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Analytik des Erkenntnißvermögens. 14 page

i176 gegenwärtigen Genuß zu entsagen, wird nach der That wieder laut und wirft ihm seine Unbesonnenheit vor. Sie sagt ihm: du hast gewußt, daß die Unterlassung in deinem wahren Interesse lag und hast die That dennoch gethan.

Die Gewissensbisse steigern sich zur Gewissensangst, entweder aus Furcht vor Entdeckung einer strafwürdigen Handlung, oder aus Furcht vor einer gewissen Strafe nach dem Tode.

Vom Gewissensbisse verschieden, aber sehr nahe mit ihm verwandt, ist die Reue; denn die Reue entsteht nur aus einem nachträglichen Wissen. Habe ich in der Uebereilung gehandelt, d.h. hatte mein Gewissen keine Zeit, mich zu warnen, oder handelte ich unter dem Einflusse eines Motivs, das ich für echt hielt, das sich aber hintennach als falsch erwies, oder setze ich überhaupt später, in Folge einer berichtigten Erkenntniß, mein Wohl in etwas ganz Anderes, als zur Zeit der That, so bereue ich Thaten, die in keiner Weise mein Gewissen belasten können; denn die Stimme, die in der Reue zu mir spricht, hat vor der That nicht gesprochen.

Gewissensbisse, Gewissensangst und Reue sind ethische Zustände des Willens und zwar der Unlust.

Hierher gehört auch die Hallucination. Von Gewissensbissen gefoltert, kommt der Dämon (objektiv ausgedrückt: das Blut) in eine so gewaltige Aufregung, daß er den Geist zwingt, immer nur mit Einem Gegenstand sich zu beschäftigen, wodurch, und durch die erhöhte Actuirung des Gehirnlebens, die Eindrücke der Außenwelt unterdrückt werden und nun der Ermordete z.B. deutlich und rein objektiv aus der Dunkelheit hervortritt und sich vor den entsetzensvollen Dämon stellt.

 

9.

Es möchte nun scheinen, daß der Mensch das liberum arbitrium indifferentiae habe, d.h. daß sein Wille frei sei, weil er, wie wir gesehen haben, Thaten ausführen kann, die durchaus nicht seinem Charakter gemäß, vielmehr seiner Natur gänzlich zuwider sind. Dies ist aber nicht der Fall: der Wille ist niemals frei und Alles in der Welt geschieht mit Nothwendigkeit.

Jeder Mensch hat zur Zeit, wo ein Motiv an ihn herantritt, einen bestimmten Charakter, der, ist das Motiv zureichend, handeln muß. Das Motiv tritt mit Nothwendigkeit auf (denn jedes Motiv |

i177 ist immer das Glied einer Causalreihe, welche die Nothwendigkeit beherrscht), und der Charakter muß ihm mit Nothwendigkeit folgen, denn er ist ein bestimmter und das Motiv ist zureichend.

Nun setze ich den Fall: das Motiv sei zureichend für meinen Charakter, aber unzureichend für mein ganzes Ich, weil mein Geist mein allgemeines Wohl, als Gegenmotiv, aufstellt und dieses stärker als jenes ist. Habe ich nun frei gehandelt, weil ich einem für meinen Charakter zureichenden Motiv nicht nachgab? In keiner Weise! Denn mein Geist ist von Natur ein bestimmter und seine Ausbildung, nach irgend einer Richtung hin, geschah mit Nothwendigkeit, weil ich zu dieser Familie gehöre, in dieser Stadt geboren wurde, diese Lehrer hatte, diesen Umgang pflegte, diese bestimmten Erfahrungen machte u.s.w. Daß dieser mit Nothwendigkeit gewordene Geist mir, im Moment der Versuchung, ein Gegenmotiv geben kann, das stärker ist als alle anderen, durchbricht die Nothwendigkeit durchaus nicht. Auch die Katze handelt gegen ihren Charakter, unter dem Einflusse eines Gegenmotivs, wenn sie in Gegenwart der Köchin nicht nascht, und doch hat noch Niemand einem Thiere den freien Willen zugesprochen.



