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Analytik des Erkenntnißvermögens. 13 page

Die realistische Epik dagegen führt alle Charaktere ohne Ausnahme vor: Weise und Narren, Böse und Gute, Gerechte und Ungerechte, leidenschaftliche und passive Naturen, und der realistische Epiker wird jeder Individualität gerecht.

Am vollkommensten spiegelt sich der Mensch im Drama. In diesem reden und handeln die Personen selbst und entschleiern ihre verstecktesten Charakterzüge. Nicht wie gedacht, empfunden und gehandelt werden soll, sondern wie thatsächlich in der Welt gehandelt, empfunden und gedacht wird, – das soll das gute Drama zeigen: den Triumph des Bösewichts und den Fall des Gerechten; die Reibung der Individuen, ihre Noth, ihre Qual und ihr vermeintliches Glück; den Gang des allgemeinen Schicksals, das sich aus den Handlungen aller Individuen erzeugt, und den Gang des Einzelschicksals, das sich bildet aus dem Zufall einerseits und den Trieben des Dämons andererseits. Shakespeare wird für alle Zeiten der größte realistische Dramatiker bleiben.

Der ideale Dramatiker dagegen wählt sich diejenigen Personen aus, welche vom Ideal der schönen Seele nicht allzu weit entfernt sind. Er zeigt sie uns in der Ruhe und in der Bewegung, schuld|voll

i162 und unschuldig, aber immer verklärt, nicht leblos oder unsinnig rasend, nicht excentrisch und ausschweifend. Unter den älteren Dramatikern hat namentlich Sophokles uns solche Menschen vorgeführt. Unter den jüngeren idealen Dramatikern ist unser großer Goethe allein zu nennen. Man kann den Tasso und die Iphigenie nicht lesen, ohne die tiefste Befriedigung zu empfinden. Die Prinzessin und Iphigenie sind die wahren und echten Urbilder der schönen Seele. Und wie wußte der Dichter, innerhalb der Grenzen der idealen Poesie, die anderen Charaktere so klar von einander abzuheben. Wo der Eine oder der Andere, wie Tasso oder Orest, ausschreiten wollte, da hielt er das magische Geflecht der Schönheit über die Flamme und sie trat zurück. –

Es ist klar, daß die Gesetze des Subjektiv-Schönen für den realistischen Dichter sowohl, als für den idealen gelten; sie sind verbindlich für beide und können nicht verletzt werden.

Im Gefolge der Poesie finden wir die Deklamations- und Schauspielkunst, welche den Werken der Dichtkunst ein erhöhtes Leben einhauchen und ihren Eindruck wesentlich verstärken.

 

32.

Wie wir gesehen haben, zeigt uns die Dichtkunst die Idee des Menschen einerseits als Ding an sich vollständig und andererseits als Objekt, indem sie das Subjekt, durch treffende Beschreibung, zwingt, ein Bild von ihr zu entwerfen, und sagte ich deshalb, daß sie die ganze Idee spiegele, das Innere und Aeußere; außerdem zieht sie durch Schilderung die sämmtlichen anderen Ideen in ihren Bereich, und sagte ich deshalb, daß sie die ganze Natur abspiegele und die höchste Kunst genannt werden müsse. Die Musik nun hat es nur mit dem Menschen zu thun, sämmtliche anderen Ideen sind ihr fremd, und zwar behandelt sie nur das Innere des Menschen und davon nur die Zustände. Sie ist demnach eine wesentlich unvollkommenere Kunst als die Poesie. Aber da ihr Material der Ton ist, nicht das tönende Wort, so redet sie eine für Alle verständliche Sprache und ist diejenige Kunst, welche uns am leichtesten in den aesthetischen Zustand versetzt, weshalb sie die mächtigste Kunst genannt werden muß.



Wir haben oben erkannt, daß die Töne nichts weiter sind, als die hörbar gewordenen inneren Bewegungen des Menschen oder Fort|setzungen

i163 der inneren Vibrationen in einem fremden Stoffe. Jedoch muß man wohl merken, daß der Ton nicht identisch mit der Gemüthsbewegung, sondern Objekt ist, ebenso wie die Farbe eines Objekts nicht mit der Beschaffenheit des Dinges an sich, die sie verursacht, identisch ist.

