Der Urmensch kann sich vom Thier, dem er entsprossen war, nur ganz allmählich entfernt haben. Die Kluft zwischen Beiden kann anfänglich nicht groß gewesen sein. Was sie überhaupt hervorrief, war gleichsam das Aufbrechen der Keime, in denen die Hülfsvermögen der Vernunft noch ganz verschlossen lagen, oder, physiologisch ausgedrückt, eine kleine Vermehrung der Gehirnmasse. Vom Standpunkte meiner Philosophie aber war es die Spaltung eines weiteren Theils der Bewegung des Willens zum Leben in Lenker und Gelenktes, als Ausdruck der tiefen Sehnsucht des Willens nach einer neuen Bewegungsart.
Die neuen Anlagen befestigten und vererbten sich. Von einem schnellen Wachsthum derselben kann nicht die Rede sein; man muß vielmehr annehmen, daß nach dieser Richtung während mehrerer Generationen ein Stillstand eintrat. Die Entwicklung legte sich ganz in die Auswicklung der Individuen, oder mit anderen Worten: das Gesetz der Auswicklung der Individualität be|herrschte
i229 allein die erste Periode der Menschheit. Erst als sich die Individuen derartig vermehrt hatten, daß sie Thiere angreifen und verdrängen mußten, drückte die Noth auf den Intellekt und bildete ihn weiter aus. Es ist keinem Zweifel unterworfen, daß die Einbildungskraft dasjenige Vermögen war, welches sich am frühsten entfaltete. Mit seiner Hülfe gelang es der Vernunft, in Bildern zu denken, das Vergangene mit der Gegenwart zu verknüpfen, causale Zusammenhänge in bildlicher Verbindung festzuhalten, und so zunächst rohe Waffen zu construiren und mit Absicht zu tödten. Im weiteren Fortgang der Entwicklung erstarkte auch der zarte Keim der Urtheilskraft, wahrscheinlich in wenigen bevorzugten Individuen, und es wurden die ersten Begriffe gebildet, aus deren Zusammensetzung flexionslose, rohe Natursprachen entstanden. Die Vernunft trieb hierbei gleichsam Küstenschifffahrt; sie konnte sich noch nicht auf das weite Meer der Abstraktion begeben, sondern mußte immer die einzelnen Dinge der anschaulichen Welt im Auge behalten.
4.
Die Vermehrung der Menschen, begünstigt durch einen sehr starken Geschlechtstrieb einerseits, andererseits durch die für die Erhaltung vortheilhaften Verhältnisse des Landes, das die ersten Menschen bewohnten, bewirkte eine immer größer werdende Ausbreitung. Die Menschen vertheilten sich zunächst noch in Gruppen über diejenigen angrenzenden Gebiete, welche ihnen Unterhalt boten, im beständigen Kampf mit der Thierwelt und mit ihres Gleichen.
Die Lücke, welche zwischen diesen Thiermenschen-Heerden und den Naturvölkern liegt, kann nicht mit Anspruch auf Gewißheit ausgefüllt werden. Den langen Zeitraum beherrschten die Gesetze der Auswicklung und der Reibung. Ersteres schwächte die Intensität des Willens entschieden, wenn auch nur ganz allmählich, so daß ein großer Unterschied zwischen Generation und Generation nicht stattfinden konnte. In den meisten Urkunden des Menschengeschlechts begegnet man Berichten von riesenhaften Individuen, und es ist um so weniger Grund vorhanden, sie zu bezweifeln, als allen jetzt lebenden Thiergeschlechtern gewaltigere Arten vorangegangen sind, und sogar der uns bekannte Gang der Menschheit eine Abnahme der Lebenskraft lehrt, wogegen die Zunahme der Lebensdauer Nichts beweist.
i230 Das Gesetz der Reibung stärkte hingegen die Intelligenz, allerdings nur sehr wenig in dieser Periode, da die Noth nicht groß gewesen sein kann.
5.
