Blicken wir von hier aus auf den Staat und die Religion zurück und erwägen die Handlungen, die, gegen den Charakter des Menschen, durch die gesetzten stärkeren Motive erzwungen werden, so tragen sie den Stempel der Legalität, aber sie haben keinen moralischen Werth.
Nun ist die Frage: was ist eine moralische Handlung? Daß sie übereinstimmen muß mit den Urgesetzen des Staates und den Geboten der Religion, oder mit anderen Worten, daß sie legal, dem staatlichen und göttlichen Gesetze gemäß, sein muß, darüber ist noch nie gestritten worden. Alle Moralisten sind darin einig, daß sie dem einen oder anderen Theil des Satzes:
Neminem laede; imo omnes, quantum potes, juva,
entsprechen müsse. Dies ist ein unumstößliches Kriterium. Es |
i189 reicht aber selbstverständlich nicht aus, und es muß sich ein anderes zu ihm gesellen, um eine moralische Handlung erkennen zu können.
Die Abwesenheit aller egoistischen Motivation kann nie das zweite Kriterium einer moralischen Handlung sein. Alle Handlungen sind egoistisch, und es ist eine Ausnahme völlig undenkbar, denn entweder handle ich meiner Neigung gemäß, oder gegen meinen Charakter: im ersteren Falle handle ich unbedingt egoistisch und im letzteren nicht anders, indem ich ein Interesse haben muß, wenn ich meinen Charakter zwingen will, weil ich sonst so wenig mich bewegen könnte, wie ein ruhender Stein. Also nicht, weil eine Handlung egoistisch ist, nicht, weil mich die Hoffnung auf Lohn (wozu auch die Zufriedenheit mit mir selbst gehört) oder die Furcht vor Strafe (wozu auch die Unzufriedenheit meines Herzens gehört) dazu trieb, hat sie keinen moralischen Werth: dies kann ihre ethische Bedeutsamkeit niemals aufheben.
Eine Handlung hat moralischen Werth, wenn sie:
1) wie schon bemerkt, den Gesetzen des Staates oder den Geboten der Religion entspricht, d.h. legal ist;
2) gern geschieht, d.h. wenn sie im Handelnden den Zustand tiefer Befriedigung, des reinen Glücks hervorruft.
Es ist klar, daß hiernach alle Diejenigen moralisch handeln, deren Charakter redlich und barmherzig ist, denn aus einem solchen Charakter fließen die moralischen Handlungen von selbst und geben dem Individuum die Befriedigung, welche Jeder empfindet, der seinem Charakter gemäß handeln kann. Aber wie steht es mit Denjenigen, welche keinen angeborenen guten Willen haben? Sind sie keiner moralischen Handlung fähig und können sie im günstigsten Falle nur legal handeln? Nein! Auch ihre Thaten können moralischen Werth haben; doch muß ihr Wille eine vorübergehende oder anhaltende Verwandlung erfahren: er muß sich an der Erkenntniß entzünden, die Erkenntniß muß ihn befruchten, entflammen.
16.
Ich erinnere daran, daß wir uns noch immer auf dem Boden des Staates und des Christenthums befinden.
Alle Handlungen des Menschen fließen mit Nothwendigkeit aus seiner Idee, und ist es ganz gleich, ob sie seinem Charakter gemäß oder gegen seinen Charakter, aber seinem allgemeinen Wohle gemäß, sind. Immer sind sie das Produkt seiner Idee und eines zureichen|den
i190 Motivs. Gegen den Charakter handeln, ohne einen Vortheil davon zu haben, kann schlechterdings Niemand: es ist eine baare Unmöglichkeit. Wohl aber kann Jeder seine Natur unterdrücken, wenn er einen Vortheil davon hat, und ist dann die Handlung so nothwendig, wie jede andere. Sie hat nur eine complicirtere Entstehung, da die Vernunft die Motive sichtet, erwägt, und der Wille dem stärksten folgt.