Der seelenbestrickende Zauber des menschlichen Gesanges besteht nun darin, daß die Töne den Willen des Zuhörers in denselben Zustand, aus dem sie entsprungen sind, versetzen, aber so, daß wir trauern und doch nicht trauern, jubeln und doch nicht jubeln, hassen und doch nicht hassen, lieben und doch nicht lieben, und ist dies nicht anders zu erklären, als daß die Töne uns nur theilweise die eigene Bewegung nehmen und uns die ihrige dafür geben. Wir verwandeln gleichsam nur an der Oberfläche unsere Bewegung, wie das Meer im heftigsten Sturme in der Tiefe ruhig ist. Dieselbe Wirkung üben auch die Töne von Instrumenten auf uns aus, wenn ihnen der Künstler, so zu sagen, seine Seele, seinen Willenszustand, eingehaucht hat, denn sonst ist ihre Wirkung mehr eine mechanische und erwärmt nicht.

 

33.

Das Material des Tonkünstlers ist also der Ton. Der Ton erklingt und verklingt. Er hat demnach eine Dauer, und man unterscheidet ganze, halbe, Viertel-, Achtel- etc. Töne. Das Formal-Schöne der Zeit zeigt sich nun im Rhythmus, der den Takt, den Accent, die Pause und das Tempo verbundener Töne umfaßt. Der Takt ist die regelmäßige Wiederkehr eines Zeitabschnittes, in dem sich ein Ton oder mehrere, die, zusammengefaßt, die Dauer des einen Tones haben, bewegen. Um die regelmäßige Wiederkehr deutlich zu markiren, bedient man sich des Accents, d.h. es wird immer der erste Ton eines Taktes hervorgehoben. Die ganze Bewegung verbundener Töne kann eine langsame, schnelle, gedehnte, schleppende, feurige u.s.w. sein und heißt Tempo.

Von der mächtigen Wirkung des Rhythmus allein überzeugt am besten der Trommelschlag.

Das Formal-Schöne der Substanz zeigt sich im reinen Klang des Tons, in den Klangfarben und in der Harmonie.

Die Höhe und Tiefe der Töne wurzelt in der Anzahl ihrer Schwingungen. Das eingestrichene c macht doppelt so viele Schwin|gungen

i164 als das c der kleinen Octave, die Sekunde 9/8, die Terz 5/4, die Quarte 4/3, die Quinte 3/2, die Sexte 5/3, die Septime 15/8mal so viele, oder in einfachen Zahlen ausgedrückt, macht

c d e f g a h c

24 27 30 32 36 40 45 48

Schwingungen in der gleichen Zeit. Wenn nun auch der Ton auf der Bewegung, resp. der Zeit beruht, so fallen seine Schwingungen doch nicht in das Bewußtsein, sie werden als eine Einheit objektivirt, die nur durch ihre Dauer unter die Zeit zu stehen kommt, folglich zum Rhythmus gehört. Der Klang als solcher und seine Reinheit fallen unter das Formal-Schöne der Substanz.

Die Harmonie ist das gleichzeitige Ertönen mehrerer Töne, d.h. die Töne geben gleichsam ihre Individualität auf, und es entsteht, wie bei der chemischen Verbindung, eine neue Individualität, eine höhere Einheit. Die Harmonie ist vollkommen rein in der Consonanz. Sind die einzelnen Töne nicht ganz in ihr aufgehoben, sondern streitet noch der eine oder der andere mit ihr, so entsteht die Dissonanz. Consonanz und Dissonanz stehen sich gegenüber wie Befriedigung und Verlangen, welche Zustände durch die Musik ja auch dargestellt werden sollen, und müssen nothwendig abwechselnd hervortreten, da eine Folge konsonanter Akkorde nicht zu ertragen wäre.

Das Formal-Schöne der Substanz tritt dann noch in Dur und Moll hervor.

 

34.

Die Musik kann, abgesehen von idealer und realistischer Musik, nur eingetheilt werden in Instrumental- und Vocal-Musik, da sie, vom philosophischen Standpunkte aus, lediglich die Zustände der Menschen offenbart und deshalb an sich untheilbar ist. Ob ich ein einfaches Lied oder polyphonen Gesang, Duette, Terzette, oder eine Sonate, Cantate, Missa, Motette, große Hymne, ein Requiem, Oratorium, eine Sinfonie höre, immer und immer erzählt mir die Musik vom Wohl und Wehe, von der Trauer, der Liebe, der Sehnsucht, der Freude, der Verzweiflung, dem Frieden der Menschen.