So treten wir in die Vorhalle der Civilisation, wo wir die eigentlichen Naturvölker: Jagd-, Viehzucht- und Ackerbau- treibende Stämme vorfinden. Da man in keiner Weise bestimmen kann, ob der Entwicklungsgang der vorgeschichtlichen Menschheit immer in Gruppen oder, durch Zerfall, in Familien, die sich erst später wieder vereinigten, stattfand, so bleibt es dem Ermessen eines Jeden anheimgestellt, sich den Vorgang zu denken wie er will. Wir gehen am besten von Familien aus, in welche sich die Gruppen auflösten, und die sich von Baumfrüchten und erlegten Thieren ernährten; denn der Mensch ist wesentlich ungesellig, und nur die äußerste Noth oder ihr Gegensatz, die Langeweile, kann ihn gesellig machen. Es ist deshalb viel wahrscheinlicher, daß der kräftige Urmensch, als er sich auf Waffen und seine kleine, aber der thierischen weit überlegene Intelligenz stützen konnte, seinem Unabhängigkeitstriebe folgte und sich vereinzelte, als daß eine ununterbrochene Fortbildung in der Gruppe stattfand.
Wenn wir nun einen solchen Jäger nur nach seiner Idee betrachten, so war er einfacher Wille zum Leben, d.h. sein natürlicher Egoismus umschloß noch keinen, nach verschiedenen Richtungen auseinander getretenen Willen, keine Willensqualitäten. Er wollte nur seinem bestimmten einfachen Charakter gemäß da sein und sich im Leben erhalten. Die Ursache hiervon ist in der simpelen Lebensweise und im beschränkten Geiste des Wilden zu suchen. Dem Intellekt lag nur ob, die wenigen Objekte ausfindig zu machen, welche den Hunger, Durst und Geschlechtstrieb befriedigten. War die Noth gehoben, so versank der Mensch in Faulheit und Trägheit.
Dem einfachen Willen, der nicht anders als wild und unbändig zu denken ist, entsprach die geringe Anzahl seiner Zustände. Abgesehen vom gewöhnlichen Zustand der dumpfen Gleichgültigkeit und dem der instinktiven Furcht, war er nur des leidenschaftlichsten Hasses und der leidenschaftlichsten Liebe fähig. Er haßte Alles, was sich ihm hemmend in den Weg stellte, und suchte es zu vernich|ten;
i231 dagegen umfaßte er Alles, was seine Individualität erweitern konnte, mit Liebe und suchte es sich zu erhalten.
Er lebte mit einem Weibe zusammen, das ihn vielleicht auf seinen Streifzügen begleiten mußte, vielleicht auch nur in der Hütte thätig war und das Feuer sowie die Kinder hütete. Der Charakter der Familie war roh und noch ganz thierisch. Die Frau war des Mannes Lastthier, und wenn die Kinder groß waren, zogen sie weiter und gründeten eine eigene Familie.
Den Naturmächten gegenüber verhielt sich der Mensch als Jäger kaum anders als das Thier. Er dachte nicht weiter über die Elementargewalten nach. Indessen mochten doch hie und da seine Abhängigkeit von der Natur und seine Ohnmacht ihr gegenüber in sein Bewußtsein treten und, wie ein Blitz, die Nacht seiner Sorglosigkeit erhellen.
Aus dieser einförmigen Lebensweise riß eingetretener Nahrungsmangel die Menschen. Sie hatten sich inzwischen wieder derartig vermehrt, daß die Jagdgründe des Einzelnen eine bedenkliche Schmälerung erlitten hatten und nicht mehr genug Wild zum Unterhalt boten. Durch einfachen Wegzug konnte das Uebel nicht gehoben werden, denn die für die Jäger günstigen Stellen der Erde waren sämmtlich bewohnt, und zu dieser Eingeschlossenheit eines Jeden trat die Liebe zu seinem Jagdgrund, die ihn darauf festhielt.