Ich deute ferner schon jetzt an, daß der Wille, durch Erkenntniß seines wahren Wohls, so weit gebracht werden kann, daß er seinen innersten Kern verneint und das Leben nicht mehr will, d.h. sich in vollen Widerspruch mit sich selbst setzt. Aber, wenn er dies thut, handelt er frei? Nein! Denn alsdann ist die Erkenntniß mit Nothwendigkeit in ihm aufgegangen und mit Nothwendigkeit muß er ihr folgen. Er kann nicht anders, so wenig als das Wasser bergauf fließen kann.

Wenn wir demnach einen Menschen nicht seinem bekannten Charakter gemäß handeln sehen, so stehen wir dennoch vor einer Handlung, die ebenso nothwendig eintreten mußte, wie die eines anderen Menschen, der nur seiner Neigung folgte; denn im ersteren Falle entstand sie aus einem bestimmten Willen und einem bestimmten deliberationsfähigen Geiste, welche beide mit Nothwendigkeit zusammen wirkten. Aus der Deliberationsfähigkeit des Geistes auf die Freiheit des Willens zu schließen, ist der größte Fehlschluß, der gemacht werden kann.

Wir haben es in der Welt immer nur mit nothwendigen Bewegungen des individuellen Willens zu thun, es seien nun einfache |

i178 oder resultirende Bewegungen. Nicht weil der Wille im Menschen mit einem deliberationsfähigen Geiste verbunden ist, ist er frei, sondern er hat nur aus diesem Grunde eine andere Bewegung als das Thier. Und hier liegt auch der Schwerpunkt der ganzen Untersuchung. Die Pflanze hat eine andere Bewegung als ein Gas oder eine Flüssigkeit oder ein fester Körper, das Thier eine andere als die Pflanze, der Mensch eine andere als das Thier. Das letztere ist der Fall, weil sich im Menschen die einseitige Vernunft zu einer vollkommenen weitergebildet hat. Durch dieses neue, aus dem Willen geborene Werkzeug übersieht der Mensch die Vergangenheit und blickt dem Zukünftigen entgegen: nun kann ihn, in jedem gegebenen Fall, sein Wohl im Allgemeinen bewegen, auf einen Genuß zu verzichten oder ein Leid zu erdulden, d.h. zu Thaten zwingen, welche seinem Willen nicht gemäß sind. Der Wille ist nicht frei geworden, aber er hat einen außerordentlich großen Gewinn gemacht: er hat eine neue Bewegung erlangt, eine Bewegung, deren große Bedeutung wir weiter unten voll erkennen werden.

Der Mensch ist also nie frei, ob er gleich ein Princip in sich trägt, das ihn befähigen kann, gegen seinen Charakter zu handeln; denn dieses Princip ist mit Nothwendigkeit geworden, gehört mit Nothwendigkeit zu seinem Wesen, da es ein Theil der ihm inhärirenden Bewegung ist, und wirkt mit Nothwendigkeit.

 

10.

Im Bisherigen haben wir von den Handlungen der Menschen im Allgemeinen gesprochen und gefunden:

1) daß der Wille des Menschen nicht frei ist;

2) daß alle seine Handlungen mit Nothwendigkeit geschehen;

3) daß er sich, auf Grund des Glückseligkeitstriebes und vermöge des Geistes, ein allgemeines Wohl bilden kann;

4) daß dieses Wohl ihn, unter Umständen, veranlassen kann, gegen seinen Charakter zu handeln.

Diese Resultate stehen gleichsam in der Vorhalle der Ethik. Jetzt betreten wir ihren Tempel, d.h. wir haben die Handlungen des in bestimmten Verhältnissen und Formen sich bewegenden Menschen zu prüfen und sein Glück zu untersuchen.

Das erste Verhältniß, dem wir begegnen, ist der Naturzustand. Wir haben denselben in der Ethik nur einfach zu definiren als |

i179 Negation des Staates, oder als diejenige Lebensform der Menschen, die dem Staate vorhergegangen ist.

