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Analytik des Erkenntnißvermögens. 16 page

i201 das Gewissen in unerträglicher Weise, und gegen den Zwang und die endlose Kette von Entbehrungen stürmt ohne Ruhe das freiheitsbedürftige Herz an: erfolglos und unglücklich.

Nun gehen wir weiter und denken uns, daß viele solcher Menschen, die nur aus Furcht vor Strafe gehorsam sind, sich an der klaren Erkenntniß ihres Vortheils entzünden. Wir sehen einstweilen davon ab, daß der erkannte Vortheil der Redlichkeit, wie er aus einer Betrachtung, wie die oben angestellte, hervorspringen könnte, so gut wie nicht wirken kann. Sehr schön drückt dies St. Paulus in dem Satze aus:

Das Gesetz richtet nur Zorn an; denn wo das Gesetz nicht ist, da ist auch keine Uebertretung. Derhalben muß die Gerechtigkeit durch den Glauben kommen.

(Röm. 4, 15. 16.)

Wir sehen ferner davon ab, daß der erkannte Vortheil des Staatsschutzes heutzutage gleichfalls den Willen nur höchst selten entzünden kann und nehmen an, daß die Entzündung überhaupt zu Stande komme.

Auf diese Weise haben wir, mit Absicht auf die Gesetze, glückliche Menschen im Staate: Gerechte durch natürliche Anlage und Gerechte durch erleuchteten Willen. Ja wir wollen so weit gehen und annehmen, es gäbe nur Gerechte in unserem Staate. In diesem Staate leben mithin alle Bürger in Uebereinstimmung mit den Gesetzen und werden durch die Forderungen der staatlichen Autorität nicht unglücklich. Jeder giebt Jedem das Seine, aber auch nicht mehr. Es herrscht volle Redlichkeit im ganzen Verkehr; Niemand betrügt; Alle sind ehrlich. Kommt aber ein hungriger Armer zu ihnen und verlangt ein Stückchen Brod, so schlagen sie die Thüre vor ihm zu, mit Ausnahme Derjenigen, welche barmherzig sind; denn würden diese nicht geben, so würden sie ja gegen ihren Charakter handeln und unglücklich sein.

Wir haben mithin in unserem Staate nur eine beschränkte Moralität; denn alle Handlungen, die in Uebereinstimmung mit den Gesetzen sind und gern geschehen, haben moralischen Werth und sind nicht bloß legal. Der Barmherzige aber handelt nicht moralisch, wenn er die Nothleidenden aufrichtet, so wenig wie der Hartherzige illegal handelt, wenn er den Armen vor seiner Thüre verhungern läßt; denn es ist kein Gesetz vorhanden, welches Wohlthätigkeit |

i202 befiehlt und es ist eine der Bedingungen für eine moralische Handlung, daß sie mit dem Gesetze übereinstimme. Natürlich kann auch der Barmherzige nicht illegal handeln, wenn er den Dürftigen unterstützt. Seine Handlung hat überhaupt keinen besonderen Charakter, sondern trägt nur den allgemeinen egoistischen. Er folgt lediglich seinem geläuterten Egoismus, verstößt gegen kein Gesetz und ist glücklich.

Gegen diese Auseinandersetzung lehnt sich unser Inneres auf, und wir fühlen, daß sie falsch sein müsse. Dies ist jedoch auf unserem jetzigen Standpunkte keineswegs der Fall. Was in unserem Gefühl wirkt, ist entweder Barmherzigkeit, oder Spuk aus unseren Lehrjahren; denn wenn wir uns auch noch so sehr emancipirt von allen Vorurtheilen dünken, so tragen wir doch Alle, mehr oder weniger, Ketten des Glaubens, Ketten theurer Erinnerungen, Ketten liebevoller Worte aus verehrtem Munde. Auf unserem jetzigen Standpunkte aber darf nur die kalte Vernunft sprechen und sie muß sprechen wie oben. Es kann sich später eine andere Lösung herausstellen: jetzt ist es unmöglich. Die Autorität der Religion existirt nicht für uns, und an ihre Stelle ist noch keine andere getreten. Wäre es nicht eine offenbare Thorheit, wenn sich der Hartherzige zu Gunsten des Armen beschränkte, d.h. gegen seinen Charakter handelte, ohne zureichendes Motiv? Ja, wäre es denn überhaupt nur möglich? Und wie sollte eine barmherzige That moralisch sein ohne den Willen eines allmächtigen Gottes, der die Werke der Nächstenliebe gebietet?



