nacht den Tag folgen, endlich organisches Leben sich zu Gräbern neigen und aus Gräbern wieder erstehen. Alles Dieses gab einen Kreis, keine Spirale, und der Kern des indischen Pantheismus ist doch, daß die Welt einem einfachen Urwesen entsprungen ist, das in ihr lebt, in ihr büßt, sich reinigt und schließlich, die Welt vernichtend, in das reine Ursein zurückkehren wird.

Die indischen Weisen hatten nur einen festen Stützpunkt: den Menschen. Sie empfanden den Contrast ihrer Reinheit mit der Gemeinheit der Wilden und den Contrast ihres Herzensfriedens mit der Unruhe und Qual der Lebenshungrigen. Dies gab ihnen eine Entwicklung mit Anfang und Ende, aber die Entwicklung der ganzen Welt konnten sie nur durch einen genialen Flug, auf den Schwingen des Dämons, divinatorisch erreichen.

Indessen, diese Wahrheit der einheitlichen Bewegung der Welt, welche nicht zu beweisen war und deshalb geglaubt werden mußte, war außerdem schwer erkauft mit einer einfachen Einheit in der Welt. Hier liegt die Schwache des indischen Pantheismus. Mit einer einfachen Einheit in der Welt ist die sich immer und immer wieder aufdrängende Thatsache der inneren und äußeren Erfahrung, die reale Individualität, unverträglich. Der religiöse Pantheismus und nach ihm der philosophische (Vedantaphilosophie) lösten den Widerspruch gewaltsam, auf Kosten der Wahrheit. Sie leugneten die Realität des Individuums und damit die Realität der ganzen Welt, oder genauer: der indische Pantheismus ist reiner empirischer Idealismus.

Dies mußte so sein. Von dem einheitlichen Entwicklungsgang durfte nicht gelassen werden: auf ihm beruhte die Erlösung. Er bedingte aber eine einfache Einheit in der Welt, weil sonst eine einheitliche Bewegung des Alls nicht zu erklären gewesen wäre, und die einfache Einheit in der Welt verlangte ihrerseits gebieterisch die Herabsetzung der ganzen realen Welt zu einer Welt des Scheins, einem Trug|bilde

i245 (Schleier der Maja); denn wenn in der Welt eine Einheit wirkt, kann kein Individuum real sein; es ist nur todtes Werkzeug, nicht denkender Meister.

Hiergegen erhob sich die Sankhya-Lehre, welche die Einheit leugnete und für die Realität des Individuums eintrat. Aus ihr entwickelte sich die wichtigste Religion Asiens: der Budhaismus.

Der Kern des Budhaismus liegt in der Karma-Lehre: alles Andere ist phantastischer Ausputz, der auf die Rechnung der Nachfolger des großen Mannes zu setzen ist. Dieser über alles Lob erhabenen, wenn auch einseitigen Lehre werde ich in der Metaphysik und im Anhange näher treten, worauf ich verweise. Hier muß ich mich kurz fassen.

Auch Budha ging von der Werthlosigkeit des Daseins, wie der Pantheismus, aus, aber er blieb beim Individuum stehen, dessen Entwicklungsgang ihm die Hauptsache war. Er legte alle Realität in das Einzelwesen, Karma, und machte dieses allmächtig. Es schafft sich, lediglich unter der Leitung seines bestimmten Charakters (besser: unter der Leitung der Summe von bösen und der Summe von guten, aus dem Charakter in früheren Lebensläufen geflossenen Thaten), sein Schicksal, d.h. seinen Entwicklungsgang. Keine außer dem Individuum liegende Macht hat den geringsten Einfluß auf sein Schicksal.

Den Entwicklungsgang selbst des Einzelwesens bestimmt Budha als Bewegung aus einem unbegreiflichen Ursein in das Nichtsein.

Hieraus erhellt deutlich, daß auch Budha’s Atheismus geglaubt werden mußte, wie die einheitliche Bewegung des Weltalls und die in ihm verborgene einfache Einheit, welche der Pantheismus lehrte. Außerdem war die volle Autonomie des Individuums schwer erkauft mit der Leugnung der in der Welt thatsächlich vorhandenen, vom Individuum total unabhängigen Herrschaft des Zufalls. Alles, was wir Zufall nennen, ist That des Individuums, aus seinem Karma heraus bewerkstelligte Scenerie. Budha leugnete also, auf Kosten der Wahrheit, die Realität der Wirksamkeit aller anderen Dinge der Welt, d.h. geradezu die Realität aller anderen Dinge, und es blieb nur eine einzige Realität übrig: das in seiner Haut sich fühlende und sich im Selbstbewußtsein erfassende Ich.

