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Analytik des Erkenntnißvermögens. 17 page

Ferner: der durch natürliche Anlage Gerechte und Barmherzige wird zwar Jedem gern das Seine lassen und hie und da die Noth seiner Mitmenschen lindern; aber sich derartig in die Bewegung der Menschheit einstellen, daß er seine ganze Habe opfert, Weib und Kind verläßt und sein Blut verspritzt für das Wohl der Menschheit: das wird er nicht.

Das Christenthum drohte seinen Bekennern mit der Hölle und versprach ihnen das Himmelreich, aber die immanente Ethik kennt kein Gericht nach dem Tode, keine Belohnung, keine Bestrafung einer unsterblichen Seele. Dagegen kennt sie die Hölle des gegenwärtigen Staates und das Himmelreich des idealen Staates, und indem sie auf beide hinweist, steht sie fest auf der Physik.

So erfaßt sie Jeden da, wo er in der Menschheit und im Leben wurzelt und ruft ihm zu: du lebst in deinen Kindern fort, in deinen Kindern feierst du deine Wiedergeburt, und was sie treffen wird, das trifft dich in ihnen. So lange aber der ideale Staat nicht real geworden ist, so lange wechseln die Lagen und Stellungen im Leben. Der Reiche wird arm und der Arme wird reich; der Mächtige wird gering und der Geringe mächtig; der Starke |

i214 wird schwach und der Schwache stark. In einer solchen Ordnung der Dinge bist du heute Amboß, morgen Hammer, heute Hammer, morgen Amboß. Du handelst also gegen dein allgemeines Wohl, wenn du diese Ordnung der Dinge aufrecht zu erhalten bestrebt bist. Dies ist die Drohung der immanenten Ethik; ihre Verheißung aber ist der ideale Staat, d.h. eine Ordnung der Dinge, in welchem alles vom Leben abgetrennt ist, was nicht wesentlich damit verbunden ist: Elend und Noth. Sie flüstert dem armen Menschenkind zu: es wird keine Angst und kein Geschrei mehr sein, es werden keine Thränen und keine müden Augen mehr sein wegen Noth und Elends.

Dieses Wissen des Menschen, der im Leben wurzelt – denn dies ist Bedingung: er muß ungebrochener Wille zum Leben sein, muß leben und über den Tod hinaus im Leben sich erhalten wollen – dieses Wissen des Menschen, sage ich,

1) daß er in seinen Kindern weiterlebt, oder, allgemein ausgedrückt, daß er in der Menschheit wurzelt, nur in ihr und durch sie sich im Leben erhalten kann;

2) daß die jetzige Ordnung der Dinge den Wechsel der Lagen nothwendig bedingt (die Hamburger sagen: der Geldsack und der Bettelsack hängen nicht hundert Jahre vor einer und derselben Thüre);

3) daß im idealen Staate das denkbar beste Leben Allen garantirt ist;

4) schließlich, daß die Bewegung der Menschheit, trotz der Nichtwollenden und Widerstrebenden den idealen Staat zum Ziele hat und erreichen wird;

dieses Wissen, diese jedem Denkenden sich aufdrängende Erkenntniß kann den Willen entzünden: allmählich oder blitzschnell. Dann tritt er vollständig in die Bewegung der Gesammtheit ein, dann schwimmt er mit dem Strome. Nun kämpft er muthig, freudig und liebevoll im Staate und, so lange sich die Bewegung der Menschheit noch im Großen hauptsächlich erzeugt aus dem Zusammen- und Gegeneinanderwirken großer Völkerindividualitäten, großer Einzelstaaten, auch mit seinem Staate (und eventuell dessen Verbündeten) gegen andere Staaten für den idealen Staat. Nun durchglüht ihn der echte Patriotismus, die echte Gerechtigkeit, die echte Liebe zur Menschheit: er steht in der Bewegung des Schicksals, er handelt in Uebereinstimmung mit dessen Gebot und gern, d.h. seine Handlungen sind eminent moralisch |



i215 und sein Lohn ist: Friede mit sich selbst, reines helles Glück. Nun giebt er willig, wenn es sein muß, in moralischer Begeisterung sein individuelles Leben hin; denn aus dem besseren Zustand der Menschheit, für den er kämpfte, ersteht ihm ein neues, besseres individuelles Leben in seinen Kindern.