Aus diesem Grunde würden wir auch einen Irrweg einschlagen, wollten wir die Barmherzigkeit, oder den Zustand, in den fremdes Leid den barmherzigen Willen versetzt: das Mitleid, zur Grundlage der Moral machen. Denn wie dürften wir uns anmaßen zu dekretiren: barmherzige Thaten, Thaten aus Mitleid sind moralische Thaten? Ihre Unabhängigkeit von einer gebietenden Autorität würde gerade verhindern, daß sie es sein können. Hätte nicht Jeder das Recht, unser unverschämtes Dekret umzustoßen? Und was wollten wir dem Hartherzigen oder Grausamen antworten, wenn er mit dem ganzen Trotze seiner rebellischen Individualität uns früge: »wie könnt ihr, ohne die Annahme des allmächtigen Gottes, sagen, daß ich unmoralisch handle? Ich behaupte mit demselben Rechte, daß barmherzige Thaten unmoralisch sind.« Seid aufrichtig! Könntet |

i203 ihr ihm antworten, ohne euch auf den Boden der christlichen oder überhaupt einer Religion zu stellen, welche die Nächstenliebe im Namen einer anerkannten Macht gebietet?

Wir müssen also einstweilen dabei bleiben, daß in unserem gedachten Staate barmherzige Thaten nicht moralisch sein können, weil keine Macht sie gebietet und Handlungen nur dann moralischen Werth haben, wenn sie gern geschehen und mit einem Gesetze übereinstimmen.

Die Bürger unseres gedachten Staates sind, wie angenommen wurde, Alle gerecht, d.h. sie kommen nie in Zwiespalt mit sich selbst, wenn der Staat eine Forderung, zu deren Leistung sie sich durch Vertrag verpflichteten, an sie stellt. Sie gehorchen gern und es ist deshalb unmöglich, daß die Gesetze sie unglücklich machen können.

Nun gehen wir weiter und sagen: gut; fassen wir das Leben dieser Bürger nur in seiner Beziehung zum Staate und dessen Grundgesetzen auf, so ist es ein glückliches. Aber das Leben ist doch keine Kette von nichts Anderem, als erfüllten Pflichten gegen den Staat: von unterlassenem Diebstahl, unterlassenem Mord, Steuerzahlungen und Kriegsdienst; die anderen Beziehungen wiegen entschieden darin vor. Und deshalb fragen wir: Sind unsere Gerechten auch sonst glücklich?

Diese Frage ist sehr wichtig, und ehe sie beantwortet ist, können wir keinen Schritt vorwärts in der Ethik machen. Unsere nächste Aufgabe besteht demnach darin, ein Urtheil über den Werth des menschlichen Lebens selbst abzugeben.

 

23.

Ich weiß wohl, daß alle Diejenigen, welche nur ein einziges Mal rein objektiv über den Werth des Daseins nachgedacht haben, das Urtheil des Philosophen nicht mehr bedürfen; denn entweder sind sie zur Ueberzeugung gelangt, daß aller menschliche Fortschritt nur ein scheinbarer sei, oder zu der anderen, daß das Menschengeschlecht sich thatsächlich immer durch bessere Zustände nach besseren bewege: in beiden Fällen aber wurde schmerzlich bekannt, daß das menschliche Leben in seinen jetzigen Formen ein wesentlich unglückliches sei.