Betrachten wir nun den Menschen unabhängig vom Staate, frei von dessen Gewalt, d.h. lediglich als einen Theil der Natur, wie jeden anderen individuellen Willen, so steht er unter keiner anderen Gewalt, als der der Natur. Er ist eine in sich geschlossene Individualität, die, wie jedes andere Individuum, es sei chemische Kraft, Pflanze oder Thier, das Leben in einer ganz bestimmten Weise will und unablässig strebt, sich im Dasein zu erhalten. In diesem Streben wird sie jedoch von sämmtlichen anderen Individuen beschränkt, die das gleiche Streben haben.

Hierdurch entsteht der Kampf um’s Dasein, aus welchem der Stärkste oder Listigste als Sieger hervorgeht. Jeder Mensch kämpft ihn, um sich im Dasein zu erhalten: dies ist sein ganzes Streben, und keine Stimme, weder aus der Höhe, noch aus der Tiefe, noch in ihm, beschränkt ihn in den Mitteln, die ihm dienen können. Alles ist seinem Egoismus gestattet, alle Handlungen, die wir im Staate Mord, Raub, Diebstahl, Lug, Trug, Schändung u.s.w. nennen; denn welcher anderen Macht steht er im Naturzustande gegenüber, als individuellen Willen, gleich ihm, die sich, wie er, im Dasein erhalten wollen?

Weder begeht er ein Unrecht in diesem Kampfe, noch hat er ein Recht: nur die Macht entscheidet oder die List. Er hat weder ein Recht auf sich selbst oder auf irgend ein Besitzthum, noch hat er ein Recht auf andere Wesen oder deren Besitzthum. Er ist einfach und sucht sich im Dasein zu erhalten. Kann er dies nur thun durch Mord und Raub, so mordet und raubt er ohne Unrecht zu thun, und kann er sich oder sein Besitzthum nicht vertheidigen, so wird er, ohne daß ihm Unrecht geschehe, beraubt und vernichtet; denn wer sollte ihn hindern? wer sollte die Anderen hindern? Ein gewaltiger, irdischer Richter? Es giebt im Naturzustand keinen Richter. Ein Gottesbewußtsein? Der Mensch hat im Naturzustand kein Gottesbewußtsein, so wenig wie das Thier.

Recht und Unrecht sind Begriffe, die im Naturzustand ohne irgend eine Bedeutung sind: sie haben nur im Staate einen Sinn, auf den wir jetzt übergehen wollen.

i180

11.

Jede Handlung des Menschen, die höchste wie die niedrigste, ist egoistisch; denn sie fließt aus einer bestimmten Individualität, einem bestimmten Ich, bei zureichendem Motiv, und kann in keiner Weise unterbleiben. Auf den Grund der Verschiedenheit der Charaktere einzugehen, ist hier nicht der Ort; wir haben sie einfach als Thatsache hinzunehmen. Es ist nun dem Barmherzigen ebenso unmöglich, seinen Nächsten darben zu lassen, wie dem Hartherzigen, dem Dürftigen beizuspringen. Jeder von Beiden handelt seinem Charakter, seiner Natur, seinem Ich, seinem Glück gemäß, folglich egoistisch; denn wenn der Barmherzige die Thränen Anderer nicht trocknete, wäre er glücklich? Und wenn der Hartherzige die Leiden Anderer linderte, wäre er befriedigt?

In der Folge wird die unumstößliche Wahrheit, daß jede Handlung egoistisch ist, ganz deutlich hervortreten. Ich habe sie an dieser Stelle erwähnt, da wir sie von jetzt an nicht mehr entbehren können.

Im Naturzustand ist der Kräftigste oder Listigste gewöhnlich der Sieger, der Schwache oder Dumme gewöhnlich der Besiegte. Es können aber auch Fälle vorkommen, wo der Kräftigste überwunden und der Listigste überlistet wird; denn wer schützt den Starken im Schlaf? oder wenn er alt oder krank ist? oder wie soll er siegen, wenn er von verbundenen Schwachen angegriffen wird? Diese leicht verschiebbaren Machtverhältnisse im Naturzustand mußten Alle, die Schwachen sowohl, als auch die Starken, zur Erkenntniß führen, daß eine gegenseitige Beschränkung der Macht im Interesse eines Jeden liege.