Der Budhaismus ist demnach, wie der indische Pantheismus, crasser absoluter Idealismus.

i246 Dies mußte so sein. Budha stellte sich mit Recht auf die Realität des Individuums, die Thatsache der inneren und äußeren Erfahrung. Er mußte aber das Individuum vollständig autonom machen, d.h. einen einheitlichen Entwicklungsgang der Welt leugnen, weil er sonst auf eine Einheit in der Welt, welche der Pantheismus lehrte, mit Nothwendigkeit geführt worden wäre: eine Annahme, gegen welche er sich, wie jeder klare empirische Kopf, sträubte. Die Selbstherrlichkeit des Ich verlangte jedoch unbedingt die Herabsetzung der übrigen Welt, des Nicht-Ich, zu einer Welt des Scheins und Trugs; denn wenn in der Welt nur das Ich real ist, so kann das Nicht-Ich nur ein Schein sein: es ist Decoration, Coulisse, Scenerie, Phantasmagorie in der Hand des allein realen, selbstherrlichen Individuums.

Der Budhaismus trägt, wie der Pantheismus, das Gift des Widerspruchs mit der Erfahrung in sich. Jener leugnet die Realität aller Dinge, ausgenommen die des Individuums, ferner den dynamischen Zusammenhang der Welt und eine einheitliche Bewegung der Collectiv-Einheit; dieser leugnet die Realität aller Dinge und kennt nur eine einfache Einheit in der Welt mit einer einzigen Bewegung.

Der Budhaismus jedoch steht dem menschlichen Herzen viel näher als der Pantheismus, weil die unerkennbare Einheit nie Wurzel in unserem Gemüth fassen kann, während uns Nichts realer ist als unser Erkennen und unser Gefühl, kurz unser Ich, das Budha auf den Thron der Welt erhob.

Außerdem ist die von Budha gelehrte individuelle Bewegung aus dem Ursein durch das Sein (beständiges Werden, Wiedergeburten) in das Nichtsein unverkennbar richtig, während man bei der Bewegung, welche der indische Pantheismus lehrt, den unbegreiflichen Fehltritt des Urwesens in den Kauf nehmen muß: eine schwere Last.

Beide Lehren machen die Feindesliebe ihren Bekennern möglich; denn ist die Welt nur Erscheinung einer einfachen Einheit und fließt jede individuelle That aus dieser Einheit direkt, so ist ja derjenige, welcher mich beleidigt, mich quält und peinigt, kurz mein Feind, ganz unschuldig an allem mir zugefügten Uebel. Nicht er giebt mir Schmerzen, sondern Gott thut es direkt. Wollte ich den Feind hassen, so würde ich die Peitsche hassen, nicht meinen Peiniger, was widersinnig wäre.

i247 Und ist Alles, was mich trifft, mein Werk, so hat mich, ganz ebenso, nicht mein Feind beleidigt, sondern ich habe mich selbst durch ihn beleidigt. Wollte ich ihm zürnen, so würde ich ebenso unvernünftig handeln, wie wenn ich meinen Fuß schlüge, weil er ausglitt und mich zu Fall brachte.

Indem Budha die Gleichheit und Brüderschaft aller Menschen exoterisch lehrte und damit die Kastenordnung durchbrach, war er auch politisch-socialer Reformator; indessen, diese Bewegung drang in Indien nicht durch. Der Budhaismus wurde auf der ganzen großen Halbinsel allmählich unterdrückt und mußte auf die Inseln und nach anderen Ländern (Hinterindien, China etc.) flüchten. Im eigentlichen Indien verblieb es bei der Kasteneinrichtung und dem Pantheismus.

 

12.

In der persischen Zend-Religion sind die bösen Mächte der Naturreligion zu einem einzigen bösen Geiste und die guten zu einem einzigen guten Geiste zusammengeschmolzen. Alles was das Individuum von außen beschränkte: Finsterniß, Dürre, Erdbeben, schädliche Thiere, Stürme u.s.w. ging von Ahriman aus, Alles dagegen, was die Wirksamkeit des Individuums nach außen förderte, von Ormuzd. Nach innen war es aber gerade umgekehrt. Je mehr der Mensch seinen natürlichen Egoismus beschränkte, desto mächtiger offenbarte sich in ihm der reine Lichtgott, je mehr er jedoch seinen natürlichen Trieben folgte, desto tiefer sank er in die Netze des Bösen. Dies konnte nur gelehrt werden auf Grund der Erkenntniß, daß das irdische Leben nichtig sei. Auch kennt die Zend-Religion eine Bewegung des ganzen Weltalls, nämlich die Vereinigung Ahriman’s mit Ormuzd und die Errichtung des Lichtreichs durch allmähliche Vertilgung alles Bösen auf Erden. –

Diese drei vortrefflichen alten Religionen mußten auf die Entwicklung ihrer Bekenner im Alterthum vom größten Einflusse sein. Sie richteten die Blicke des Menschen in sein Inneres und veranlaßten ihn, auf Grund der Jedem sich aufdrängenden Gewißheit, daß eine unbegreifliche Allmacht die Geschicke bestimme, sich an dem von der Phantasie ausgemalten Wohle zu entzünden.