Nehmen wir nun zunächst einen ungebildeten Bürger, der seine Pflicht gegen den Staat mit Widerwillen, aus Furcht vor Strafe, erfüllt. Dies darf nicht Wunder nehmen, denn er hat keine klare Erkenntniß vom Wesen des Staats. Er hat nie über dasselbe nachgedacht und noch niemals hat sich Jemand die Mühe gegeben, ihn darüber aufzuklären. Dagegen hat er von Jugend auf Klagen über die Lasten des Staates gehört und dann an sich selbst erfahren, wie schmerzlich es ist, einer Institution schwere Opfer zu bringen, deren Nutzen man nicht einsehen kann. Trotzdem gehorcht er, weil er sich zu schwach dazu fühlt, mit der Obrigkeit zu kämpfen.
Jetzt setzen wir, daß die Erkenntniß dieses Menschen auf irgend eine Weise geläutert worden sei. Er empfinde in sich die Angst des Menschen im Naturzustand, er vergegenwärtige sich die Schrecknisse einer eintretenden Anarchie, oder eines Krieges mit fremder Macht auf dem heimathlichen Boden: er sieht die Früchte seines jahrelangen Fleißes in einem Augenblick vernichtet, sieht die Schändung seines Weibes, die Todesgefahr seiner Kinder, seiner Eltern, seiner Geschwister, kurz des Liebsten, was er hat. Er erkenne ferner den Werth des Volkes, zu dem er gehört, und die Achtung, die es bei anderen Völkern genießt: er empfindet Stolz und wünscht aufrichtig, daß es diese Achtung niemals verliere, daß er nie, in der Fremde, mit Verachtung behandelt werde, wenn er sein Vaterland nennt. Schließlich schwelge er noch in der Betrachtung, wie aller Culturfortschritt der Menschheit von der Rivalität der Völkerindividualitäten abhängt, und wie seinem Volke eine ganz besondere Mission in dieser Concurrenz zugefallen ist. Zugleich erkenne er recht klar, daß alles dieses nur erreicht, beziehungsweise vermieden wird, wenn jeder Bürger seine Pflicht voll und ganz erfüllt.
Diese Erkenntniß arbeitet fortan an seinem Willen. Wohl wird der natürliche Egoismus die Stimme erheben und meinen: es ist besser, wenn du die Anderen sich abmühen lassest und doch die |
i191 Früchte mit ihnen theilst. Aber die Erkenntniß ruht nicht und weist immer wieder darauf hin, daß Alles nur erreicht werden kann, wenn Jeder seine Pflicht thut. In diesem Kampfe mit sich selbst kann sich der Wille entzünden und die Vaterlandsliebe gebären. Die Erkenntniß, welche gleichsam nur wie ein Stückchen Holz auf der Oberfläche schwamm, kann schwer werden und auf den Grund des Willens sinken. Jetzt werden die verlangten Opfer gern gebracht und den Handelnden erfüllt eine große Befriedigung. Er fühlt sich ferner in Uebereinstimmung mit dem Gesetz, kurz, er handelt moralisch.
Nun wollen wir einen Menschen vornehmen, der widerwillig, nur aus Furcht vor Strafe, Jedem das Seine giebt. In einer günstigen Stunde erkenne er einmal recht deutlich, wie die Beschränkung, die der Staat dem Einzelnen auferlegt, eine durchaus nothwendige ist; wie es zwar angenehmer wäre, sich auf Kosten der Anderen bereichern zu können, daß aber, wenn Jeder dies wollte, der Rückfall in den Naturzustand stattfinden würde; zugleich vergegenwärtige er sich lebhaft den Krieg Aller gegen Alle und die Vortheile, die das Gesetz ihm so reichlich gewährt. Auch verweile er mit Wohlgefallen bei der Vorstellung einer Gesammtheit, von der jedes Glied, im Kleinsten und im Größten, ehrlich handelt. Trotz aller Einwürfe des natürlichen Egoismus kann sich der Wille an dieser Erkenntniß entzünden, und die Tugend der Gerechtigkeit in ihm Wurzel fassen. Es senkt sich gleichsam die Maxime: ich will immer ehrlich und redlich handeln, in’s Herz und jede Handlung begleitet seitdem das Gefühl reiner Befriedigung. Er fühlt sich ferner in Uebereinstimmung mit dem Gesetz, d.h. er handelt moralisch.