Auch würde ich mich nicht dazu verstehen können, das jetzige |

i204 Leben zu prüfen. Andere haben dies gethan und haben es so meisterhaft gethan, daß für jeden Einsichtigen die Acten darüber geschlossen sind. Nur Diejenigen, welche keinen Ueberblick über das Leben in allen seinen Formen haben, oder Diejenigen, deren Urtheil ein noch zu heftiger Drang nach Leben fälscht, können ausrufen: es ist eine Lust zu leben und Jeder muß sich glücklich preisen, daß er athmet und sich bewegt. Mit ihnen soll man sich in keine Discussion einlassen, eingedenk der Worte des Skotus Erigena:

Adversus stultitiam pugnare nil est laboriosius. Nulla enim auctoritate vinci fatetur, nulla ratione suadetur.

Sie haben noch nicht genug gelitten und ihre Erkenntniß liegt im Argen. Sie werden, wenn nicht in ihrem individuellen Leben noch, so doch in ihren Nachkommen einst erwachen, und ihr Erwachen wird ein schreckliches sein.

Nicht mit dem Leben, wie es jetzt im freiesten und besten Staat dahinfließt, werden wir uns also befassen, – denn es ist verurtheilt – sondern wir nehmen den Standpunkt der erwähnten vernünftigen Optimisten ein, welche in die Zukunft blicken und der ganzen Menschheit dereinst ein glückliches Leben zusprechen, weil die reale Entwicklung immer vollkommeneren Zuständen entgegen nicht geleugnet werden kann. Wir werden mithin einen idealen Staat zu construiren und das Leben in ihm zu beurtheilen haben. Wir lassen ganz dahingestellt, ob derselbe je in der Entwicklung der Dinge liegen könne; aber es ist klar, daß wir ihn construiren dürfen, weil wir ja bestrebt sind, das Leben in einem günstigen Lichte zu erblicken.

Wir stellen uns gleich mitten in diesen idealen Staat, ohne uns mit seinem Werden zu beschäftigen.

Er umfaßt »Alles, was Menschengesicht trägt«, er umfaßt die ganze Menschheit. Es giebt keine Kriege mehr und keine Revolutionen. Die politische Macht ruht nicht mehr in bestimmten Klassen, sondern die Menschheit ist ein Volk, das nach Gesetzen lebt, an deren Abfassung Alle mitgewirkt haben. Das sociale Elend ist erloschen. Die Arbeit ist organisirt und drückt keinen mehr. Der Erfindungsgeist hat sämmtliche schweren Arbeiten auf Maschinen abgewälzt und die Leitung derselben raubt den Bürgern nur wenige Stunden des Tages. Jeder, der erwacht, kann sagen: der Tag ist mein.

i205 The whips and scorns of time,

The oppressor ’s wrong, the proud man ’s contumely,

— — — —, the law ’s delay,

The insolence of office, and the spurns

That patient merit of the unworthy takes.

(Shakespeare.)

(Der Zeiten Spott und Geißel,

Des Mächt’gen Druck, des Stolzen Mißhandlungen

— — — — des Rechtes Aufschub,

Der Uebermuth der Aemter, und die Schmach,

Die Unwerth schweigendem Verdienst erweist –)

alles Dieses ist getilgt.

Die Armuth ist von der Erde, wo sie entsetzliches Unglück Jahrtausende lang anrichtete, entflohen. Jeder lebt ohne Sorgen um des Leibes Nothdurft. Die Wohnungen sind gesund und bequem. Keiner kann mehr den Anderen ausbeuten, denn um den Stärkeren sind Schranken gelegt, und den Schwächeren schützt die Gesammtheit.

Wir nehmen also an, daß die mißlichen politischen und socialen Verhältnisse, deren Betrachtung so Viele zur Ueberzeugung führte, daß das Leben der Mühe darum nicht werth sei, sämmtlich zum Wohle jedes Menschen geordnet seien. Wenig Arbeit, viel Vergnügen: das ist die Signatur des Lebens in unserem Staate.