 

26.

Aber ist auch die Grundstimmung des Helden ein tiefer Frieden, also reines Glück, so durchglüht es doch nur selten, fast nur in großen Momenten, seine Brust; denn das Leben ist ein harter Kampf für Jeden, und wer noch fest wurzelt in der Welt – wenn auch die Augen ganz trunken sind vom Licht des idealen Staates – wird nie frei sein von Noth, Pein und Herzeleid. Den reinen andauernden Herzensfrieden des christlichen Heiligen hat kein Held. Sollte er, ohne den Glauben, wirklich nicht zu erreichen sein? –

Die Bewegung der Menschheit nach dem idealen Staate ist eine Thatsache; allein es bedarf nur eines kurzen Nachdenkens, um einzusehen, daß im Leben des Ganzen so wenig wie im Leben des Einzelnen je ein Stillstand eintreten kann. Die Bewegung muß eine rastlose sein bis dahin, wo überhaupt von Leben nicht mehr geredet werden kann. Befindet sich die Menschheit demnach im idealen Staate, so kann keine Ruhe eintreten. Aber wohin soll sie sich dann noch bewegen können? Es giebt nur eine einzige Bewegung noch für sie: es ist die Bewegung nach der völligen Vernichtung, die Bewegung aus dem Sein in das Nichtsein. Und die Menschheit (d.h. alle einzelnen dann lebenden Menschen), wird die Bewegung ausführen, in unwiderstehlicher Sehnsucht nach der Ruhe des absoluten Todes.

Der Bewegung der Menschheit nach dem idealen Staate wird also die andere, aus dem Sein in das Nichtsein, folgen, oder, mit anderen Worten: die Bewegung der Menschheit überhaupt ist die Bewegung aus dem Sein in das Nichtsein. Halten wir aber beide Bewegungen getrennt, so tritt, wie aus der ersteren das Gebot der vollen Hingabe an das Allgemeine getreten ist, aus der letzteren das Gebot der Virginität, die in der christlichen Religion allerdings nicht gefordert, aber als die höchste und vollkommenste Tugend anempfohlen wurde; denn wenn auch die Bewegung sich vollziehen wird trotz thierischem Geschlechtstrieb und trotz Wollust, so |

i216 tritt sie doch an jeden Einzelnen mit der ernsten Forderung heran keusch zu sein, damit sie rascher zum Ziele komme.

Vor dieser Forderung schrecken Gerechte und Ungerechte, Barmherzige und Hartherzige, Helden und Verbrecher zurück, und mit Ausnahme der Wenigen, welche, wie Christus sagte, aus Mutterleibe verschnitten geboren wurden, kann kein Mensch sie gern erfüllen, ohne eine totale Umwandlung seines Willens erfahren zu haben. Alle Umwandlungen, alle Entzündungen des Willens, die wir seither betrachtet haben, waren Umänderungen eines Willens, der das Leben auch ferner wollte, und der Held, wie der christliche Heilige, opferte es nur, d.h. er verachtete den Tod, weil er ein besseres Leben dafür erhielt. Nun aber soll der Wille nicht mehr bloß den Tod verachten, sondern er soll ihn lieben, denn Keuschheit ist Liebe zum Tode. Unerhörte Forderung! Der Wille zum Leben will Leben und Dasein, Dasein und Leben. Er will für alle Zeit leben und da er nur im Dasein verbleiben kann durch die Zeugung, so concentrirt sich sein Grundwollen im Geschlechtstrieb, der die vollkommenste Bejahung des Willens zum Leben ist und alle andern Triebe und Begierden an Heftigkeit und Stärke bedeutend übertrifft.