Da traten wohl Diejenigen, welche sich näher standen, zusammen und verbanden sich vorübergehend, um die Eindringlinge nicht nur zurückzudrängen, sondern auch zu vernichten. War die Gefahr abgewandt, so gingen sie wieder auseinander. Inzwischen erfuhr auch der Charakter der Familie eine Veränderung. Erstens konnten sich die Söhne nicht mehr leicht ein Unterkommen verschaffen, zweitens lag es im Interesse des Vaters, die Kraft der Söhne zu verwenden, sich durch dieselbe zu stärken. Das Familienband wurde fester angezogen, und jetzt erst entstanden wirkliche Jägerstämme, deren Glieder das Bewußtsein durchdrang, daß sie zusammen gehörten, was vorher nicht möglich war. Da überall dieselben Verhältnisse eintraten, so mußten sich allmählich sämmtliche Familien zu Jägerstämmen vereinigen, die nun nicht mehr aus dem Kriege mit einander herauskamen. Er gehörte fortan zu ihrer Beschäftigung, und in der beständigen Reibung, die er erzeugte, hob er die Geisteskraft des Menschen wiederum auf eine höhere Stufe.
i232 Der Krieg sowohl, als die nunmehr gemeinsame friedliche Beschäftigung, forderten eine starke obere Leitung, welche über der Gewalt der Familienhäupter stand. Man wählte den Stärksten oder Listigsten zum Anführer im Kriege und zum Schiedsrichter im Frieden. Nun trat auch der ungeheuere folgenschwere Unterschied zwischen Recht und Unrecht in das Bewußtsein der Menschen, der den Willen des Individuums fester bindet und umschnürt als die Feindseligkeit der ganzen Natur. Jetzt waren gewisse Handlungen (Diebstahl und Mord) innerhalb der Genossenschaft verboten, welche außerhalb derselben erlaubt waren, und es entstand ein eiserner Zwang für den Willen, während an den Geist eines Jeden die Aufforderung trat, nicht mehr unter der Hauptleitung des Dämons, sondern mit Besonnenheit und Ueberlegung zu handeln.
Auf diese Weise warf allerdings die Noth den Menschen in die gesetzliche Genossenschaft, die erste rohe Form des Staates, aber ihre Organisation war ein Werk der Vernunft und beruhte, in Anbetracht aller Verhältnisse, auf einem Vertrag. Es erkannten die Familienältesten einerseits, daß die Genossenschaft nicht aufgelöst werden könne, andererseits aber auch, daß sie nur auf gewissen Grundlagen bestehen könne, und kamen überein, daß diese Grundlagen fortan unerschütterlich sein sollten. Was man auch sagen möge, die Gesetze gegen Mord und Diebstahl sind das Produkt eines ursprünglichen Vertrags, der abgeschlossen werden mußte. Staatsconstitutionen, gesellschaftliche Verhältnisse, andere Gesetze können ganz einseitig errichtet worden sein, diese beiden Gesetze, auf welchen der vollkommenste wie der unvollkommenste Staat gegründet sein muß, aber nicht. Sie traten nur durch ein Uebereinkommen, mit logischer Gewalt, zuerst in die Erscheinung, und würden sie heute beseitigt, so würden nach kurzer Zeit Alle wieder denselben ursprünglichen Vertrag abschließen. Es war durchaus kein weitsehender Blick, keine tiefe Weisheit erforderlich, um diese beiden nothwendigen gesetzlichen Schranken aufzurichten. Als das nicht zu umgehende Zusammenleben in einer gefährdeten Genossenschaft gegeben war, mußten sie mit Nothwendigkeit erfolgen.
6.
Einen sehr wesentlichen Fortschritt machte die Menschheit, als, mit Hülfe des Zufalls, der Nutzen erkannt wurde, der sich aus der |
i233 Domestikation gewisser Thiere ergiebt, und die Viehzucht in die Erscheinung trat. Es zweigten sich von den Jägerstämmen Hirtenstämme ab, welche alle Gegenden, die seither unbenutzt waren, beziehen konnten, wodurch die Auswicklung der Individuen und, verbunden damit, die Ausbreitung der Menschheit wieder größer wurde.