Schließlich denken wir uns einen gläubigen Christen, der die Noth seiner Nächsten lindert, wo er kann, jedoch nicht aus angeborener Barmherzigkeit, sondern aus Furcht vor der Hölle und um des Lohnes im Himmelreich willen.
Irgend ein Unglück: eine schwere Krankheit, ein großer Verlust, eine ihm widerfahrene bittere Ungerechtigkeit, habe ihn ganz auf sich zurückgeworfen und er suche, da er nirgends Trost finden kann, Trost bei Gott. Er denke über sein vergangenes Leben nach und sehe mit Schmerz, der mit Erstaunen gemischt ist, da er sich noch nie in einer solchen inneren Sammlung befunden hat und ihm deshalb noch nie die alltäglichsten Verhältnisse in so hellem Lichte er|schienen
i192 sind, daß sein Leben Nichts als eine Kette von Noth und Plage, Angst und Pein, großen Leiden und kurzen flüchtigen Freuden gewesen ist. Er lasse ferner das Leben von Bekannten an seinem Geiste vorbeiziehen; er stelle zusammen, was er im Geräusche des Tages erfahren und im Gewirr der Dinge bald aus den Augen verloren hatte, und verwundere sich über die Gruppirung: welche Menge von Unglück auf der einen, welche dürftigen Freuden auf der anderen Seite!
Es ist ein elend jämmerliches Ding um aller Menschen Leben; von Mutterleibe an bis sie in die Erde begraben werden, die unser Aller Mutter ist.
Da ist immer Sorge, Furcht, Hoffnung und zuletzt der Tod; sowohl bei dem, der in hohen Ehren sitzt, als bei dem Geringsten auf Erden. Sowohl bei dem, der Seiden und Krone trägt, als bei dem, der einen groben Kittel an hat; da ist immer Zorn, Eifer, Widerwärtigkeit, Unfriede und Todesgefahr, Neid und Zank.
(Jesus Sirach. 40. Cap.)
Und nun vergegenwärtige er sich die Todesstunde, die über kurz oder lang kommen muß. Nicht an die Hölle denke er, sondern es schwebe ihm, in vollem Contrast zu dem eben erwogenen qualvollen irdischen Leben, das ewige Leben im Schooße Gottes vor. Er denkt es frei von Sorge, frei von Kummer, Noth, Unfrieden, Neid, Zank, frei von Unlust und physischem Schmerz, frei von Bewegung, frei von Geburt und Tod, und dann: voll von Seligkeit. Er erinnert sich des unaussprechlich glücklichen Zustandes seines Herzens, als er ganz versunken war in aesthetischer Contemplation und denkt sich nun einen solchen Zustand, ohne Unterbrechung, beim Anblick Gottes und der Herrlichkeiten seines Reichs, wogegen ja das Schönste in dieser Welt unrein und häßlich sein muß. Ewige, selige Contemplation!
Da kann ihn eine gewaltige Sehnsucht, ein heftiges Verlangen, wie er noch keines empfunden hat, ergreifen und sein Wille sich entzünden. Das Herz hat den Gedanken ergriffen und läßt ihn nicht mehr los: der Gedanke ist zur Denkungsart geworden. Nur auf Eines ist fortan das Verlangen gerichtet: auf das ewige Leben und seinen Frieden. Und in dem Maße, als dieses Verlangen glühender wird, stirbt er mehr und mehr der Welt ab. Alle Motive, die seinen Charakter erregen könnten, werden von dem einen Motiv: selig nach dem Tode zu sein, besiegt, und der Dorn|busch
i193 trägt thatsächlich Aprikosen, ohne daß ein Wunder oder ein Zeichen geschehen wäre. Es ist, als ob die Thaten aus einem guten Willen flössen und sie tragen den Stempel der Moralität. Der Mensch handelt in Uebereinstimmung mit den Geboten Gottes, an den er fest glaubt, und er hat das Himmelreich schon auf Erden; denn was ist das Himmelreich Anderes, als Herzensfrieden?