Es ist hier nicht meine Aufgabe, zu untersuchen, wie der Uebergang aus dem Naturzustand in den Staat stattfand, ob auf rein dämonischen Antrieb, oder durch vernünftige Wahl des kleineren von zwei Uebeln. Wir nehmen in der Ethik an, daß der Staat ein Werk der Vernunft ist und auf einem Vertrag beruht, den die Menschen widerwillig abgeschlossen haben: aus Noth, um einem größeren Uebel, als das der Beschränkung ihrer individuellen Macht war, vorzubeugen.

Der Grundcharakter des ächten Staates, auch in seiner unvollkommensten Form, ist, daß er seinen Bürgern mehr giebt als er |

i181 ihnen nimmt, daß er ihnen, Alles in Allem, einen Vortheil gewährt, der das Opfer überwiegt; denn wäre der Vortheil so groß wie das Opfer gewesen, so würde nie der Staat entstanden sein.

Es traten also Menschen, geleitet von der Erkenntniß, daß ein sicheres Leben im Naturzustand unmöglich, daß ein unsicheres Leben ein in der Einrichtung der Natur begründetes, auf gewöhnlichem Wege nicht zu zerstörendes Uebel sei, zusammen und sagten: »wir sind alle gewaltthätige Menschen; Jeder ist in seinem Egoismus eingeschlossen und betrachtet sich als die einzige Realität in der Welt; wo wir den Anderen zu unserem Vortheil schaden können, thun wir es; aber unser Wohl wird dadurch nicht gefördert. Wir müssen schlafen, wir müssen uns von unserer Hütte entfernen, weil wir sonst verhungern, wir können krank werden, und unsere Kraft schwindet im Alter dahin. Unsere Macht ist also bald groß, bald klein, und alle Vortheile, die wir uns erringen, wenn sie groß ist, zerfließen in einer Minute, wenn sie klein ist. Wir werden unserer Habe niemals froh, weil sie nicht gesichert ist. Was hilft uns demnach die Befriedigung unserer Begierden, wenn wir, Alles in Allem genommen, nur dadurch verlieren? Wir wollen also fortan die Habe eines Jeden von uns unangefochten lassen.« Und jetzt erst entstand der Begriff Diebstahl, der im Naturzustand gar nicht möglich war, denn er steht und fällt mit einem garantirten Besitz.

Sie sagten ferner: »Wir sind Alle gewaltthätige Menschen; wenn sich Einer zwischen uns und unseren Vortheil stellt, so sinnen wir nur darauf, wie wir ihn vernichten können, und trachten ihm nach dem Leben. Aber unsere Stärke oder List ist nicht immer die gleiche. Heute können wir siegen und morgen besiegt sein. Wir können somit unseres Lebens nie froh werden, weil wir beständig in Lebensgefahr schweben. Wir wollen also noch einen Theil unserer Macht opfern, damit unser Wohl im Ganzen wachse, und wir erklären: fortan soll das Leben eines Jeden von uns gesichert sein.« Und jetzt erst entstand der Begriff Mord, denn er bezeichnet die Vernichtung eines garantirten Lebens.

Auf diese Weise beschränkten sich die Menschen durch die Urgesetze:

1) keiner darf stehlen;

2) keiner darf morden.

i182 Es wurde also ein Vertrag abgeschlossen, der Staatsvertrag, und nun hatte Jeder, der ihn abschloß, Pflichten und Rechte, die er im reinen Naturzustand nicht haben konnte, denn sie stehen und fallen mit einem Vertrag. Jeder hatte jetzt die Pflicht, das Leben und das Besitzthum aller Anderen unangetastet zu lassen, und dafür hatte er ein Recht auf sein Besitzthum und sein Leben. Dieses Recht wurde verletzt, wenn er bestohlen und in seinem Leben bedroht wurde, und es geschah ihm dadurch Unrecht, was im Naturzustand ganz unmöglich war.