Die ideale oder classische Musik behandelt vorzugsweise die Zustände der schönen Seele: die gemessene Freude, den gebundenen Jubel, die maßvolle Leidenschaft. Weil alle diese Willensbewegungen ohne Ueberstürzung stattfinden, so kann der ideale Tonkünstler das |

i165 Formal-Schöne vollkommen zur Geltung bringen. Seine Compositionen werden durchsichtig, klar, einfach, voll Adel und meistens in Dur, welches kräftig und gesund ist, sein.

Der realistische Tonkünstler dagegen schildert alle Zustände der Menschen: die Angst, die Verzweiflung, die kraftlose Ermattung, den ungemessensten Jubel, die jähen Uebergänge von Lust zu Unlust, die schrankenlose Leidenschaft, das zerrissene Gefühl. Um dies vollkommen bewerkstelligen zu können, muß er die Grenzen des Formal-Schönen sehr weit hinausrücken, doch wird sie der geniale realistische Componist, wie Beethoven, so oft er kann, wieder näher rücken. Er wird nicht oft den Rhythmus zerstören durch überlange Pausen, durch zu viele Syncopen, durch übermäßiges Aushalten der Töne, durch fortgesetzten Raub am Tempo; er wird nicht durch häufige Contraste wohlfeilen Effekt erzielen, den ganzen Sturm des Orchesters plötzlich in die Klänge einer Harfe fallen lassen, durch Verweilen auf wenigen Tönen in den höchsten Regionen geradezu physischen Schmerz erzeugen, er wird ferner die Klarheit der Harmonie nicht unaufhörlich verdunkeln durch Anhäufung von Septimen- und Nonenakkorden und die Auflösung der Dissonanzen nicht immer und immer wieder hinausschieben, sondern über dem wogendsten Meer der Empfindung das Schöne, ruhig und verklärend, hinschweben lassen.

In der Oper tritt die Musik ganz entschieden in den Dienst der Poesie, denn die Töne erleuchten gleichsam das Herz der handelnden Personen, enthüllen uns die Quellen, aus denen die Handlungen fließen, und lassen die Gemüthsbewegungen kräftiger auf uns einfließen, als bloße Worte es vermögen.

 

35.

Blicken wir zurück auf die Kunst, so zeigt sich uns zunächst, daß sie den Menschen leicht in den aesthetischen Zustand, den unaussprechlich glücklichen und seligen, versetzt. Sie läßt ihn das Brod und den Wein der reinsten sinnlichen Erkenntniß kosten und erweckt in ihm die Sehnsucht nach einem Leben voll ungestörter Ruhe. Und es lockert sich das Band, das ihn an die Welt der Rastlosigkeit, der Sorge und Qual kettet.

Sie weckt dann in ihm Liebe zum Maß und Haß gegen die Schrankenlosigkeit der Leidenschaft, denn was er sieht und hört, was ihn in Bild, Wort und Ton so hoch erfreut, das ist ja Alles nur |

i166 eitel Maß und Harmonie. Das Formal-Schöne entwickelt sich immer mehr in ihm, bis es sich zur Blüthe des vollkommenen Schönheitssinnes rein entfaltet.

Sie klärt ihn endlich auf über das wahre Wesen der Ideen, indem sie ihn auf geebneten, mit Blumen bestreuten Wegen, mit süßer Rede in sie hineinführt und den Schleier ihres Kerns vor ihm fallen läßt. Sie hält ihn lächelnd fest, wenn er entsetzt aus der Hölle zurückfliehen will, und führt ihn hart an den Rand der Abgründe, ihm zuflüsternd: es sind die Abgründe deiner Seele, du armes Menschenkind; hast du es nicht gewußt?

Und er weiß es fortan. Wohl wird die Fluth des Alltaglebens sich wieder über die Erkenntniß ergießen und die Begierde nach Leben trotzig wieder das Haupt erheben, aber die Erkenntniß hat unauslöschliche Spuren in seinem Herzen zurückgelassen; sie brennen wie Wunden und lassen ihm keine Ruhe mehr. Er verlangt sehnsüchtig nach einem anderen Leben; aber wo soll er es finden? Die Kunst kann es ihm nicht geben. Sie kann ihn nur, von Zeit zu Zeit, in den seligen aesthetischen Zustand versetzen, in dem kein dauerndes Verweilen ist. Da nimmt sich die Ethik seiner an.