Die neue Lebensweise brachte große Veränderungen hervor. Zunächst fand eine allmähliche Umbildung des Charakters statt. Nicht daß sich der Wille jetzt schon in einzelne Qualitäten auseinandergelegt hätte: dazu waren die Verhältnisse noch zu einfach, die Intelligenz zu schwach; aber der ganze Wille erfuhr eine Milderung, da an die Stelle der aufregenden Jagd und der mit der größten Wildheit geführten Vernichtungskriege eine friedliche, monotone Beschäftigung getreten war.
Zugleich wurde sich der Mensch seines Verhältnisses zur sichtbaren Welt bewußt, und es entstand die erste Naturreligion. Auf der einen Seite wurde der causale Zusammenhang der Sonne mit den Jahreszeiten, mit der fruchtbaren Weide erkannt; andererseits sah man die kostbaren Heerden, von deren Erhaltung das Leben abhing, oft wilden Thieren oder verheerenden Elementargewalten preisgegeben. Im Nachsinnen über diese Beziehungen gelangte man zu den Vorstellungen guter und böser, dem Menschen freundlich oder feindlich gesinnter Mächte und zur Ueberzeugung, daß durch Verehrung und Opfer die Einen zu versöhnen, die Anderen in wohlwollender Gesinnung zu erhalten seien.
Je nachdem nun die immer weiter sich ausbreitenden Nomaden in Gegenden von milderem oder schrofferem Klima kamen, erhielt diese einfache Naturreligion eine freundlichere oder düsterere Färbung. Da, wo die segenspendende Sonne vorherrschte, trat das böse Princip sehr in den Hintergrund, während dem guten mit Ehrfurcht und vertrauensvoll genaht wurde. Hingegen da, wo die Menschen im beständigen Kampfe mit der Natur lagen, wo Raubthiere in großer Anzahl die Heerden lichteten und Waldbrände, glühende Wüstenwinde Menschen und Thiere in die Vernichtung trieben, verlor der geängstigte Mensch das gute Princip ganz aus den Augen: all sein Dichten und Trachten war nur darauf gerichtet, die mit der Phantasie lebhaft erfaßte grausame, zornige Gottheit durch Opferung des Liebsten, was er hatte, zu besänftigen und gnädig zu stimmen.
Die Form, in der sich die Nomaden bewegten, war die patri|archalische
i234 Genossenschaft. Das Oberhaupt des Stammes war Fürst, Richter und Priester, und ein Abglanz dieser dreifachen Gewalt fiel auf jeden Familienvater, wodurch der Charakter der Familie ein viel ernsterer und festerer wurde, als bei den Jägervölkern.
7.
In diesen einfachen Formen und Lebensweisen mag sich die gesammte Menschheit Jahrtausende lang bewegt haben. Das Gesetz der Gewohnheit beherrschte Alle, und sein Produkt, die Sitte, legte sich immer fester um den Willen. Die Keime zu Willensqualitäten mögen sich schon in Einzelnen gebildet haben, aber sie konnten sich nicht entwickeln, da alle Bedingungen dazu noch fehlten. Das Leben verfloß zu einförmig. Alle waren frei; Jeder konnte Familienvater werden, d.h. zur Gewalt gelangen, und die höchste Gewalt war wesentlich beschränkt, kurz, es fehlte an großen Contrasten, welche in den Geist schneiden und den Willen aufwühlen.
Dagegen arbeitete der Geist ruhig auf der gewonnenen höheren Stufe weiter; er wurde besonders in den Gegenden von mildem, gleichmäßigem Klima beschaulicher, objektiver, und konnte sich dadurch leichter in das Wesen der Dinge versenken. Auf dieser Bahn mußte er zu vielen kleinen, aber wichtigen Erfindungen und Entdeckungen gelangen, bis er endlich den Nutzen der Halmfrüchte erkannte und allmählich zum Anbau der betreffenden Grasarten schritt.