Die unmittelbare Folge dieser Gesetze war, daß jeder Einzelne die abgetretene Macht in die Hand eines Richters legte und so eine Gewalt geschaffen wurde, die größer war als die des Einzelnen. Jetzt konnte Jeder gezwungen werden, Recht zu thun, denn der Gesetzesübertretung folgte die Strafe, welche nichts Anderes ist, als ein Gegenmotiv für eine verbotene mögliche Handlung. Indem sie vollstreckt wird, wird das Gesetz lediglich in Wirksamkeit erhalten.

Wird im Staate ein Individuum in seinem Besitz oder Leben bedroht, soll ihm ein Unrecht geschehen, das der Staat, im Augenblick der Gefahr, nicht von ihm abhalten kann, so tritt es, dem Gesetzesübertreter gegenüber, in den Zustand der Nothwehr. Der Gesetzesübertreter hat sich willkürlich in den Naturzustand versetzt, und das angegriffene Individuum darf ihm dahin folgen. Nun sind diesem alle Mittel, wie im Naturzustand, erlaubt, und es kann den Angreifer mit Gewalt oder List, mit Lug und Trug vertreiben und ihn auch tödten, ohne Unrecht zu thun, wenn sein eigenes Leben bedroht ist.

Der Staat ist also diejenige Einrichtung, welche die Individualität des Einzelnen, sie möge noch so sehr erweitert sein (Weib, Kind, Besitz) beschützt und dagegen von ihm verlangt, die Individualität aller Anderen unangetastet zu lassen. Er verlangt mithin zunächst von jedem Bürger als erste Pflicht: Unterwerfung unter das Gesetz, Gehorsam. Dann verlangt er die Gewährung der Mittel, um sein schützendes Amt ausüben zu können, sei es gegen Gesetzesübertreter, sei es gegen äußere Feinde, also Opfer an Gut und Blut oder allgemein ausgedrückt, als zweite Pflicht: Schutz des Staates.

i183

12.

Durch die Urgesetze des Staates ist das Wissen des Menschen vergrößert worden. Er weiß jetzt, daß er Handlungen unterlassen muß, wenn er nicht sein allgemeines Wohl auf’s Spiel setzen will, und sein Geist hält ihm, in Momenten der Versuchung, die angedrohte Strafe als Gegenmotiv vor.

Prüfen wir nun zuerst das allgemeine Wohl des Menschen im Staate, – wir fassen den Staat hier in seiner Urform, als reine Zwangsanstalt mit den gedachten Gesetzen, auf, – so kann es nicht zweifelhaft sein, daß es viel größer ist als im Naturzustand; denn der Mensch ist jetzt herausgenommen aus der beständigen Sorge um Besitz und Leben. Beides ist ihm von einer Gewalt garantirt, die ihrer Verpflichtung faktisch nachkommen kann:

Und über jedem Hause, jedem Thron

Schwebt der Vertrag wie eine Cherubswaffe.

(Schiller.)

Aber wie steht es mit dem Glück des Menschen?

Hier ist nun der Ort, etwas näher auf das Glück überhaupt einzugehen. Der Wille ist, wie wir wissen, in unaufhörlicher Bewegung begriffen, weil er das Leben continuirlich will. Hörte er auch nur für einen Augenblick auf, es zu wollen, so würde er todt sein. Dieses Grund wollen ist objektivirt im Blutleben, das unabhängig ist von unserer Willkür, welche ein Wollen ist, das sich zusammensetzt aus Sensibilität, Irritabilität und Blutaction. Der Dämon, der ächte Wille zum Leben, ist zunächst befriedigt, wenn er das Leben überhaupt hat, und dann tritt er, wenn wir die Aufmerksamkeit nicht auf ihn lenken, nur schwach in’s Bewußtsein. Aber, wie wir gesehen haben, will der Mensch in zweiter Linie ein erhöhtes Leben: er will, mit Hülfe des Geistes, ein gesteigertes Lebensgefühl, und dadurch wird der Wille zum Leben zur Begierde nach Leben, zur Begierde nach einer bestimmten Lebensform. Jede Begierde nun ist im Grunde ein Mangel, denn so lange sie währt, besitzt sie nicht das, was sie begehrt. Sie ist deshalb ein lebhaftes Gefühl der Unlust. Wird sie aber befriedigt, so äußert sich die Befriedigung gleichfalls als ein erhöhtes Lebensgefühl, und zwar als Genuß, d.h. als ein lebhaftes Gefühl der Lust. Hierdurch findet eine Ausgleichung statt.