Der Brahmanismus drohte den Widerstrebenden mit der Seelenwanderung, der Budhaismus mit der Wiedergeburt, die Zend-|Religion

i248 mit dem Unglück, das die Brust des Menschen durchzuckt, wenn er in der Umarmung Ahriman’s liegt; dagegen lockte der erstere die Schwankenden mit der Wiedervereinigung mit Gott, der zweite mit der totalen Befreiung vom Dasein und die Zend-Religion mit dem Frieden im Schooße des Lichtgottes.

Besonders hat der Budhaismus die Seelen mächtig ergriffen und die wilden, trotzigen, störrigen Charaktere sanft und milde gemacht. Spence Hardy, von sämmtlichen Einwohnern Ceylon’s sprechend, sagt:

The carelessness and indifference of the people among whom the system is professed are the most powerful means of its conservation. It is almost impossible to move them, even to wrath.

(Eastern Monachism 430.)

(Die Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit des Volks, welches sich zur Lehre Budha’s bekennt, sind die mächtigsten Mittel für die Erhaltung der Lehre. Es ist beinahe unmöglich diese Menschen zu erregen, man kann sie selbst nicht in Wuth versetzen.)

 

13.

Die semitischen Völker Asien’s, mit Ausnahme der Juden, also Babylonier, Assyrer, Phönizier, haben nicht die Kraft gehabt, ihre Naturreligion zu einer ethischen zu vertiefen. Sie blieben beim äußeren Opfer stehen, welches allerdings den Einzelnen außerordentlich schmerzlich berühren mußte, aber nicht anhaltend auf den Charakter wirkte. Die Mütter, welche ihre Kinder in die glühenden Arme des Moloch legten, und die Jungfrauen, welche, an den Festen der Mylitta, sich entehren ließen, brachten der Gottheit das Theuerste, was sie hatten, zum Opfer; denn an dem tiefen Schmerze der Mutter, die ihr Kind verbrennen ließ, darf nicht gezweifelt werden, und Herodot sagt ausdrücklich, daß die geschändete Jungfrau sich nicht mehr preisgab, man mochte ihr noch so viel bieten. Aber was das Individuum mit diesen entsetzlichen Opfern erkaufte, war Wohlsein in diesem Leben. Die Religionen lenkten nicht den Willen von diesem Leben ab und gaben ihm nicht ein festes Ziel am Ende der Bahn. Zudem waren die grausamen Opfer schlechte Motive, und so kam es, daß allmählich das Volk allen Halt verlor und zwischen maßlosem Sinnengenuß und maßloser Zerknirschung hin- und herschwankte und sich aufrieb.

Die alten Juden dagegen gelangten zu einer reineren Religion, |

i249 die um so bemerkenswerther ist, als das Christenthum aus ihr entsproßte. Sie war starrer Monotheismus. Gott, das unerkennbare außerweltliche Wesen, der Schöpfer des Himmels und der Erde, hielt in seiner allmächtigen Hand die Creatur. Sein von begeisterten Propheten verkündigter Wille verlangte unbedingten Gehorsam, volle Hingabe an das Gesetz, strenge Gerechtigkeit, beständige Gottesfurcht. Der Gottesfürchtige wurde in dieser Welt belohnt, der Vertragsbrüchige furchtbar in dieser Welt bestraft. Aber diese halbe Selbständigkeit des Individuums dem Jehovah gegenüber war nur Schein. Das richtige Verhältniß Gottes zum Individuum war dasselbe, wie im Pantheismus der Inder. Der Sündenfall, der Zendlehre entlehnt, gewann erst im Christenthum, als Erbsünde, Ansehen und Bedeutung. Der Mensch war Nichts als ein Spielzeug in der Hand Jehovah’s; denn wenn auch Gott nicht direkt in ihm wirkte, so hatte er doch die Essentia, aus der die Thaten fließen, geschaffen: sie war sein Werk allein.

Die Juden kamen auch, eben wegen ihres Monotheismus, zu keiner Bewegung des Weltalls.