Zugleich nehmen wir an, daß die Menschen, im Laufe der Zeit, durch Leiden, Erkenntniß und allmähliche Entfernung aller schlechten Motive, maßvolle und harmonische Wesen geworden sind, kurz, daß wir es nur noch mit schönen Seelen zu thun haben. Sollte wirklich noch irgend etwas in unseren Staate sein, was die Leidenschaft oder den Seelenschmerz erregen könnte, so findet das erregte Individuum bald sein Gleichgewicht wieder und die harmonische Bewegung ist wieder hergestellt. Das große Unglück, dem leidenschaftliche Charaktere nicht entrinnen können:

The heart-ache, and the thousand natural shocks

That flesh is heir to,

(Shakespeare.)

(Das Herzweh und die tausend Stöße,

Die uns’res Fleisches Erbtheil –)

auch Dieses ist von der Erde verschwunden.

Der überspannteste Anbeter des Willens zum Leben wird eingestehen müssen, daß in Anbetracht, daß der Mensch nicht ganz frei |

i206 von Arbeit sein kann, da er essen, sich kleiden und wohnen muß eine bessere gesellschaftliche Ordnung und Wesen, welche die Bedingungen zu einem besseren Leben in sich trügen, nicht möglich sind; denn wir haben allen Menschen eine edle Individualität gegeben und vom Leben Alles fortgenommen, was man als nicht wesentlich damit verbunden ansehen kann.

Es verbleiben mithin nur vier Uebel, die durch keine menschliche Macht vom Leben getrennt werden können: Wehen der Geburt, sowie Krankheit, Alter und Tod jedes Individuums. Der Mensch im allervollkommensten Staate muß mit Schmerzen geboren werden, er muß eine kleinere oder größere Anzahl von Krankheiten durchmachen, er muß, wenn ihn nicht

in der Jugend Kraft

Die Norne rafft, (Uhland)

alt, d.h. körperlich siech und geistig stumpf werden; schließlich muß er sterben.

Die kleineren mit dem Dasein verknüpften Uebel rechnen wir für Nichts; doch wollen wir einige davon erwähnen. Wir haben zuerst den Schlaf, der ein Drittel der Lebenszeit raubt (ist das Leben eine Freude, so ist selbstverständlich der Schlaf ein Uebel); dann die erste Kindheit, welche nur dazu dient, den Menschen mit den Ideen und ihrem Zusammenhang soweit vertraut zu machen, um sich in der Welt zurecht finden zu können (ist das Leben eine Freude, so ist die erste Kindheit selbstredend ein Uebel); dann die Arbeit, die sehr richtig im alten Testament als Folge eines göttlichen Fluchs hingestellt wird; endlich verschiedene Uebel, welche Papst Innocenz III., wie folgt, zusammenstellte:

Unreine Erzeugung, ekelhafte Ernährung im Mutterleibe, Schlechtigkeit des Stoffs, woraus der Mensch sich entwickelt, scheußlicher Gestank, Absonderung von Speichel, Urin und Koth.

Man halte diese Uebel nicht für allzu gering. Wer eine gewisse Stufe der Nervenverfeinerung erreicht hat, nimmt mit Recht Anstoß an mehreren derselben. Konnte doch Byron die Gräfin Guiccioli nicht einmal essen sehen, wovon der Grund viel tiefer lag, als der englische spleen liegt.

Wir übergehen, wie gesagt, diese Uebel und verbleiben bei den erwähnten vier Hauptübeln. Aber auch von diesen legen wir drei auf die Seite. Wir nehmen an, daß die Geburt des Menschen in |

i207 Zukunft ohne Schmerzen von Statten gehe, daß es der Wissenschaft gelinge, den Menschen vor jeder Krankheit zu bewahren, schließlich, daß das Alter solcher beschirmten Menschen ein frisches und kräftiges sei, welchem ein sanfter schmerzloser Tod plötzlich ein Ende mache (Euthanasie).

Nur den Tod können wir nicht fortnehmen, und wir haben mithin ein kurzes leidloses Leben vor uns. Ist es ein glückliches? Sehen wir es genau an.