i184 Jedes lebhafte Gefühl der Lust muß also mit einem lebhaften Gefühl der Unlust erkauft werden, und, im Grunde genommen, hat der Wille bei einem jeden solcher Käufe Nichts gewonnen. Ja, da die Begierde viel länger anhält als das Gefühl ihrer Befriedigung, so ist der Wille sogar allemale, wenn er seinen Frieden unterbricht, um sich durch Begierde einen Genuß zu verschaffen, betrogen.

Glücklich ist demnach der Mensch im normalen Zustande, den wir in der Physik näher bestimmt haben, und in den erregteren Zuständen der Lust. Das Merkmal des Glücks ist also immer die Befriedigung des Herzens. Wir sind glücklich, wenn der glatte Spiegel des Herzens nicht bewegt wird, und wir sind auch glücklich während der Stillung der Begierde.

Aus dieser Bestimmung des Glücks fließt die des Unglücks von selbst. Unglücklich sind wir in den Zuständen der Unlust. Es möchte allerdings scheinen, daß wir in der Begierde nicht unglücklich sein können, daß in der lebhaften Bewegung nach dem Ziele schon ein großer Genuß liege. Aber dies ist nicht der Fall; denn empfinden wir in der Begierde schon Lust, so escomptiren wir, wie der Kaufmann sagen würde, die Befriedigung, und dieses Schwanken zwischen Begierde und vorausempfundener Stillung versetzt uns in einen gemischten Zustand, der uns den reinen Mangel nicht fühlen läßt. Tritt alsdann die Befriedigung ein, so ist sie auch wesentlich schwächer.

Unglücklich sind wir ferner dann, und zwar sehr unglücklich, wenn wir, mit Rücksicht auf unser allgemeines Wohl, eine Begierde hemmen und unterdrücken oder ein Uebel ertragen, kurz, wenn wir gegen unseren Charakter handeln müssen.

Jetzt können wir uns wieder vor die Frage stellen: Ist der Mensch glücklicher im Staate als im Naturzustand? Wir können dieselbe jedoch nicht in der Ethik beantworten, denn hierzu wäre vor Allem erfordert, daß der Entwicklungsgang der Menschheit klar vor uns läge. Wir werden in der Politik die Frage erledigen und begnügen uns hier mit der einfachen Untersuchung, ob der Mensch den obigen Staatsgesetzen gegenüber glücklich ist.

Hier springt sofort in die Augen, daß das nicht der Fall sein kann. Seinem Charakter nach möchte der Mensch wohl für sich die Wohlthaten des gesetzlichen Zustands, die Lasten jedoch verabscheut er und trägt sie mit großem Widerwillen. Er befindet sich |

i185 unter dem Zwang eines stärkeren Motivs, gerade so wie im Naturzustand, als er dem stärkeren Gegner aus dem Wege ging; er fühlt sich gebunden und durchaus nicht befriedigt. Wird er beleidigt, so möchte er sich maßlos rächen; beleidigt er dagegen, so möchte er sich unter den Schutz der Obrigkeit stellen können. Ferner, will er einen Richter haben, der ihm in Streitigkeiten sein gutes Recht zuspricht, ingleichen will er seine Habe und sein Leben geschützt wissen vor der Begierde fremder Macht, dagegen hält er die Hand krampfhaft auf sein Geld, wenn er den Richter bezahlen soll, und sträubt sich mit aller Macht dagegen, sein Vaterland mit der Waffe zu vertheidigen. So sinnt er beständig, wie er das Gesetz, ohne Strafe zu empfangen, umgehen, wie er die Lasten auf andere Schultern abwälzen und dabei die Vortheile der Gemeinschaft genießen kann. Sein allgemeines Wohl ist durch die Gesetze gewachsen, aber vor den Gesetzen fühlt er sich unglücklich.