Wie soll nun der Mensch die Forderung erfüllen, wie soll er den Geschlechtstrieb, der sich jedem redlichen Beobachter der Natur geradezu als unüberwindlich darstellt, überwinden können? Nur die Furcht vor einer großen Strafe, in Verbindung mit einem alle Vortheile überwiegenden Vortheil, kann dem Menschen die Kraft geben, ihn zu besiegen, d.h. der Wille muß sich an einer klaren und ganz gewissen Erkenntniß entzünden. Es ist die schon oben erwähnte Erkenntniß, daß Nichtsein besser ist als Sein oder die Erkenntniß, daß das Leben die Hölle, und die süße stille Nacht des absoluten Todes die Vernichtung der Hölle ist.

Und der Mensch, der erst klar und deutlich erkannt hat, daß alles Leben Leiden ist, daß es, es trete in was immer für einer Form auf, wesentlich unglücklich und schmerzvoll (auch im idealen Staate) ist, so daß er, wie das Christuskind auf den Armen der Sixtinischen Madonna, nur noch mit entsetzenerfüllten Augen in die Welt blicken kann, und der dann die tiefe Ruhe erwägt, das unaussprechliche Glück in der aesthetischen Contemplation und das, im Gegensatz zum wachen Zustande, durch Reflexion empfundene Glück des zustandslosen Schlafs, dessen Erhebung in die Ewigkeit der |

i217 absolute Tod nur ist, – ein solcher Mensch muß sich entzünden an dem dargebotenen Vortheil, – er kann nicht anders. Der Gedanke: wiedergeboren zu werden, d.h. in unglücklichen Kindern rast- und ruhelos auf der dornigen und steinigen Straße des Daseins weiterziehen zu müssen, ist ihm einerseits der schrecklichste und verzweiflungsvollste, den er haben kann; andererseits ist der Gedanke: die lange, lange Entwicklungsreihe abbrechen zu können, in der er immer mit blutenden Füßen, gestoßen, gepeinigt und gemartert, verschmachtend nach Ruhe, vorwärts mußte, der süßeste und erquickendste. Und ist er nur erst auf der richtigen Bahn, so beunruhigt ihn mit jedem Schritt der Geschlechtstrieb weniger, mit jedem Schritt wird es ihm leichter um’s Herz, bis sein Inneres zuletzt in derselben Freudigkeit, seligen Heiterkeit und vollen Unbeweglichkeit steht, wie der echte christliche Heilige. Er fühlt sich in Uebereinstimmung mit der Bewegung der Menschheit aus dem Sein in das Nichtsein, aus der Qual des Lebens in den absoluten Tod, er tritt in diese Bewegung des Ganzen gern ein, er handelt eminent moralisch, und sein Lohn ist der ungestörte Herzensfriede, die »Meeresstille des Gemüths,« der Friede, der höher ist als alle Vernunft. Und dieses Alles kann sich vollziehen ohne den Glauben an eine Einheit in, über oder hinter der Welt, ohne Furcht vor einer Hölle oder Hoffnung auf ein Himmelreich nach dem Tode, ohne mystische intellektuelle Anschauung, ohne unbegreifliche Gnadenwirkung, ohne Widerspruch mit der Natur und unserem Bewußtsein vom eigenen Selbst: den einzigen Quellen, aus denen wir mit Gewißheit schöpfen können, – lediglich in Folge einer vorurtheilsfreien, reinen, kalten Erkenntniß unserer Vernunft, »des Menschen allerhöchste Kraft«.

 

27.

So hätten wir das Glück des Heiligen, welches wir als das größte und höchste Glück bezeichnen mußten, unabhängig von irgend einer Religion, gefunden. Zugleich haben wir das immanente Fundament der Moral gefunden: es ist die vom Subjekt erkannte reale Bewegung der Menschheit, die die Ausübung der Tugenden: Vaterlandsliebe, Gerechtigkeit, Menschenliebe und Keuschheit fordert.