Ein Geschlecht vergehet, das andere kommt; die Erde aber bleibt ewiglich.

(Salomo.)

Das Weltall hat kein Ziel.

 

14.

Das geniale objektive Erkennen bethätigte sich dann noch bei den alten orientalischen Völkern, zu denen auch die Aegypter gehören, auf dem Gebiete der Wissenschaft und Kunst.

Mathematik, Mechanik und Astronomie fanden sorgsame Pflege bei den Indern, Chaldäern und Aegyptern, und obgleich die gewonnenen Resultate an sich dürftig waren, so gaben sie doch anderen Völkern, namentlich den Griechen, spornende Anregung.

Die Urtheilskraft, dieses wichtige und herrliche Vermögen des menschlichen Geistes, welche, auf Grund des Forschungstriebs, die praktisch so außerordentlich wirksamen und theoretisch so tiefen ethischen Religionen des Orients erzeugte, offenbarte sich auch sehr deutlich als Schönheitssinn und schuf, im Verein mit dem Reproductionstrieb, sehr bedeutsame Werke der Kunst. Aber, wie die mächtige Phantasie in der Wissenschaft die Urtheilskraft wesentlich beschränkte, |

i250 so legte sie sich auch, wie ein Alp, auf den Schönheitssinn, und das Schöne konnte sich nur selten rein und edel entfalten.

In der Baukunst fand das Formal-Schöne des Raumes, namentlich in Aegypten, einen ernsten und würdigen Ausdruck. Die Tempel, Paläste, Gräber etc. waren colossale, aber symmetrisch angeordnete Massen, welche das Auge bilden und das Gemüth erhaben stimmen mußten. Dagegen waren die Werke der Plastik, welche Kunst ganz im Dienste der Religion stand, phantastisch, maßlos und eher darauf berechnet, den Menschen mit Furcht zu erfüllen und in den Staub zu werfen, als zu erheben. In den seligen Zustand der einfachen aesthetischen Contemplation konnten sie ihn in keiner Weise überführen.

Eine sehr hohe Stufe der Vollendung erklomm die Poesie. Die religiösen Hymnen, besonders die herrlichen Vedahymnen, mußten die Andächtigen feierlich stimmen, sie mächtig ergreifen und ein reineres Streben in ihnen erwecken, während die Kriegslieder und Heldengedichte zu kühnen Thaten entflammten, den Muth in die Seelen tragend.

Im Allgemeinen zeigt sich in der orientalischen Kunst die Beengung des Individuums durch die Allmacht der Natur: das Individuum konnte noch nicht zu Wort kommen, weil es seine Kraft noch nicht erkannt hatte. Dieser Andrang von außen wirkte befeuernd auf den speculativen, deprimirend auf den bildenden Geist, und so kann man sagen, daß im orientalischen Alterthum der Genius der Philosophie bereits hoch über den Wolken schwebte, während der Genius der Kunst mit den Spitzen seiner Flügel noch die Erde streifte.

 

15.

Wir wenden uns jetzt zu den alten Griechen, welche, befruchtet von orientalischer Kunst und Wissenschaft, eine ganz eigenartige Cultur erzeugten. Dieselbe brachte große Umgestaltungen in gleichzeitigen und späteren Staaten hervor und wirkt noch immer, als mächtiges Ferment, im Leben der civilisirten Nationen.

Ich habe schon oben den großen Einfluß hervorgehoben, welchen Klima und Bodenbeschaffenheit auf die religiösen Anschauungen eines Volkes und dadurch auf seinen Charakter ausüben. So lange der Mensch nur zerknirscht und zitternd der Gottheit, dem verkörperten Schicksal, zu nahen wagt, wird ihm das Bewußtsein seiner Thatkraft nicht aufgehen und sein Bewußtsein anderer Dinge ein getrübtes |

i251 und mangelhaftes sein. Hat er dagegen die Uebermacht der Natur als ihm überwiegend gnädig gestimmt erkannt, so wird er ihr frei in die Augen sehen, Vertrauen zu ihr und dadurch zu sich selbst gewinnen und muthig und beruhigt auftreten.

So beruht hauptsächlich das ganze politische und geistige Leben der Hellenen auf dem Einfluß des herrlichen Landes, das sie bewohnten. Ein solcher reicher Boden, ein so mildes, sonniges Klima konnte die Menschen nicht zu Sklaven machen, sondern mußte die Erhaltung einer heiteren Naturreligion begünstigen und das Individuum in ein würdiges Verhältniß zur Gottheit setzen. Dadurch aber wurde der Charakter der Griechen allmählich harmonisch; die natürliche unzerstörbare Individualität mußte nicht, damit sie nicht aus Rand und Band gerathe und in Rückbildung verfalle, vollständig durch Gesetze gebunden werden, sondern durfte sich einen Spielraum lassen, in dem sie sich zur edlen Persönlichkeit ausbildete.