Die Bürger unseres idealen Staates sind Menschen von sanftem Charakter und entwickelter Intelligenz. Ein, so zu sagen, fertiges Wissen, frei von Verkehrtheit und Irrthum, ist ihnen eingeprägt worden, und, wie sie auch darüber nachdenken mögen, sie finden es immer bestätigt. Es giebt keine Wirkungen mehr, deren Ursachen räthselhaft wären. Die Wissenschaft hat thatsächlich den Gipfel erreicht, und jeder Bürger wird mit ihrer Milch gesättigt. Der Schönheitssinn ist mächtig in Allen entfaltet. Dürfen wir auch nicht annehmen, daß Alle Künstler sind, so haben sie doch Alle die Fähigkeit, leicht in die aesthetische Relation einzutreten.

Alle Sorgen sind von ihnen genommen, denn die Arbeit ist in unübertrefflicher Weise organisirt und Jeder regiert sich selbst.

Sind sie glücklich? Sie wären es, wenn sie nicht eine entsetzliche Oede und Leere in sich empfänden. Sie sind der Noth entrissen, sie sind wirklich ohne Sorgen und Leid, aber dafür hat die Langeweile sie erfaßt. Sie haben das Paradies auf Erden, aber seine Luft ist erstickend schwül.

Man muß etwas zu wünschen übrig haben, um nicht vor lauter Glück unglücklich zu sein. Der Leib will athmen und der Geist streben.

(Gracian.)

Sollten sie wirklich noch genug Energie haben, um ein solches Leben bis zum natürlichen Tode zu ertragen, so haben sie gewiß nicht den Muth, es nochmals, als verjüngte Wesen, durchzumachen. Die Noth ist ein schreckliches Uebel, die Langeweile aber das schrecklichste von allen. Lieber ein Dasein der Noth, als ein Dasein der Langeweile, und daß schon jenem die völlige Vernichtung vorzuziehen ist, muß ich gewiß nicht erst nachweisen. Und so hätten wir zum Ueberfluß auch indirekt gezeigt, daß das Leben im besten Staate unserer Zeit werthlos ist. Das Leben überhaupt ist ein »elend jäm|merliches

i208 Ding«: es war immer elend und jämmerlich und wird immer elend und jämmerlich sein, und Nichtsein ist besser als Sein.

 

24.

Nun könnte man aber sagen: wir geben Alles zu, nur nicht, daß das Leben in diesem idealen Staate wirklich langweilig sei. Du hast den Bürger falsch gezeichnet und deine Schlüsse aus seinem Charakter und seinen Beziehungen sind deshalb falsch.

Durch einen direkten Beweis kann ich diesen Zweifel nicht heben; wohl aber durch einen indirekten.

Ich werde mich nicht auf den allgemein anerkannten Erfahrungssatz stützen, daß Leute, welche der Noth glücklich entronnen sind, mit dem Dasein Nichts anzufangen wissen; denn man kann hiergegen mit Recht einwenden, daß sie sich, aus Mangel an Geist oder Bildung, nicht zu beschäftigen wüßten. Noch weniger werde ich das Dichterwort zu Hülfe rufen:

Alles in der Welt läßt sich ertragen,

Nur nicht eine Reihe von schönen Tagen.

(Goethe.)

obgleich es eine unumstößliche Wahrheit ausspricht. Ich stütze mich lediglich darauf, daß, wenn es auch auf dieser Erde noch keinen idealen Staat gegeben hat, doch schon viele Bürger, wie ich sie oben schilderte, gelebt haben. Sie waren frei von Noth und führten ein behaglich arbeitsames Leben. Sie hatten einen edlen Charakter und einen hochentwickelten Geist, d.h. sie hatten eigene Gedanken und nahmen fremde nicht ungeprüft in sich auf.