»Sehet das Reich Gottes ist inwendig in euch.«
17.
Die Umwandlung des Willens durch Erkenntniß ist eine Thatsache, an der die Philosophie nicht vorübergehen darf; ja, sie ist das wichtigste und bedeutsamste Phänomen in dieser Welt. Sie ist aber selten. Sie vollzieht sich an Einzelnen in der Stille und manchmal geräuschvoll an Mehreren zu gleicher Zeit, immer mit Nothwendigkeit.
Die Erkenntniß ist Bedingung, und zwar die klare Erkenntniß eines sicheren, großen Vortheils, der alle anderen Vortheile überwiegt. Dies müssen wir festhalten als eine Fundamental-Wahrheit der Ethik. Die heiligste Handlung ist nur scheinbar selbstlos; sie ist, wie die gemeinste und niederträchtigste, egoistisch, denn kein Mensch kann gegen sein Ich, sein Selbst, handeln: es ist schlechterdings unmöglich.
Es ist aber ein Unterschied zu machen, da illegale, legale und moralische Handlungen streng von der Philosophie auseinander gehalten werden können, ob sie gleich alle egoistisch sind, und sage ich deshalb, daß alle illegalen (vom Gesetze verbotenen) und alle legalen (mit Widerwillen, aus Furcht vor Strafe ausgeführten) Handlungen dem natürlichen Egoismus und alle moralischen Handlungen (sie mögen aus einem angeborenen guten oder aus einem entzündeten Willen entspringen) dem geläuterten Egoismus entfließen. Hierdurch sind sämmtliche menschlichen Handlungen, welche den Ethiker interessiren, classificirt. Ihr nothwendig egoistischer Charakter ist gewahrt und dennoch ein wesentlicher Unterschied gesetzt. Man kann auch sagen: der Egoismus ist die gemeinschaftliche Wurzel zweier Stämme: des natürlichen (rohen) und des geläuterten Egoismus, und zu irgend einem dieser Stämme gehört jede Handlung.
i194
18.
Je größer der Vortheil ist, je sicherer er ist, desto schneller entzündet sich der Wille an einer klaren Erkenntniß desselben; ja es ist sicher, daß der Wille sich entzünden muß, wenn der Vortheil alle anderen schwer überwiegt und von dem betreffenden Individuum nicht angezweifelt wird. Es ist hierbei ganz gleichgültig, ob der Vortheil wirklich ein großer und sicherer ist, oder ob er nur in der Einbildung als ein solcher besteht. Mögen alle Anderen ihn verurtheilen und belachen, wenn nur das betreffende Individuum nicht an demselben zweifelt und von seiner Größe durchdrungen ist.
Die Geschichte belegt die Thatsache der moralischen Entzündung des Willens unwidersprechlich. Man wird einerseits nicht an der wahren und echten Vaterlandsliebe der Griechen zur Zeit der Perserkriege, andererseits nicht daran zweifeln, daß gerade ihnen das Leben besonders werthvoll erscheinen mußte; denn was fehlte diesem begnadeten Volke? Es war der einzige Zweig der Menschheit, der eine schöne glückliche Jugend hatte; allen anderen erging es wie den Individuen, die, durch irgend welche Umstände, nicht zum Bewußtsein ihrer Jugend kommen und das ihnen vorenthaltene Glück erst sterbend verschmerzen. Und gerade weil die Griechen das Leben in ihrem Lande zu schätzen wußten, mußten sie in gluthvoller Vaterlandsliebe ihre Bürgerpflicht ausüben; denn sie waren ein kleines Volk, als sie von der colossalen Uebermacht der Perser angegriffen wurden, Jeder mußte überzeugt sein, daß nur dann, wenn Jeder mit seinem Leben einstand, der Sieg möglich wäre, und Jeder wußte, welches Loos ihm eine Niederlage brachte: Fortschleppung in die Sklaverei. Da mußte sich der Wille entzünden, da mußte jeder Mund aussprechen: lieber den Tod!