Hieraus ergiebt sich auch die wichtige Consequenz, daß die Bewegung der Menschheit so wenig eine moralische ist, wie die Dinge an sich schön sind. Vom Standpunkte der Natur aus handelt kein |

i218 Mensch moralisch; Der, welcher seinen Nächsten liebt, handelt nicht verdienstvoller als Der, welcher ihn haßt, peinigt und quält. Die Menschheit hat nur einen Verlauf, den der moralisch Handelnde beschleunigt. Vom Standpunkt des Subjekts dagegen ist jede Handlung moralisch, die, bewußt oder unbewußt, in Uebereinstimmung mit der Grundbewegung der Menschheit ist und gern geschieht. Die Aufforderung, moralisch zu handeln, zieht ihre Kraft daraus, daß sie dem Individuum entweder den vorübergehenden Seelenfrieden und ein besseres Leben in der Welt, oder den dauernden Seelenfrieden in diesem Leben und die völlige Vernichtung im Tode, also den Vortheil zusichert, früher erlöst zu werden als die Gesammtheit. Und dieser letztere Vortheil überwiegt so sehr alle irdischen Vortheile, daß er das Individuum, das ihn erkennt, unwiderstehlich in die Bahn zieht, wo er liegt, wie das Eisen an den Magnet muß.

An denjenigen Menschen, welche einen angeborenen barmherzigen Willen haben, vollzieht sich die Umwandlung am leichtesten; denn es sind Willen, die der Weltlauf bereits geschwächt, deren natürlichen Egoismus der Weltlauf bereits in den geläuterten übergeführt hat. Das Leiden ihres Nächsten bringt in ihnen den ethischen, außerordentlich bedeutsamen Zustand des Mitleids hervor, dessen Früchte echt moralische Thaten sind. Wir empfinden im Mitleid ein positives Leid in uns; es ist ein tiefes Gefühl der Unlust, das unser Herz zerreißt, und das wir nur aufheben können, indem wir den leidenden Nächsten leidlos machen.

 

28.

Die Entzündung des Willens an der Erkenntniß, daß sich die Menschheit aus dem Sein in das Nichtsein bewege, und an der anderen, daß Nichtsein besser ist als Sein, oder auch an der letzteren allein, welche, unabhängig von jener, durch einen klaren Blick in die Welt erlangt werden kann, – ist die philosophische Verneinung des individuellen Willens zum Leben. Der also entzündete Wille will bis zum Tode den glücklichen Zustand des Herzensfriedens, ohne Unterbrechung, und im Tode die völlige Vernichtung, die volle und ganze Erlösung von sich selbst. Er will aus dem Buche des Lebens ausgestrichen sein für immer, er will mit der erloschenen Bewegung das Leben und mit dem Leben den innersten Kern seines Wesens vollständig verlieren. Diese bestimmte Idee |

i219 will vernichtet, dieser bestimmte Typus, diese bestimmte Form, will für immer zerbrochen sein.

Die immanente Philosophie kennt keine Wunder und weiß Nichts von Ereignissen in einer unerkennbaren anderen Welt zu erzählen, welche Folgen von Handlungen in dieser Welt wären. Deshalb giebt es für sie nur eine vollkommen sichere Verneinung des Willens zum Leben; es ist die durch Virginität. Wie wir in der Physik gesehen haben, findet der Mensch im Tode absolute Vernichtung; trotzdem wird er nur scheinbar vernichtet, wenn er in Kindern weiterlebt; denn in diesen Kindern ist er bereits vom Tode auferstanden: er hat in ihnen das Leben neuerdings ergriffen und es für eine Zeitdauer bejaht, die unbestimmbar ist. Dies fühlt Jeder instinktiv. Die unüberwindliche Abneigung der Geschlechter nach der Begattung, im Thierreich, tritt im Menschen als eine tiefe Trauer auf. In ihm klagt eine leise Stimme, wie Proserpina:

Wie greift’s auf einmal

Durch diese Freuden,

Durch diese offene Wonne

Mit entsetzlichen Schmerzen,

Mit eisernen Händen

Der Hölle durch! – –

Was hab’ ich verbrochen,

Daß ich genoß?