Die erste Folge dieser freien Persönlichkeit war, daß die griechische Nation nie zur politischen Einheit gelangte. Sie zerfiel in eine Menge unabhängiger Stadt- und Landgemeinden, welche anfänglich nur in einem losen Bundesverhältniß standen und später der Vorherrschaft des mächtigsten Staates sich unterordneten. Nur die gemeinsame Religion und die Nationalfeste verknüpften die Stämme zu einem idealen Ganzen.

Diese staatliche Zersplitterung auf kleinem Boden, unter dem Schutz einer Art von Völkerrecht, begünstigte wesentlich die Entwicklung aller Anlagen des reichbegabten Volkes; denn nach dem Gesetze der Völkerrivalität, welches uns hier zum ersten Mal deutlich entgegentritt, war jeder Staat bestrebt, die anderen durch Macht zu überragen, und mußte deshalb alle Kräfte seiner Bürger zur Entfaltung und Bethätigung bringen.

Die weitere Folge der freien Persönlichkeit der Griechen war, daß die Verfassung des Staates so lange Umänderungen unterworfen wurde, bis das ganze Volk thatsächlich zur Herrschaft gelangte. In allen griechischen Staaten regierten Anfangs Könige, welche, als oberste Richter, die Gesetze handhabten, den Göttern im Namen des Volkes opferten und im Kriege die Führung hatten. Ihre Macht wurde durch einen Rath beschränkt, dessen Glieder den Adelsgeschlechtern entnommen waren. Ihnen gegenüber stand das Volk, welchem kein Einfluß auf die Leitung der Staatsgeschäfte zukam. |

i252 Diese Verhältnisse änderten sich jedoch allmählich durch innere Umwälzungen, welche sich nach dem, uns hier gleichfalls zum ersten Mal begegnenden Gesetze der Verschmelzung durch Revolution vollzogen.

Zuerst setzten sich die Adelsgeschlechter dem Königthum entgegen, stürzten es und errichteten an seiner Stelle die aristokratische Republik. Dann aber war es das niedere Volk, welches nach der politischen Freiheit rang. Seine Bemühungen waren indessen so lange fruchtlos, bis Streitigkeiten unter den Aristokraten selbst ausbrachen und die Unterliegenden des Volkes Sache zur ihrigen machten, um sich rächen zu können. Auf diese Weise lockerte sich immer mehr das Band zwischen Herrschern und Beherrschten, bis es zuletzt ganz zerriß und das Volk in den Besitz der selbstherrlichen Gewalt gelangte.

Dieser innere Verschmelzungsproceß war außerordentlich wichtig für die Veredelung des Volkes. Jeder ließ jetzt sein höchstes Wohl mit dem Staatswohl zusammenfallen, und neben einer glühenden Vaterlandsliebe, welche das kleine Volk zu den höchsten Thaten befähigte, entstand eine allgemeine Bildung, segensreich für den Einzelnen wie für die Gesammtheit.

Aber wie die ausgeprägte Persönlichkeit der Griechen die Ursache der Erhebung des Volks zur Herrschaft und der Niederreißung der Schranken zwischen den Ständen war, so war sie auch Ursache, daß, nach den Perserkriegen, der Einzelne sich immer mehr vom Ganzen ablöste. Jeder überschätzte sich, glaubte Alles am besten zu wissen und zu verstehen und suchte zu glänzen. Die Persönlichkeit wurde zur überreifen Individualität, in der sich der Mensch unruhig, wie im Fiebertraum, hin- und herwälzt. Bald flammt die Lebenskraft hoch auf, bald sinkt sie, dem Erlöschen nahe, zurück: ein sicheres Zeichen, daß der Wille zum Leben die Höhe seines Daseins überschritten hat und der Anfang des Endes herangekommen ist. Das Individuum ist der Vernichtung geweiht! Der sonnige Weg des feinen, zartfühlenden, beweglichen Griechen scheint unabsehbar weit vom schlammigen des asiatischen Schlemmers abzuliegen, und in der That sind sie ganz verschieden; denn auf dem einen verraucht die Lebenskraft in Wollust und Sinnentaumel, auf dem anderen verliert der Mensch die ruhige Sicherheit und kommt in immer stärkeres Schwanken, – aber beide Wege haben ein Ziel: den absoluten Tod.


Date: 2014-12-29; view: 378


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