 

13.

Der Staat, in der gedachten Form, bindet den Einzelnen nicht mehr, als er sich selbst durch den Vertrag gebunden hat. Er verlangt nur von ihm, daß er das Gemeinwesen beschützen helfe und seine Mitbürger nicht verletze. Er straft ihn, wenn er einen Bürger bestiehlt oder ermordet, er straft ihn dagegen nicht, wenn er einen Bürger, ohne das Gesetz zu verletzen, aussaugt, brodlos macht und verhungern läßt.

Es hat aber in dem nothwendigen Entwicklungsgang der Menschheit gelegen, daß der Mensch, aus dem Naturzustand heraustretend, noch weiter beschränkt, daß sein natürlicher Egoismus noch mehr gebunden werde, als der Staat zu thun vermochte. Die Gewalt, der diese Aufgabe zufiel, war die Religion.

Als sich der Thier-Mensch zum Menschen auf der untersten Stufe dadurch entwickelt hatte, daß die höheren Geistesvermögen das Vergangene mit dem Gegenwärtigen und dieses mit dem Zukünftigen verbanden, sah sich das Individuum hülflos in der Hand einer feindlichen Macht, die seine Habe und sein Leben jederzeit vernichten konnte. Der Mensch erkannte, daß weder er, noch der Verband, gegen diese Allmacht irgend etwas auszurichten im Stande war, und sank vor ihr, trostlos und im Gefühle vollständiger Ohnmacht, in den Staub. So entstand in den rohen Urmenschen die erste Beziehung zu einer unfaßbaren überweltlichen Gewalt, die sich in der |

i186 Natur furchtbar, vernichtend und verwüstend, offenbaren konnte, und sie bildeten sich Götter. Sie konnten gar nicht anders handeln, denn einerseits war die Uebermacht nicht wegzuleugnen, andererseits ihre Intelligenz so schwach, daß sie die Natur und ihren wahren Zusammenhang in keiner Weise begreifen konnten.

Es ist hier nicht der Ort, den Entwicklungsgang der Religion zu verfolgen. Wir werden ihm in der Politik näher treten, und stellen uns jetzt sofort an sein Ende, nämlich auf den Boden der christlichen Religion, welche als die vollkommenste und beste von jedem Einsichtigen anerkannt werden muß. Sie lehrt einen allweisen, allgütigen, allmächtigen und allwissenden außerweltlichen Gott und verkündigt seinen Willen. Sie bestätigt zunächst die Gesetze des Staates, indem sie dem Menschen im Namen Gottes gebietet: du sollst der Obrigkeit unterthan sein. Dann sagt sie: du sollst aber nicht nur die Gesetze nicht verletzen, also nicht stehlen, ehebrechen, nothzüchtigen, morden, sondern auch deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

Unerhörte Forderung! Der kalte, rohe Egoist, dessen Wahlspruch ist: Pereat mundus, dum ego salvus sim, soll seinen Nächsten lieben wie sich selbst. Wie sich selbst! O, er weiß ganz genau, was das bedeutet; er kennt die ganze Schwere des Opfers, das er bringen soll. Er soll sich vergessen, um verhaßter Wesen willen, denen er durchaus keine Berechtigung zu existiren zugestehen kann. Er kann sich nicht mit der Zumuthung aussöhnen und windet sich wie ein Wurm. Er lehnt sich gegen dieses Gebot mit seiner ganzen, unmittelbar erfaßten Individualität auf und beschwört die Priester, nicht das Unmögliche von ihm zu verlangen. Aber sie müssen immer wiederholen: du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

Wir nehmen hier, selbstverständlich nur vorübergehend, an, daß alle Menschen auf den Grundlagen des Christenthums stehen. Sie glauben an Gott, an die Unsterblichkeit ihrer Seele und an ein Gericht nach dem Tode. Jede Verletzung der Staatsgesetze, wie jede Uebertretung der Gebote Gottes, ist eine Sünde und keine entgeht dem allwissenden Gott. Und jede Sünde wird bestraft und jede gesetzliche Handlung wird belohnt. Sie glauben an ein Himmelreich, die Wohnung der Seligen, und an eine Hölle, die Wohnung der Verdammten.

i187

14.