Wie anders, beiläufig bemerkt, liegen die Verhältnisse heutzutage. Gewiß verliert noch ein besiegtes Culturvolk viel; aber der Nachtheil ist bedeutend kleiner als früher, und die meisten Individuen kommen gar nicht dazu, ihn zu erkennen. Dabei wirkt das zersetzende Gift des Kosmopolitismus, das, in den jetzigen Verhältnissen, nur mit der größten Vorsicht einem Volke eingegeben werden darf, wenn es günstig wirken soll. »Alle Menschen sind Brüder; wir kämpfen nicht gegen unsere Brüder; die Welt ist unser Vaterland«; so rufen die unreifsten Geister, die nicht einmal die Geschichte ihres Landes, geschweige den mühesamen Gang der Menschheit nach einem |
i195 einzigen großen, unwandelbaren Gesetze kennen, das sich in den verschiedensten Gestaltungen offenbart. Und darum trifft man jetzt so selten die echte ausdauernde Vaterlandsliebe an, die nicht verwechselt werden darf mit Rauflust oder mit dem rasch verfliegenden patriotischen Rausch. –
Ferner bewirkte der echte felsenfeste Glaube die plötzlichsten Bekehrungen. Man erinnere sich an die erhebenden Erscheinungen aus den drei ersten Jahrhunderten des Christenthums. Menschen, welche noch am Tage vor ihrer Umwandlung durch und durch weltlich gesinnt waren, schwelgten und praßten, dachten auf einmal an nichts Anderes mehr, als an das Heil ihrer unsterblichen Seele und verhauchten gern ihr Leben unter den gräßlichsten Martern. War ein Wunder geschehen? In keiner Weise! Sie hatten deutlich erkannt, wo ihr Heil lag; sie hatten erkannt, daß Jahre der Qual Nichts sind, gehalten gegen eine qualvolle Ewigkeit; daß das glücklichste irdische Leben Nichts ist gegen die ewige Seligkeit. Und die Unsterblichkeit der Seele, sowie ein Gericht, wie die Kirche es lehrte, wurde geglaubt. Da mußte der Mensch in die Wiedergeburt, da mußte sich der Wille entzünden, wie der Stein zur Erde muß. Wie er vorher prassen und ängstlich bemüht sein mußte, jeden Schmerz von sich abzuhalten, so mußte er jetzt den Armen seine Habe schenken und gehen, um zu bekennen: »ich bin ein Christ«; denn es war einfach über Nacht ein unwiderstehlich starkes Motiv in sein Wissen getreten:
Wer mich bekennt vor den Menschen, den will ich bekennen vor meinem himmlischen Vater.
(Matth. 10.)
Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn das Himmelreich ist ihr.
(Matth. 5.)
Die Atmosphäre war so erfüllt von der neuen Lehre, daß sie sogar eine geistige Epidemie hervorrief. Es drängten sich ganze Massen um das Tribunal der römischen Statthalter und erflehten den qualvollsten Tod. Wie Tertullian erzählt, rief ein Prätor einer solchen Menge zu: »Elende! Wenn ihr sterben wollt, so habt ihr ja Stricke und Abgründe«. Er wußte nicht, daß es sich um das Himmelreich handelte und dieses am leichtesten, der Verheißung gemäß, durch den Märtyrertod erlangt wurde.
Sehen wir indessen von den Märtyrern ab und betrachten die einfacheren Erscheinungen, so strahlt uns von allen Seiten die reine echte Nächstenliebe bei Menschen entgegen, aus deren Charakter sie |
i196 nicht fließen konnte. Sie waren Alle wie verwandelt, aber – das wollen wir fest halten – mit Nothwendigkeit, auf ganz natürliche Weise.
19.