Jetzt war ein fester Boden gewonnen, auf dem sich die Civilisation niederlassen und ihren Siegeszug beginnen konnte; jetzt erst konnte sich ihr oberstes Gesetz, das Gesetz des Leidens, in der immer größer werdenden Reibung offenbaren, den Willen veredeln und den Geist erleuchten.
8.
Die nächste Folge des Ackerbaues war eine große Auswicklung der Individuen. Die Volkszahl mußte sehr zunehmen, weil einerseits dasselbe Stück Land jetzt zehnmal mehr Menschen ernähren konnte als vorher und andererseits weniger Menschen im Kriege vernichtet wurden.
Im Laufe der Zeit stellte sich aber Uebervölkerung ein, ein großes Uebel, dem nur durch massenhafte Auswanderung abgeholfen werden konnte. Man darf annehmen, daß in den asiatischen Gebieten, |
i235 nördlich vom Hinduku- und Himalaya-Gebirge, der erste Uebergang aus dem Nomadenleben in den Ackerbau stattgefunden hat und die Verwicklung zuerst aufgetreten ist. Es lösten sich früh von dem starken, zähen und tapferen Volk der Arier große Theile ab, welche, mit Hausthieren, Pflug und Getreide ausgerüstet, den Weg nach Westen einschlugen und sich an verschiedenen Punkten Europa’s eine neue Heimath gründeten. Schließlich entschloß sich der ganze Stamm, wahrscheinlich in der Erkenntniß, daß das von ihm bewohnte Land für den Ackerbau nicht geeignet und doch nur durch eine fleißige Bearbeitung des Bodens eine dauerhafte gesicherte Existenz zu erreichen sei – vielleicht auch schwer bedrängt von mongolischen Nomadenhorden – die uralten Wohnsitze zu verlassen. Sie zogen nach Süden, und während sich ein Theil nach dem heutigen Persien wandte, bemächtigte sich ein anderer der Thäler des Indus. Hier verblieben die Inder so lange, bis neuerdings Uebervölkerung eintrat; dann unternahmen sie einen großen Kriegszug gegen halbwilde Jäger- und Nomadenvölker, welche die nördliche Hälfte der Halbinsel bewohnten, und führten ihn glücklich zu Ende. Sie verschmolzen sich jedoch nicht mit den Besiegten, sondern errichteten einen Kastenstaat, eine der wichtigsten und nothwendigsten Formen für den Anfang der Civilisation, an dem wir verschiedene neuen Gesetze abmerken werden.
Es ist klar, daß die alten Inder schon in den Thälern des Indus, als sie sich hauptsächlich dem Landbau ergeben hatten und ein seßhaftes Volk geworden waren, die patriarchalische Organisation verlassen und sich eine andere geben mußten. Vor Allem war die Arbeit eine andere geworden. Sie war schwieriger und mühsamer und beschränkte das Individuum mehr als die Wartung und Hütung des Viehs. Außerdem hat das Nomadenleben einen ganz besonderen Reiz. Es ist bekannt, daß der vom Russen gezähmte Tatar sich unablässig nach der Beschäftigung seiner Väter zurücksehnt, und daß selbst der deutsche Steppencolonist mit Leib und Seele Nomade wird und vom Pflügen und Gartenbau sich gern abwendet. Kein Wunder! Wem nur einmal vergönnt war, einen Blick in die Steppe zu werfen, der begreift ihre unwiderstehliche Zauberkraft. Wie sie daliegt im Schmuck des Frühlings: sanft gewellt, wogend, einsam, still, endlos! Wie wohl sich der Mann fühlt, der auf feurigem Pferde über sie hinfliegt! Wie frei, wie frei! – Man wird deshalb |
i236 nicht fehlgreifen, wenn man Unzufriedenheit und Widerwillen bei einem großen Theil des Volkes annimmt, welchen mit Entschiedenheit und Energie entgegengearbeitet werden mußte.