Die christliche Religion bleibt aber bei dem Gebot der Nächstenliebe nicht stehen. Sie giebt zunächst diesem Gebote eine Verschärfung dadurch, daß sie vom Menschen verlangt, er solle seine Nächsten ohne Ausnahme, auch seine Feinde lieben.

Denn so ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben?

Und so ihr euch nur zu euern Brüdern freundlich thut, was thut ihr Sonderliches?

Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, thut wohl denen, die euch hassen.

(Matth. 5.)

Dann fordert sie Armuth und Mäßigkeit in jedem erlaubten Genuß. Sie fordert nicht die Unterdrückung des Geschlechtstriebes, aber der Virginität verspricht sie die höchste Belohnung: den unmittelbaren Eingang in das Reich Gottes.

Es ist klar, daß durch diese Gebote der natürliche Egoismus des Gläubigen ganz gebunden ist. Die Religion hat sich des ganzen Theils bemächtigt, den der Staat übrig ließ, und hat ihn gefesselt. Jetzt ist die Stimme des Gewissens viel lästiger. Der Mensch kann so gut wie keine Handlung mehr thun, ohne daß das Gewissen vorher spricht. Er muß jetzt sämmtliche Handlungen unterlassen, die aus seinem Charakter fließen möchten, wenn er nicht sein allgemeines Wohl gefährden will; denn dem Auge Gottes entgeht Nichts. Menschen kann er täuschen, die Obrigkeit kann er täuschen, aber vor Gott hat seine Kunst ein Ende.

In the corrupted currents of this world,

Offence’s gilded hand may shove by justice,

And oft ’t is seen, the wicked prize itself

Buys out the law, but ’t, is not so above:

There is no shuffling, there the action lies

In his true nature. (Shakespeare.)

(In den verderbten Strömen dieser Welt

Kann die vergold’te Hand der Missethat

Das Recht wegstoßen, und ein schnöder Beutel

Erkauft oft das Gesetz. Nicht so dort oben!

Da gilt kein Kunstgriff, da erscheint die Handlung

In ihrer wahren Art.)

i188 Es ist auch kein Entrinnen möglich. Der Tod muß kommen, und dann beginnt entweder ein ewiges Leben der Seligkeit, oder ein solches der Qual. Ein ewiges Leben! Was ist, gegen die Ewigkeit gehalten, die kurze Zeit des Lebens? Ewig selig sein; ewig leiden müssen! Und das Himmelreich wird geglaubt und die Hölle wird geglaubt: da liegt der Schwerpunkt.

Das echte Wohl des Menschen kann mithin nicht auf dieser Erde sein. Es liegt in einem ewigen Leben voll Seligkeit nach dem Tode, und ob auch das innerste Wesen des klugen Menschen sich auflehnt gegen die Gebote der Religion, – sie werden dennoch befolgt: der Hartherzige hilft seinem Nächsten, der Geizige giebt den Armen, es wird ja dereinst Alles hundertfältig und tausendfältig vergolten werden.

Lebt also der natürliche Egoist nach den Geboten der Religion, so ist keinem Zweifel unterworfen, daß sein Wohl, Alles in Allem erwogen, gewachsen ist; denn er glaubt an die Unsterblichkeit seiner Seele und hat an das ewige Leben zu denken. Aber ist er glücklich? In keiner Weise! Er hadert mit Gott: »warum kann ich nicht selig werden, ohne meine Triebe gebändigt zu haben? warum kann ich nicht hier und dort glücklich sein? Warum muß ich mir das selige Leben, jenseit des Grabes, so theuer erkaufen?« Er erfaßt zwar das kleinere Uebel, er erkauft sich das größere Wohl, aber mit grollendem, mit zerrissenem Herzen. Er ist unglücklich auf Erden, um nach dem Tode glücklich zu sein.


Date: 2014-12-29; view: 412


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