Und höhnisch ruft die Welt:

Du bist unser!

Nüchtern solltest wiederkehren

Und der Biß des Apfels macht dich unser!

(Goethe.)

Deshalb auch kann die immanente Philosophie der Todesstunde nicht die allergeringste Wichtigkeit und Bedeutung beilegen. In ihr steht dem Menschen keine Entscheidung mehr darüber zu, ob er das Leben nochmals will, oder todt sein will für immer. Die Reue über schlechte Thaten, welche auf dem Sterbebette deshalb so oft auftritt, weil die Erkenntniß plötzlich sich ändert und man deutlich und klar einsieht, wie nutzlos doch alles irdische Streben war – Alles, woran das Herz hing, muß verlassen werden – ist die thörichteste Selbstquälerei. Der Sterbende sollte Alles vergessen, im Hin|blick

i220 darauf, daß er genug in diesem Leben gelitten und Alles schon lebend verbüßt hat, und sollte sich nur an seine Nachkommen richten, sie eindringlich ermahnend, abzulassen vom Leben, dem das Leiden wesentlich ist. Und in der Hoffnung, daß seine Worte auf günstigen Boden gefallen sind, daß er bald in seinen Kindern erlöst werden wird, möge er ruhig sein Leben verhauchen.

Dagegen legt die immanente Philosophie der Stunde, in welcher ein neues Leben entzündet werden soll, die allergrößte Wichtigkeit bei; denn in ihr hat der Mensch die volle Entscheidung darüber, ob er weiterleben, oder im Tode wirklich vernichtet sein will. Nicht der Kampf des Lebens mit dem Tode auf dem Sterbebette, in dem der Tod siegt, sondern der Kampf des Todes mit dem Leben bei der Begattung, in dem das Leben siegt, ist bedeutungsvoll. Wenn das Individuum in heftigster Leidenschaft seine Zähne in das Dasein schlägt und es mit stahlharten Armen umklammert: im Taumel der Wollust wird die Erlösung verscherzt. Im tollen ausgelassenen Jubel merkt der arme Bethörte nicht, daß ihm der kostbarste Schatz aus den Händen gewunden wird. Für die kurze Wonne hat er nicht endloses, aber vielleicht langes, langes Leiden, schwere Daseinspein eingetauscht, und es frohlocken die Parzen:

Du bist unser!

während sein Genius sich verhüllt.

 

29.

Obgleich demnach die Verneinung des Willens nur dann den Lebensfaden des Individuums wirklich im Tode abschneidet, wenn sie sich auf dem Grunde vollkommener Keuschheit vollzieht, so kann sie doch auch solche Menschen ergreifen, welche in Kindern bereits weiterleben. Sie bewirkt aber alsdann nur das Glück des Individuums für den Rest der Lebensdauer. Doch sollen und werden die unvollkommenen Folgen der Verneinung in solchen Fällen das Individuum nicht beunruhigen. Es wird versuchen, in den Kindern die wahre Erkenntniß zu erwecken und sie auf sanfte Weise auf den Weg der Erlösung zu führen. Dann wird es vollen Trost aus der Gewißheit schöpfen, daß neben der individuellen Erlösung die allgemeine herschreitet, daß der ideale Staat über kurz oder lang die gesammte Menschheit umfassen und diese dann das »große Opfer«, wie die Inder sagen, bringen wird. Ja, er wird |

i221 hieran Veranlassung nehmen, sich voll und ganz dem Allgemeinen hinzugeben, damit der ideale Staat so bald als möglich real werde.

 

30.

Diejenigen, welche mit Sicherheit der Erlösung durch den Tod entgegenblicken, stehen zwar entwurzelt in der Welt und haben nur das eine Verlangen: bald aus ihrem tiefen Herzensfrieden in die volle Vernichtung überzutreten, aber ihr ursprünglicher Charakter ist nicht todt. Er ist nur in den Hintergrund getreten; und wenn er auch das Individuum nicht mehr zu Thaten veranlassen kann, die ihm gemäß wären, so wird er doch dem übrigen Leben des in der Verneinung Stehenden eine besondere Färbung geben.