Der Ackerbau verlangte ferner eine Theilung der Arbeit. Wälder mußten ausgerodet, wilde Thiere bekämpft, Geräthschaften angefertigt, Häuser gebaut, Wege und Canäle angelegt und dabei das Feld regelmäßig bestellt und Vieh gezüchtet werden. Auch mußten die angrenzenden Halbwilden vom eroberten Gebiete abgehalten werden. Unterdessen nahm die Bevölkerung stetig zu. Die Dörfer wurden größer, und es entstanden neue Ansiedelungen, die bald zu Dörfern sich gestalteten und mit dem Mutterdorfe in enger Verbindung blieben. Schließlich hatten sich auch die Besitzverhältnisse wesentlich geändert, da zu den beweglichen Heerden Grundeigenthum gekommen war, welches die Quelle häufiger Streitigkeiten wurde. Diese mußten nach festen Normen entschieden werden, welche erst festzustellen waren und dann Männer verlangten, die eine genaue Kenntniß des Rechts hatten.
Alles Dieses gebot die Einsetzung einer strafferen Gewalt, als die der Familienältesten, Stammeshäupter und Anführer war, und leitete in das despotische Königthum mit Heer, Beamten, Gewerbtreibenden u.s.w. In der weiteren Entwicklung vollzog sich die Scheidung des Priesterthums vom Königthum, da die Fürsten jetzt Obliegenheiten hatten, welche ihre ganze Zeit in Anspruch nahmen, und die einfache Naturreligion sich zu einer Religion mit regelmäßigem Cultus gestaltet hatte.
Man muß also annehmen, daß die Inder, ehe sie bis zu den Mündungen des Ganges vordrangen, bereits ein nach Ständen gegliedertes Volk waren, aber keine Kasten hatten, weil es noch keine Sklaven gab. Der strenge Kastenstaat entstand erst, als ein halbwildes, unbändiges, zahlreiches Volk von Besiegten in den Rahmen der Gesellschaft aufgenommen und die Sklaverei begründet worden war, und auch dann nur allmählich.
Daß eine Verschmelzung nicht stattfand, ist leicht zu erklären. Dem Halbwilden von rohen Sitten, häßlicher Gestalt und dunkler Farbe gegenüber, mußte sich der stolze, schöne Arier als ein Wesen höherer Art fühlen und vor einer geschlechtlichen Vermischung mit ihm einen wahren Abscheu haben. Dann mußte es geradezu für ehrlos gelten, mit Denjenigen Umgang zu pflegen, welchen die här|testen
i237 und niedrigsten Arbeiten aufgebürdet waren, und welche, in Folge ihrer Widerspänstigkeit und Störrigkeit, mit eiserner Faust in den Staub gedrückt werden mußten. So trat neben den natürlichen Abscheu die Verachtung, und beide machten eine Verschmelzung unmöglich.
Blicken wir dem Kastenstaat auf den Grund, so zeigt sich uns zunächst das Gesetz der Ausbildung des Theils, eines der wichtigsten Gesetze der Civilisation. Wir hätten es schon darin erkennen können, daß Theile von Stämmen auswanderten und durch bessere Bodenbeschaffenheit, günstigeres Klima und edlere Beschäftigung sich veränderten und eine höhere Stufe erklommen. Im Culturstaat aber tritt es viel deutlicher hervor und zeigt seine ganze Macht.
Nur dadurch, daß von einem Theil des Volks jede Sorge um das tägliche Brod am Anfange der Cultur abgenommen wurde, konnten dem Geiste allmählich Schwingen zum freien genialen Fluge wachsen; denn nur »müßige Hände geben thätige Köpfe.« Im Kampf um’s Dasein kann die Noth erfinderisch machen, aber Kunst und Wissenschaft können nur in der Luft der Sorglosigkeit gedeihen und reife, saftvolle Früchte hervorbringen.