 

36.

Die Geistesthätigkeit des Menschen, welcher in der aesthetischen Relation zu den Ideen steht, kann man aesthetisches Erkennen nennen, und da dieses nicht nur die Mutter der Kunst, sondern auch der Wissenschaft ist, so heißt es wohl am besten objektives oder geniales Erkennen.

Die Kunst bereitet das menschliche Herz zur Erlösung vor, aber die Wissenschaft allein kann es erlösen: denn sie allein hat das Wort, das alle Schmerzen stillt, weil der Philosoph, im objektiven Erkennen, den Zusammenhang aller Ideen und das aus ihrer Wirksamkeit continuirlich sich erzeugende Schicksal der Welt, den Weltlauf, erfaßt.

 

—————

 

Ethik.

 

i167

—————

Zu erwarten, daß Einer etwas thue, wozu ihn durchaus kein

Interesse auffordert, ist wie erwarten, daß ein Stück Holz sich

zu mir bewege, ohne einen Strick, der es zöge.

Schopenhauer.

————

Simplex sigillum veri: die nackte Wahrheit muß so einfach

und faßlich sein, daß man sie in ihrer wahren Gestalt Allen

muß beibringen können, ohne sie mit Mythen und Fabeln zu

versetzen.

Schopenhauer.

i169

1.

Die Ethik ist Eudämonik oder Glückseligkeitslehre: eine Erklärung, an der seit Jahrtausenden gerüttelt wird, ohne sie zu erschüttern. Die Aufgabe der Ethik ist: das Glück, d.h. den Zustand der Befriedigung des menschlichen Herzens, in allen seinen Phasen zu untersuchen, es in seiner vollkommensten Form zu erfassen und es auf eine feste Grundlage zu setzen, d.h. das Mittel anzugeben, wie der Mensch zum vollen Herzensfrieden, zum höchsten Glück, gelangen kann.

 

2.

Es ist nichts Anderes in der Welt, als individueller Wille, der Ein Hauptstreben hat: zu leben und sich im Dasein zu erhalten. Dieses Streben tritt im Menschen als Egoismus auf, der die Hülle seines Charakters, d.h. der Art und Weise ist, wie er leben und sich im Dasein erhalten will.

Der Charakter ist angeboren. Es tritt der Mensch mit ganz bestimmten Willensqualitäten in’s Leben, d.h. die Canäle sind angedeutet, in die sich sein Wille in der Entwicklung vorzugsweise ergießen wird. Daneben sind sämmtliche anderen Willensqualitäten der allgemeinen Idee Mensch als Keime vorhanden, mit der Fähigkeit sich zu entfalten.

Der Mensch ist die Verbindung eines bestimmten Dämons mit einem bestimmten Geiste; denn giebt es auch nur Ein Princip, den individuellen Willen, so unterscheiden sich doch die Individuen von einander durch ihre Bewegung. Im Menschen zeigt sich die Bewegung nicht als eine einfache, sondern als eine resultirende, und wir sind deshalb genöthigt, von einer Verbindung der Haupt- Bewegungsfaktoren zu sprechen. Aber diese Verbindung ist wesentlich untrennbar und die Bewegung dadurch doch nur Eine; denn was drückt: dieser bestimmte Charakter und dieser bestimmte Geist Anderes aus, als diese bestimmte Bewegung des Willens?

i170

3.

Der Egoismus des Menschen zeigt sich nicht nur als Erhaltungstrieb, sondern auch als Glückseligkeitstrieb, d.h. der Mensch will nicht nur im Leben, seinem Charakter gemäß, verbleiben, sondern er will auch, in jedem Augenblicke des Lebens, die volle Befriedigung seiner Wünsche, seiner Neigungen, seiner Begierden, in die er sein höchstes Glück setzt. Wunsch – sofortige Befriedung; neuer Wunsch – sofortige Befriedigung: das sind die Glieder einer Lebenskette, wie sie der natürliche Egoismus will.