Aus diesem Grunde werden Diejenigen, welche in der Gewißheit der individuellen Erlösung stehen, nicht eine und dieselbe Erscheinung darbieten. Nichts würde verkehrter sein, als dies anzunehmen. Der Eine, der stolz und schweigsam war, wird nicht redselig und leutselig werden, der Andere, dessen liebevolles Wesen überall, wohin er kam, die wohlthuendste Wärme verbreitete, wird nicht scheu und finster werden, ein Dritter, der melancholisch war, wird nicht ausgelassen heiter werden.

Ebenso wird die Thätigkeit und Beschäftigung nicht bei Allen die gleiche sein. Der Eine wird sich von der Welt vollkommen abschließen, in die Einsamkeit entfliehen und sich, wie die religiösen Büßer, kasteien, weil er von der Erkenntniß ausgeht, daß nur ein stets gedemüthigter Wille in der Entsagung erhalten werden kann; ein Anderer wird nach wie vor in seinem Berufe bleiben; ein Dritter wird nach wie vor die Thränen der Unglücklichen stillen mit Wort und That; ein Vierter wird kämpfen für sein Volk oder für die ganze Menschheit, wird sein ihm durchaus werthloses Leben einsetzen, damit die Bewegung nach dem idealen Staate, in welchem allein die Erlösung Aller stattfinden kann, eine beschleunigtere werde.

Wer sich in der Verneinung des Willens ganz auf sich zurückzieht, verdient die volle Bewunderung der Kinder dieser Welt; denn er ist ein »Kind des Lichts« und wandelt auf dem richtigen Weg. Nur Unwissende oder Schlechte können es wagen, ihn mit Koth zu bewerfen. Aber höher muß und soll man Denjenigen schätzen, der, unbeweglich im Innern, den äußeren Menschen heftig bewegen und leiden läßt, um seinen verdüsterten Brüdern zu |

i222 helfen: unermüdlich, strauchelnd, blutend sich wieder erhebend, die Fahne der Erlösung nimmer aus der Hand lassend, bis er zusammenbricht im Kampfe für die Menschheit und das herrliche sanfte Licht in seinen Augen erlischt. Er ist die reinste Erscheinung auf dieser Erde: ein Erleuchteter, ein Erlöser, ein Sieger, ein Märtyrer, ein weiser Held. –

Nur darin werden Alle übereinstimmen, daß sie der Gemeinheit abgestorben und unempfänglich sind für Alles, was den natürlichen Egoismus bewegen kann, daß sie das Leben verachten und den Tod lieben. – Und ein Erkennungszeichen werden alle tragen: die Milde. »Sie eifern nicht, sie blähen sich nicht, sie ertragen Alles, sie dulden Alles,« sie verurtheilen nicht und steinigen nicht, sie entschuldigen immer und werden nur freundlich den Weg anempfehlen, auf dem sie so köstliche Ruhe und den herrlichsten Frieden gefunden haben. –

Ich erwähne hier noch den merkwürdigen Zustand, der der Verneinung des Willens vorhergehen kann: den Haß gegen sich selbst. Er ist ein Uebergangszustand und der schwülen Frühlingsnacht zu vergleichen, in der die Knospen sich öffnen.

 

31.

Zum Schlusse will ich noch ein Wort über die Religion der Erlösung sagen.

Indem Christus nur Dem das Himmelreich versprach, welcher nicht bloß gerecht und barmherzig ist, sondern auch Ungerechtigkeiten und Peinigungen ohne Bitterkeit erträgt:

Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Uebel, sondern so dir jemand einen Streich giebt auf den rechten Backen, dem biete den andern auch dar. (Matth, 5, 39.)

verlangte er vom Menschen beinahe vollständige Selbstverleugnung. Indem er aber ferner Demjenigen, welcher den Geschlechtstrieb unterdrückt, eine ganz besondere Belohnung verhieß, forderte er den Menschen auf, seine Individualität vollständig aufzugeben, seinen natürlichen Egoismus ganz zu ertödten.