Dann tritt uns das Gesetz der Entfaltung des einfachen Willens entgegen. Auch dieses Gesetz bringe ich erst jetzt zur Erörterung, weil die Contraste im Kastenstaat ihren Höhepunkt erreichten; denn es ist klar, daß schon in der ersten Periode eines seßhaften, nach Ständen gegliederten Volks Motive in Fülle vorhanden waren, welche den Willen aus seiner Einfachheit herausziehen mußten.
In den Individuen entstanden Hoffart, Ehrgeiz, Ruhmsucht, Eitelkeit, Habsucht, Genußsucht, Neid, Trotzigkeit, Hinterlistigkeit, Bosheit, Tücke, Grausamkeit u.s.w. Aber auch die Keime edler Willensqualitäten, wie Barmherzigkeit, Tapferkeit, Mäßigkeit, Gerechtigkeit, Wohlwollen, Gutmüthigkeit, Treue, Anhänglichkeit u.s.w. sprangen auf.
Zugleich mußten sich die Zustände des Willens mannigfaltiger gestalten. Angst, Trauer, Freude, Hoffnung, Verzweiflung, Mitleid, Schadenfreude, Reue, Gewissensangst, aesthetische Freude u.s.w. bemächtigten sich abwechselnd des Herzens und machten es bildsamer und geschmeidiger.
Selbstverständlich vollzog sich (und vollzieht sich noch immer), |
i238 unter dem Einflusse der durch den Geist erfaßten Motive, die Umbildung des Charakters nur allmählich. Eine leichte Veränderung wurde, wie Alles, was den Willen ergreift, in das Blut gleichsam übergeht, in die Zeugungskraft aufgenommen, ging nach dem Gesetz der Erblichkeit der Eigenschaften als Keim in das neue Individuum über und bildete sich nach dem Gesetze der Gewohnheit weiter aus.
Wir haben ferner das Gesetz der Bindung der neuen Individualität zu merken. Die einfache Naturreligion konnte dem forschenden, objektiv gewordenen Geiste der Priester nicht mehr genügen. Sie vertieften sich in den Zusammenhang der Natur, und es wurde ihnen das kurze, mühselige Leben, zwischen Geburt und Tod, zum Hauptproblem. Nasci, laborare, mori. Konnten sie es anpreisen? Sie mußten es verurtheilen und als eine Verirrung, einen Fehltritt brandmarken. Die Erkenntniß, daß das Leben werthlos sei, ist die Blüthe aller Weisheit. Die Werthlosigkeit des Lebens ist die einfachste Wahrheit, aber zugleich die, welche am schwersten zu erkennen ist, weil sie in unzählige Schleier gehüllt auftritt. Wir liegen gleichsam auf ihr; wie sollten wir sie finden können?
Die Brahmanen aber mußten sie finden, weil sie dem Kampf um’s Dasein vollständig enthoben waren, ein reines beschauliches Leben führen und alle Kraft ihres Geistes für die Lösung des Welträthsels verwenden konnten. Sie nahmen ferner die erste Stellung im Staate ein: glücklicher als sie (glücklich im populären Sinne des Worts angewendet) konnte Niemand sein, und deshalb warf sich nicht zwischen sie und die Wahrheit der Schatten, der das Urtheil der Niederen trübt, nämlich der Gedanke, daß das Glück die Höhen vergoldet und nur nicht in die Thäler dringen kann, daß es also in der Welt wirklich anzutreffen ist, nur nicht überall. Indem sie in ihr Inneres tauchten, ergründeten sie die Welt und ihre leeren Hände richteten die Welt.