Die moralische Entzündung des Willens ist eine Thatsache, die ich im Vorhergehenden rein immanent zu erklären versuchte. Sie ist eine Thatsache, wie die Umwandlung des normalen Zustandes einer chemischen Idee in den electrischen, wie die Umwandlung des normalen Zustandes des Menschen in den Affekt. Ich will sie die moralische Begeisterung nennen. Sie ist, wie die aesthetische, eine Doppelbewegung, aber wesentlich von ihr verschieden. Zunächst ist sie nicht, wie diese, eine zusammenhängende Bewegung, denn ihre Theile liegen in der Zeit weit auseinander. Der erste Theil, zusammengerückt, ist ein durch geniales Erkennen hervorgerufenes heftiges Schwanken des Willens zwischen Lust und Unlust, während der erste Theil der aesthetischen Begeisterung der schmerzlose aesthetische Zustand ist. Ihr zweiter Theil dagegen ist kein heftiges Ausströmen des Willens, sondern der reine Herzensfriede. Dieser Herzensfriede ist einer Steigerung fähig, was sehr merkwürdig ist. Er kann sich nämlich, unter dem fortgesetzten Einfluß der klaren Erkenntniß (also nicht durch die Unlust einer Begierde), steigern zu:
1) dem moralischen Muth,
2) der moralischen Freude,
3) der moralischen Liebe.
Das Individuum, welches in der moralischen Begeisterung steht, sie sei nun eine vorübergehende oder anhaltende, sie sei auf dem reinen Boden des Staates, oder mit Hülfe des Glaubens, oder durch den Glauben allein entstanden, hat nur das eine Ziel im Auge, wo sein wirklicher oder vermeintlicher Vortheil liegt, und für alles Andere ist es todt. So stößt der Edle, der sich an der Mission seines Vaterlandes entzündet hat, Weib und Kind zurück mit den Worten: »bettelt, wenn ihr hungrig seid«; so bricht der Gerechte lieber am Wege zusammen und verhungert stumm, als daß er seine reine, lichte Seele mit Schlechtigkeit beflecke; so verläßt der Heilige seine Mutter, seine Schwestern und Brüder, ja, er verleugnet sie und spricht: »wer ist meine Mutter und meine Brüder?« denn alle |
i197 Bande, die ihn an die Welt gefesselt hielten, sind zerrissen, und nur sein ewiges Leben hält sein ganzes Wesen gefangen.
20.
Wir haben gesehen, daß eine moralische Handlung darin besteht, daß sie mit den Satzungen des Staates und des Christenthums übereinstimmt und gern geschieht, und haben dabei keinen Unterschied gemacht, ob sie aus einem ursprünglich guten, oder einem entzündeten Willen entspringt. Wir haben ferner gesehen, daß sich der Wille nur an der klaren Erkenntniß eines großen Vortheils entzünden kann. Dies ist sehr wichtig und muß festgehalten werden.
Es erhellt endlich aus dem Bisherigen, daß ein echter Christ, dessen Wille sich durch und durch an der Lehre des milden Heilands entzündet hat – also ein Heiliger – der denkbar glücklichste Mensch ist; denn sein Wille ist einem klaren Wasserspiegel zu vergleichen, der so tief liegt, daß ihn der stärkste Sturm nicht kräuseln kann. Er hat den vollen und ganzen inneren Frieden, den Nichts mehr auf dieser Welt, und wäre es das, was die Menschen als das größte Unglück ansehen, beunruhigen und trüben kann. Hierbei wollen wir auch bemerken, daß die Umwandlung zwar nur geschehen kann durch die klare Erkenntniß des großen Vortheils, daß aber, nachdem sie sich vollzogen hat, die Hoffnung auf das Himmelreich nach dem Tode ganz verschwinden kann, wie das Zeugniß »vergotteter« Menschen (wie die Mystiker sagen) deutlich beweist. Der Grund liegt zu Tage. Sie stehen in einer solchen inneren Freudigkeit, Ruhe und Unanfechtbarkeit, daß ihnen Alles gleichgültig wird: das Leben, der Tod und das Leben nach dem Tode. Sie haben an ihrem Zustand die Gewißheit, daß er gar nicht vergehen kann, und das Himmelreich, das in ihnen ist, schließt das Himmelreich, das erst kommen soll, vollkommen in sich. Sie leben unaussprechlich selig in der Gegenwart allein, d.h. im Gefühl beständiger innerer Unbeweglichkeit, wenn dies auch nur eine Täuschung ist; oder mit anderen Worten: der flüchtige Zustand der tiefsten aesthetischen Contemplation ist beim Heiligen permanent geworden, er dauert immer fort, weil Nichts in der Welt im Stande ist, den innersten Kern des Individuums zu bewegen. Und wie bei der aesthetischen Contemplation das Subjekt sowohl, als das Objekt, aus der Zeit herausgehoben sind, so lebt auch der Heilige zeitlos; |
i198 ihm ist unbeschreiblich wohl in dieser scheinbaren Ruhe, dieser dauernden inneren Unbeweglichkeit, ob sich gleich noch der äußere Mensch bewegen, empfinden und leiden muß. Und dieses Leben würde er nicht lassen:
ob er auch eines Engels Leben dafür haben möchte.