Alle diese Einzelnen hatten den großen Vorzug vor den gedachten Bürgern eines idealen Staates, daß ihre Umgebung eine viel saftigere und interessantere war. Wohin sie blickten, fanden sie ausgeprägte Individualitäten, eine Fülle von markigen Charakteren. Die Gesellschaft war noch nicht nivellirt und auch die Natur befand sich nur zum kleinsten Theil unter der Botmäßigkeit des Menschen. Sie lebten unter dem Reize der Gegensätze; ihre behagliche eximirte Stellung schwand selten aus ihrem Bewußtsein, denn sie hob sich, wohin sie auch sehen mochten, wie ein helles Bild von dunklem Hintergrund, von den anderen Lebensformen ab. Die Wissenschaft war ferner noch nicht auf dem Gipfel der Vollendung angelangt; noch gab es Räthsel in Menge, Wirkungen genug, über deren Ursachen |

i209 man sich den Kopf zerbrach. Und wer schon empfunden hat, welche reine Freude im Suchen nach der Wahrheit, im Verfolgen ihrer Spur liegt, der wird zugestehen, daß jene Einzelnen thatsächlich im Vortheil waren; denn hatte nicht Lessing Recht, als er ausrief:

Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzig inneren regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und zu mir spräche: wähle! ich fiele ihm mit Demuth in seine Linke.

Und trotzdem haben alle diese hervorragenden Einzelnen, welche eine Kette bilden, die aus der Urzeit des Menschengeschlechts bis in unsere Tage reicht, das Leben als ein wesentlich glückloses verurtheilt und das Nichtsein über dasselbe gestellt. Ich werde mich nicht damit aufhalten, sie Alle zu nennen und ihre treffendsten Aussprüche zu wiederholen. Ich beschränke mich darauf, zwei von ihnen namhaft zu machen, die uns näher stehen als Budha und Salomo, und die alle Gebildeten kennen: den größten Dichter und den größten Naturforscher der Deutschen, Goethe und Humboldt.

Ist es nöthig, daß ich ihre glücklichen Lebensumstände erzähle, ihren Geist und ihren Charakter preise? Ich will nur wünschen, daß alle Menschen im Besitze einer so vortrefflichen Individualität sein und in so günstiger Lage, wie sie eine hatten, sich befinden möchten. Und was sagte Goethe?

»Wir leiden Alle am Leben.«

»Man hat mich immer als einen vom Glück besonders Begünstigten gepriesen; auch will ich mich nicht beklagen und den Gang meines Lebens nicht schelten. Allein im Grunde ist es nichts als Mühe und Arbeit gewesen, und ich kann wohl sagen, daß ich in meinen fünfundsiebzig Jahren keine vier Wochen eigentliches Behagen gehabt. Es war das ewige Wälzen eines Steins, der immer von Neuem gehoben sein wollte.«

(Gespräche mit Eckermann.)

Und was sagt Humboldt?

»Ich bin nicht geschaffen, um Familienvater zu sein. Außerdem halte ich das Heirathen für eine Sünde, das Kindererzeugen für ein Verbrechen.

Es ist auch meine Ueberzeugung, daß derjenige ein Narr, noch mehr ein Sünder ist, der das Joch der Ehe auf sich nimmt. Ein |

i210 Narr, weil er seine Freiheit damit von sich wirft, ohne eine entsprechende Entschädigung zu gewinnen; ein Sünder, weil er Kindern das Leben giebt, ohne ihnen die Gewißheit des Glücks geben zu können. Ich verachte die Menschheit in allen ihren Schichten; ich sehe es voraus, daß unsere Nachkommen noch weit unglücklicher sein werden, als wir –; sollte ich nicht ein Sünder sein, wenn ich trotz dieser Ansicht für Nachkommen, d.h. für Unglückliche sorgte? –

Das ganze Leben ist der größte Unsinn. Und wenn man achtzig Jahre strebt und forscht, so muß man sich doch endlich gestehen, daß man Nichts erstrebt und Nichts erforscht hat. Wüßten wir nur wenigstens, warum wir auf dieser Welt sind. Aber Alles ist und bleibt dem Denker räthselhaft, und das größte Glück ist noch das, als Flachkopf geboren zu sein.

(Memoiren.)