Warum stellte er diese schweren Forderungen? Die Antwort liegt eben in der Verheißung des Himmelreichs; denn nur Der, welcher seine ursprüngliche Individualität verloren hat, in dem Adam |

i223 gestorben und Christus auferstanden ist, kann wahrhaft glücklich werden und den inneren Frieden erlangen.

Weil dies eine Wahrheit ist, die nie umgestoßen werden kann, ja weil es die höchste Wahrheit ist, kann auch die Philosophie keine andere an ihre Stelle setzen. Und darum ist der Kern des Christenthums ein unzerstörbarer und enthält die Blüthe aller menschlichen Weisheit. Weil die unabänderliche Bewegung der Menschheit der Boden des Christenthums ist, ruht seine Ethik auf unerschütterlicher Basis und kann erst untergehen, wann die Menschheit selbst untergeht.

Wenn nun auch die immanente Philosophie die Forderungen des milden Heilands einfach bestätigen muß, so kann sie dagegen selbstverständlich die dogmatische Begründung derselben nicht anerkennen. Dem Gebildeten unserer Zeit ist es ebenso unmöglich, die Dogmen der Kirche zu glauben, wie es dem gläubigen Christen des Mittelalters unmöglich war, gegen seinen Erlöser die Götter Griechenlands und Roms oder den zornigen Gott des Judenthums einzutauschen. Damit nun der unzerstörbare Kern der christlichen Lehre nicht mit dem Glauben fortgeworfen werde, und auf diese Weise die Möglichkeit für den Menschen schwinde, des wahren Herzensfriedens theilhaftig zu werden, ist es Aufgabe der Philosophie, die Heilswahrheit in Uebereinstimmung mit der Natur zu begründen.

Diese Ethik ist der erste Versuch, diese Aufgabe auf rein immanentem Gebiete, mit rein immanenten Mitteln, zu lösen. Er konnte nur gemacht werden, nachdem das transscendente Gebiet vom immanenten vollständig getrennt und nachgewiesen worden war, daß beide Gebiete nicht neben einander, oder in einander liegen, sondern, daß das eine unterging, als das andere entstand. Das immanente folgte dem transscendenten und besteht allein. Die einfache vorweltliche Einheit ist in der Vielheit untergegangen, und diese machte der Ursprung aus einer einfachen Einheit zu einer fest in sich geschlossenen Collectiv-Einheit mit einer einzigen Bewegung, welche, soweit sie die Menschheit betrifft, die Bewegung aus dem Sein in den absoluten Tod ist.

 

32.

Der Muhammedanismus und das Christenthum: ersterer die beste aller schlechten Religionen, letzteres die beste aller großen ethischen Religionen, verhalten sich zur immanenten Philosophie, in |

i224 Absicht auf das, was nach dem Tode für Moralität der Gesinnung versprochen wird, wie die beiden ältesten Töchter Lear’s zu seiner jüngsten, Cordelia. Während der Muhammedanismus dem Tugendhaften ein Leben voll Rausches und Wollust, also ein erhöhtes Blutleben verspricht und das Christenthum ihm den Zustand ewiger Contemplation und der intellektuellen Wonne, also ein aus dem Bewußtsein geschwundenes Blutleben verheißt, kann ihm die immanente Ethik nur den Schlaf, »die beste Speise an des Lebens Mahl,« darbieten. Aber wie der körperlich Ermattete Alles ausschlägt und nur den Schlaf will, so will auch der Lebensmüde nur den Tod, die absolute Vernichtung im Tode, und dankbar nimmt er aus der Hand des Philosophen die Gewißheit, daß ihn kein neuer Zustand erwartet, weder der Wonne, noch der Qual, sondern daß alle Zustände von selbst mit der Vernichtung seines innersten Wesens verschwinden.

 

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Politik.