(Der Franckforter.)
Hier finde auch die Ekstase oder die intellectuelle Wonne einen Platz. Sie ist wesentlich von dem gleichmäßigen, ruhigen Frieden des Heiligen verschieden. Sie entspringt der heftigen Begierde, das Reich Gottes schon in dieser Welt zu sehen. Der Wille, durch Kasteiung und Einsamkeit in die furchtbarste Aufregung gebracht, concentrirt seine ganze Kraft in einem einzigen Organ. Er zieht sich aus dem peripherischen Nervensysteme zurück und flüchtet sich gleichsam in das Gehirn. Das Nervenleben wird dadurch auf die höchstmögliche Stufe getrieben, die Eindrücke der Sinne werden vollständig überwunden, und nun zeichnet der Geist in die Leere, wie im Schlafe, das, was der Wille so sehr zu erblicken verlangt. Aber während der Vision sind die Augen des Verzückten offen und sein Bewußtsein ist klarer und heller als je. In der Verzückung muß der Mensch die denkbar höchste Wonne empfinden, weshalb man den Zustand auch sehr treffend die intellectuelle Wonne genannt hat; aber wie theuer wird sie erkauft! Die Unlust vorher und die furchtbare Erschlaffung nachher machen sie zum kostspieligsten Genuß.
21.
Die immanente Philosophie muß den Zustand des Heiligen als den glücklichsten anerkennen; aber kann sie die Ethik schließen, nachdem sie das größte Glück des Menschen beleuchtet und gezeigt hat, wie auch ein schlechter Wille, trotzdem ihm das liberum arbitrium fehlt, seiner theilhaftig werden kann? Durchaus nicht. Denn wenn auch der echte Heilige:
in einer Freiheit steht, also daß er verloren hat Furcht der Pein oder der Hölle und Hoffnung des Lohns oder des Himmelreichs,
(Der Franckforter.)
so konnte sich doch nur sein Wille entzünden an dieser Hoffnung des Lohns oder des Himmelreichs, weil es ein Fundamentalsatz der immanenten Ethik ist, den die Erfahrung immer und immer bestätigt, daß der Mensch ohne Vortheil so wenig gegen seinen Charakter |
i199 handeln kann, wie das Wasser bergauf laufen kann ohne entsprechenden Druck.
Es ist also der Glaube eine conditio sine qua non des seligsten Zustands, während sich die immanente Philosophie nur vorübergehend, um die Ethik zu entwickeln, gleichsam ihr Gebiet abzustecken, auf den Boden des Christenthums stellen durfte. Das Resultat unserer bisherigen Forschungen ist demnach, daß wir wohl den glücklichsten Zustand des Menschen gefunden haben, aber unter einer Voraussetzung, die wir nicht anerkennen dürfen, und die Ethik kann nicht eher abgeschlossen werden, als bis wir untersucht haben, ob dieser selige Zustand auch aus einem immanenten Erkenntnißgrunde fließen kann, oder ob er schlechterdings Jedem, der nicht glauben kann, verschlossen ist, d.h. wir stehen vor dem wichtigsten Problem der Ethik. Gewöhnlich faßt man dasselbe in die Frage nach der wissenschaftlichen Grundlage der Moral, d.h. ob auch Moral begründet werden könne, ohne Dogmen, ohne die Annahme eines offenbarten göttlichen Willens. Hatte St. Johannes Recht, als er schrieb:
Wer ist aber, der die Welt überwindet, ohne der da glaubet, daß Jesus Gottes Sohn ist?