»Wüßten wir nur wenigstens, warum wir auf dieser Welt sind!« Also im ganzen reichen Leben dieses begabten Mannes Nichts, Nichts, was er als Zweck des Lebens hätte auffassen können. Nicht die Schaffensfreude, nicht die köstlichen Momente genialen Erkennens: Nichts!

Und in unserem idealen Staate sollten die Bürger glücklich sein? –

 

25.

Jetzt können wir die Ethik zu Ende bringen.

Wir stoßen zunächst unseren idealen Staat wieder um. Er war ein Phantasiegebilde und wird nie in die Erscheinung treten.

Was aber nicht geleugnet werden kann, das ist die reale Entwicklung der menschlichen Gattung und daß eine Zeit kommen wird, wo nicht der von uns construirte, aber doch ein idealer Staat errichtet wird. Es wird meine Aufgabe in der Politik sein, nachzuweisen, wie alle Entwicklungsreihen, vom Beginn der Geschichte an, auf ihn, als ihren Zielpunkt, deuten. In der Ethik müssen wir ihn ohne Beweis hinstellen. Die Gesellschaft wird thatsächlich in demselben nivellirt sein und jeder Bürger die Segnungen einer hohen geistigen Cultur erfahren. Die ganze Menschheit wird schmerzloser leben als jetzt, als jemals.

Hieraus ergiebt sich eine nothwendige, mit unwidersteh|licher

i211 Gewalt sich vollziehende Bewegung der Menschheit, welche keine Macht aufzuhalten oder abzulenken vermag. Sie stößt die Wollenden und die Nichtwollenden unerbittlich auf der Bahn weiter, die zum idealen Staate führt, und er muß in die Erscheinung treten. Diese reale, unabänderliche Bewegung ist ein Theil des aus den Bewegungen aller einzelnen, im dynamischen Zusammenhang stehenden Ideen continuirlich sich erzeugenden Weltlaufs und enthüllt sich hier als nothwendiges Schicksal der Menschheit. Es ist ebenso stark, ebenso jedem Einzelwesen an Kraft und Macht überlegen – weil es ja auch die Wirksamkeit jedes bestimmten Einzelwesens in sich enthält – wie der Wille einer einfachen Einheit in, über oder hinter der Welt, und wenn die immanente Philosophie es an die Stelle dieser einfachen Einheit setzt, so füllt es den Platz vollkommen aus. Während aber die einfache Einheit geglaubt werden muß und stets Anfechtungen und Zweifeln ausgesetzt war und sein wird, wird das Wesen des Schicksals, vermöge der zur Gemeinschaft erweiterten allgemeinen Causalität, vom Menschen klar erkannt und kann deshalb niemals bestritten werden.

Wenn es nun ein Gebot Gottes für die Menschen war, gerecht und barmherzig zu sein, so fordert das Schicksal der Menschheit mit der gleichen Autorität von jedem Menschen strengste Gerechtigkeit und Menschenliebe; denn wenn auch die Bewegung zum idealen Staate sich trotz Unredlichkeit und Hartherzigkeit Vieler vollziehen wird, so verlangt sie doch von jedem Menschen laut und vernehmlich Gerechtigkeit und Menschenliebe, damit sie sich rascher vollziehen könne.

Jetzt ist auch die Schwierigkeit gelöst, die wir oben unvermittelt stehen lassen mußten, und wogegen sich unser Inneres auflehnte, nämlich, daß eine barmherzige That, im Staate ohne Religion, keinen moralischen Werth haben könne; denn nun trägt auch sie den Stempel der Moralität, weil sie mit der Forderung des Schicksals übereinstimmt und gern geschieht.