 

i225

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In dem Leben der Menschheit ist Alles gemeinsam, Alles

nur eine Entwicklung; das Einzelne gehört dem Ganzen an,

aber auch das Ganze dem Einzelnen.

Varnhagen.

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Wer das Naturgesetz auch in der Geschichte kennt und

anerkennt, der kann prophezeien; wer nicht, weiß nicht, was

morgen geschieht, und wäre er Minister.

Börne.

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Wer nicht von dreitausend Jahren

Sich weiß Rechenschaft zu geben,

Bleib’ im Dunklen unerfahren,

Mag von Tag zu Tage leben.

Goethe.

————

i227

1.

Die Politik handelt von der Bewegung der ganzen Menschheit. Diese Bewegung resultirt aus den Bestrebungen aller Individuen und ist, wie wir in der Ethik ohne Beweis hinstellen mußten, von einem niederen Standpunkte aus betrachtet, die Bewegung nach dem idealen Staate, vom höchsten dagegen aufgefaßt: die Bewegung aus dem Leben in den absoluten Tod, da ein Stillstand im idealen Staate nicht möglich ist.

Diese Bewegung kann kein moralisches Gepräge tragen; denn die Moral beruht auf dem Subjekt, und nur Handlungen des Einzelnen, gegenüber der Bewegung der Gesammtheit, können moralisch sein.

Sie vollzieht sich lediglich durch unwiderstehliche Gewalt und ist, allgemein bestimmt, das allmächtige Schicksal der Menschheit, das Alles, was sich ihm entgegenwirft, und sei es ein Heer von Millionen, zermalmt und wie Glas zerbricht; von da an aber, wo sie in den Staat mündet, heißt sie Civilisation.

Die allgemeine Form der Civilisation ist also der Staat; ihre besonderen Formen: ökonomische, politische und geistige, nenne ich historische Formen. Das Haupt-Gesetz, wonach sie sich vollzieht, ist das Gesetz des Leidens, welches die Schwächung des Willens und die Stärkung des Geistes bewirkt. Es legt sich in verschiedene einzelne Gesetze auseinander, welche ich historische Gesetze nenne.

 

2.

Unsere Aufgabe ist nun zunächst: an den Hauptereignissen, welche uns die Geschichte überliefert hat, den Gang der Civilisation nachzuweisen und die Formen und Gesetze, in und nach denen sich die Menschheit bis in unsere Zeit entwickelte, auf dem Grunde des Gewühls von Erscheinungen abzulesen; dann die Strömungen |

i228 in unserer Geschichtsperiode zu untersuchen, und schließlich den Punkt in’s Auge zu fassen, auf den alle vorliegenden Entwicklungsreihen hinweisen. Wir werden überhaupt, besonders aber bei der letzteren Arbeit, vermeiden, uns in Einzelheiten zu verlieren; denn es wäre geradezu Vermessenheit, im Einzelnen genau feststellen zu wollen, wie sich die Zukunft gestalten wird.

 

3.

Wir haben in der Ethik den Staat kurzweg auf einen Vertrag zurückgeführt, der dem Naturzustand ein Ende machte. Wir durften dies thun, weil es in der Ethik vorerst nur auf die Grund-Gesetze des Staates ankommt. Jetzt liegt uns aber ob, die Verhältnisse, aus denen der Staat entsprang, genauer zu untersuchen.

Die Annahme, daß das Menschengeschlecht einen einheitlichen Ursprung hat, steht in keinem Widerspruch mit den Resultaten der Naturwissenschaft, während sie auf der anderen Seite der philosophischen Politik eine vortreffliche Grundlage in jeder Hinsicht giebt. Außerdem fließt aus ihr, ungezwungen und überzeugend für Jeden, der Satz voll treibender Wahrheit, daß alle Menschen Brüder sind, und man muß nicht, um sie zu gewinnen, an eine hinter den Individuen versteckte unfaßbare Einheit glauben, welche nur, in günstiger Stunde, durch intellektuelle Anschauung zu erkennen sein soll.


Date: 2014-12-29; view: 517


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