(1. Epist. 5, 5.)
22.
Die immanente Philosophie, welche keine anderen Quellen, als die offen vor den Augen Aller liegende Natur und unser Inneres anerkennen kann, verwirft die Annahme einer verborgenen einfachen Einheit in, über oder hinter der Welt. Sie kennt nur unzählige Ideen, d.h. individuelle Willen zum Leben, die, in ihrer Gesammtheit, eine fest in sich geschlossene Collectiv-Einheit bilden.
Wir erkennen mithin auf unserem jetzigen Standpunkte keine andere Autorität zunächst an, als die von den Menschen errichtete des Staates. Sie ist mit Nothwendigkeit in die Erscheinung getreten, weil der mit Vernunft begabte Wille, nach richtiger Erkenntniß des Wesens zweier Uebel, das kleinere wählen muß. Er kann nicht anders handeln; denn sehen wir einen Menschen von zwei Uebeln das größere wählen, so haben wir uns entweder in der Beurtheilung geirrt, weil wir uns nicht in die Individualität des Wählenden versenken konnten, oder er hat nicht erkannt, daß das gewählte Uebel das größere war. Hätte er in letzterem Falle unseren |
i200 Geist gehabt, der sich über die Wahl wundert, so hätte er nicht wählen können, wie er gewählt hat. Dieses Gesetz steht so fest wie das, daß jede Wirkung eine Ursache haben muß.
Der einsichtige Mensch kann nicht wollen, daß der Staat vernichtet werde. Wer dies aufrichtig will, der will nur eine vorübergehende Außerkraftsetzung der Gesetze, nämlich so lange, als er Zeit braucht, um sich eine günstige Situation zu verschaffen. Hat er diese erlangt, so will er mit derselben Inbrunst den Schutz der Gesetze, mit der er vorher deren Suspension wollte.
Der Staat ist also für die natürlichen Egoisten ein nothwendiges Uebel, welches sie ergreifen müssen, weil es das kleinere von zweien ist. Stießen sie es wieder um, so würden sie das größere dafür in Händen haben.
Der Staat verlangt nur Aufrechterhaltung des Staatsvertrags, strenge Erfüllung der eingegangenen Verpflichtung, nämlich die Gesetze zu achten und den Staat zu erhalten. Wir dürfen annehmen, daß so gut wie kein Mensch diese Pflichten gern erfüllt; denn selbst der Mensch mit einem guten Herzen wird nicht immer redlich gegen seine Mitmenschen handeln und meistens ungern dem Staate zahlen, sowie unwillig seiner Militärpflicht genügen, wenn ihn nicht unüberwindliche Neigung zum Soldatenstand zieht. Wir wollen indessen vorsichtig zugestehen, daß es Menschen giebt, die von Natur aus von unverbrüchlicher Redlichkeit sind und ihr Vaterland aufrichtig und von Herzen lieben. Sie geben Jedem das Seine gern und bringen gern dem Staate die Opfer, welche er zu seiner Erhaltung von ihnen fordern muß. Ihr Friede – ihr Glück – wird demnach durch alle diese Handlungen nicht gestört. Wir scheiden sie aus und beschäftigen uns jetzt mit jenen, welche nur aus Furcht vor Strafe und mit dem größten Widerwillen den Staatsgesetzen sich unterwerfen. Sie haben keinen Frieden in sich und sind unglücklich vor den Gesetzen. Ihr Charakter zieht sie nach dieser Richtung und die Gewalt nach jener. So werden sie hin- und hergezerrt und stehen Qualen aus. Fallen sie auf die Seite der Gewalt, so opfern sie mit grollendem Herzen; folgen sie dagegen ihrer Neigung, weil das angedrohte Uebel durch Reflexion (Wahrscheinlichkeit, nicht entdeckt zu werden) kraftlos wird, so schweben sie, nach vollbrachter That, in Furcht vor Entdeckung und werden ihres Gewinns nicht froh. Wird gar das Verbrechen entdeckt und trifft sie die Strafe, so quält |