Der Staat ist die Form, in welcher sich die gedachte Bewegung vollzieht, das Schicksal der Menschheit sich entfaltet. Seine Grundform, wie wir sie oben feststellten und benutzten, hat er schon längst fast überall erweitert: er hat sich aus einer Zwangsanstalt, damit nicht gestohlen, nicht gemordet und er selbst erhalten werde, zu einer weiten Form für den Fortschritt der Menschheit zur denkbar besten Gemeinschaft weitergebildet. An seine |

i212 Bürger und Institutionen heranzutreten und sie so lange umzumodeln, bis sie passend für die ideale Gemeinschaft geworden sind, d.h. bis die ideale Gemeinschaft real geworden ist, – das ist der Sinn, der den geforderten Tugenden der Vaterlandsliebe, Gerechtigkeit und Menschenliebe zu Grunde liegt, oder mit anderen Worten: das unerbittliche Schicksal der Menschheit fordert von jedem Bürger, die vom großen Herakleitos schon mit tief in das Herz sich eingrabenden Worten gelehrte Hingabe an das Allgemeine, geradezu die Liebe zum Staate. Es soll Jeder, den idealen Staat als Musterbild vor Augen habend, rüstige Hand an das gegenwärtige Reale legen und es umgestalten helfen.

Das Gebot ist also vorhanden, und einer Macht ist es entflossen, die, wegen ihrer furchtbaren Gewalt, es jedem Einzelnen gegenüber aufrecht erhält und, unwandelbar, immer aufrecht erhalten wird. Die Frage ist nur: wie stellt sich der Einzelne dem Gebote gegenüber?

Erinnern wir uns hierbei an den schon oben angeführten tiefen Ausspruch des Apostels Paulus:

Das Gesetz richtet nur Zorn an; denn wo das Gesetz nicht ist, da ist auch keine Uebertretung. Derhalben muß die Gerechtigkeit durch den Glauben kommen.

Die immanente Philosophie ändert den letzten Satz dahin ab:

Derhalben muß die Hingabe an das Allgemeine durch das Wissen kommen.

Der durch natürliche Anlage Gerechte und Barmherzige hat einen leichteren Stand vor dem Gebote als der natürliche Egoist. Er giebt, seinem Charakter gemäß, gern Jedem das Seine, oder besser, er läßt ihm gern das Seine, und ist sein Nächster in bedrängter Lage, so wird er ihn nach Kräften unterstützen. Aber man sieht sofort, daß dieses Benehmen der Forderung des Schicksals nicht ganz entsprechen kann. Jedem das Seine zu lassen, ihn nicht zu betrügen, ist nicht genug. Dem nothdürftigen Mitmenschen, wenn mein Weg gerade an ihm vorbeiführt, zu geben, ist nicht genug. Ich, als Gerechter, soll so wirken, daß ihm Alles das wird, was er als Staatsbürger verlangen kann, soll so wirken, daß jedem Bürger alle Wohlthaten des Staates zu Theil werden, und ich, als Menschenfreund, soll so wirken mit allen anderen Barmherzigen, daß die Noth aus dem Staate ganz verschwindet.

i213 Eine solche Denkungsart kann aber im Menschen, der durch natürliche Anlage gerecht und barmherzig ist, nur unter dem Reiz der Erkenntniß, eines Wissens entstehen, wie sich die Knospe nur unter dem Reize des Lichts öffnen kann. Oder, mit anderen Worten, der ursprünglich gute Wille sowohl, als der schlechte, können sich nur dann entzünden, d.h. sich dem Allgemeinen ganz und voll hingeben, sich gern in die Richtung der Bewegung der Menschheit stellen, wenn ihnen die Erkenntniß einen großen Vortheil davon verspricht.

Ist dies möglich?

Der natürliche Egoist, dessen Wahlspruch ist: Pereat mundus, dum ego salvus sim, zieht sich vor dem Gebot ganz auf sich zurück und stellt sich der realen Bewegung feindlich entgegen. Er denkt nur an seinen persönlichen Vortheil und kann er ihn nur (ohne jedoch mit den Gesetzen in Conflikt zu kommen) auf Kosten der Ruhe und des Wohlstandes Vieler erlangen, so bekümmern ihn die Klagen und Schmerzen dieser Vielen in keiner Weise. Er läßt die Goldstücke durch die Finger gleiten, und für die Thränen der Beraubten sind seine Sinne wie todt.


Date: 2014-12-29; view: 449


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