Die vom Willen erfaßte Erkenntniß aber, daß das Leben werthlos, ja wesentlich unglücklich sei, mußte die Sehnsucht nach Befreiung vom Dasein erzeugen, und die Richtung in der diese zu erlangen sei, gab die durchaus nothwendige Beschränkung des natürlichen Egoismus durch die Fundamentalgesetze des Staates an. »Beschränke auch die vom Staate frei gelassenen Triebe, beschränke den natürlichen Egoismus ganz und du wirst befreit werden,« so mußte die Vernunft schließen, und sie schloß richtig.
i239 Der Pantheismus der Brahmanen, in den sich die Naturreligion der Inder umgebildet hatte, diente lediglich dazu, den Pessimismus zu stützen: er war nur die Fassung für den kostbaren Edelstein. Der Zerfall der Einheit in die Vielheit wurde als Fehltritt aufgefaßt, und, wie aus einem Vedahymnus klar hervorgeht, wurde gelehrt, daß sich bereits drei Theile des gefallenen Urwesens wieder aus der Welt emporgehoben hätten und nur noch ein Theil in der Welt verkörpert wäre. Auf diese erlösten Theile übertrug die Weisheit der Brahmanen das, was jede Menschenbrust so tief ersehnte und in der Welt doch nicht zu finden war: Ruhe, Frieden und Seligkeit, und lehrte, daß nur durch Ertödtung des Einzelwillens der Mensch mit dem Urwesen vereinigt werden könne, anderenfalls der in jedem Menschen verunreinigt lebende unsterbliche Strahl aus dem Urwesen so lange, vermittelst der Seelenwanderung, in der Qual des Daseins verbleiben müsse, bis er gereinigt und reif für die Seligkeit sei.
Hierdurch erhielt auch der Kastenstaat eine heilige Weihe. Er war nicht Menschenwerk, sondern eine göttliche Einrichtung mit dem Gepräge der denkbar größten Gerechtigkeit, die Alle mit ihrem Schicksal versöhnen mußte; denn durch die höheren Kasten floß stets ein Strom von Wesen, welche die höhere Stellung verdient hatten, und es war in die Macht eines jeden Niedriggeborenen gegeben, nach dem Tode in diesen Strom aufgenommen zu werden.
Der ganzen Lehre gemäß zwängten sich nun die Brahmanen in das strengste Ceremoniell, das jede Regung ihres Willens erstickte. Sie begaben sich vollständig unter das Gesetz, dem eigenen Ermessen Nichts überlassend, damit sie vor Ausschreitungen ganz gesichert wären. Für jede Stunde des Tages waren besondere Handlungen, wie Waschungen, Gebete, Meditationen, Opferungen, vorgeschrieben, und es war dem Belieben Keines anheim gegeben, auch nur eine Minute selbständig auszufüllen. Sie gingen dann noch weiter und fügten zu sehr schwerem Fasten die größtmöglichen Selbstpeinigungen hinzu, welche darauf hinzielten, den Menschen ganz von der Welt loszubinden und Willen und Geist vollständig gegen Alles gleichgültig zu machen.
In ähnlicher Weise regelten sie das Leben in den anderen Kasten und schlangen unzerreißbare Bande um jeden Einzelnen. Zu der Furcht vor den härtesten Strafen in diesem Leben gesellte sich die |
i240 andere vor entsetzlichen Qualen nach dem Tode, und unter der Einwirkung dieser mächtigen Motive mußte zuletzt auch der zäheste und wildeste Wille zum Leben erliegen.
Was sich mithin im despotischen Kastenstaate der alten Inder vollzog, war die Heraushebung des Menschen aus der Thierheit und die Bindung des in Willensqualitäten auseinander getretenen einfachen Charakters durch politischen und religiösen Zwang. Aehnliches fand in allen anderen despotischen Staaten des Orients mit Nothwendigkeit statt. Es handelte sich darum, Menschen, in denen der Dämon allein herrschte, die noch ganz versenkt waren in ein traumhaftes Naturleben, die noch strotzten von Wildheit und Faulheit, aufzurütteln, zu bändigen und mit Peitsche und Schwert auf den Weg der Civilisation zu treiben, auf dem allein Erlösung zu finden ist.
9.
Die Geschichte Babylon’s, Assyrien’s und Persien’s zeigt zwei neue Gesetze der Civilisation: Das Gesetz der Fäulniß und das Gesetz der Verschmelzung durch Eroberung.