Ein solches Leben, das ein unaufhörliches Taumeln von Begierde zu Genuß wäre, ist nirgends anzutreffen und faktisch unmöglich. Keine Idee ist vollkommen unabhängig und selbständig; sie wirkt zwar unablässig und will ihre Individualität zur Geltung bringen, sie sei eine chemische Kraft oder ein Mensch, aber ebenso unablässig wirkt die ganze übrige Welt auf sie und beschränkt sie. Nehmen wir einen großen Theil dieser Einflüsse fort und bleiben nur bei denjenigen stehen, welche von Menschen auf Menschen ausgeübt werden, so gewinnen wir schon das Bild des höchsten Kampfes, dessen Folge ist, daß unter hundert Wünschen nur einer befriedigt wird und fast immer der, dessen Befriedigung man am wenigsten ersehnt; denn jeder Mensch will die volle Befriedigung seiner besonderen Begierde, und weil sie ihm streitig gemacht wird, muß er darum kämpfen, und deshalb ist nirgends ein Lebenslauf anzutreffen, der aus der glatten Aneinanderfügung erfüllter Wünsche entstanden wäre, selbst da nicht, wo das Individuum mit der unbeschränkten Gewalt über Millionen bekleidet ist. Denn eben in dieser Stellung, ja im Individuum selbst, liegen unerschütterliche Schranken, an denen der Wille immer anbrandet und unbefriedigt auf sich zurückgeworfen wird.

 

4.

Da nun der natürliche Egoismus des Menschen ein solches Leben, das er auf’s Innigste will, nicht haben kann, so sucht er den Genuß (befriedigte Begierde) so oft als möglich zu erlangen, oder, da er auch in Lagen kommen kann, wo es sich gar nicht mehr um Genuß, sondern um Schmerz handelt, welche Lagen, der Art des Kampfes nach, die gewöhnlichen sind, den geringsten Schmerz. Steht der Mensch mithin vor zwei Genüssen, so will er sie beide; hat er aber nur die Wahl zwischen beiden, so will er den größeren. |

i171 Und steht er vor zwei Uebeln, so will er keines; muß er aber wählen, so wählt er das kleinere.

So handelt der Mensch vor gegenwärtigen Uebeln oder Genüssen, unter der Voraussetzung, daß sein Geist richtig abwägen kann. Da er aber, in Folge seiner höheren Erkenntnißvermögen, nicht auf die Gegenwart allein beschränkt ist, sondern die Folgen vorstellen kann, welche Handlungen in der Zukunft haben werden, so hat er noch die Wahl in zwölf anderen Fällen, nämlich zwischen:

1) einem Genuß in der Gegenwart und einem größeren Genuß in der Zukunft

2) ,, ,, ,, ,, ,, ,, ,, kleineren Genuß i. d. Z.

3) ,, ,, ,, ,, ,, ,, ,, gleichen ,, ,,

4) ,, ,, ,, ,, ,, ,, ,, größeren Leid ,,

5) ,, ,, ,, ,, ,, ,, ,, kleineren ,, ,,

6) ,, ,, ,, ,, ,, ,, ,, gleichen ,, ,,

7) ,, Leid ,, ,, ,, ,, ,, größeren ,, ,,

8) ,, ,, ,, ,, ,, ,, ,, kleineren ,, ,,

9) ,, ,, ,, ,, ,, ,, ,, gleichen ,, ,,

10) ,, ,, ,, ,, ,, ,, ,, größeren Genuß ,,

11) ,, ,, ,, ,, ,, ,, ,, kleineren ,, ,,

12) ,, ,, ,, ,, ,, ,, ,, gleichen ,, ,,

Zu einem Kampf wird es in den Fällen

2, 3, 5, 6, 8, 9, 11, 12,

also in 8 Fällen, nicht kommen, denn der Wille muß

1) in den Fällen 2 und 3 einen Genuß in der Gegenwart einem kleineren oder gleichen Genuß in der Zukunft vorziehen;

2) in den Fällen 5 und 6 einen Genuß in der Gegenwart ergreifen, wenn ihn auch dafür in der Zukunft ein kleineres oder gleiches Leid trifft;

3) in den Fällen 8 und 9 einem Leid in der Gegenwart ein kleineres oder gleiches Leid in der Zukunft vorziehen;

4) in den Fällen 11 und 12 auf einen Genuß in der Zukunft verzichten, wenn ihn dafür in der Gegenwart ein größeres oder gleiches Leid treffen soll.

Der Wille müßte selbst dann so handeln, wenn er sicher wäre, daß er dem Leid, resp. dem Genuß, in der Zukunft begegnen wird. Da aber kein Mensch wissen kann, wie sich die Zukunft gestalten, |

i172 ob ihm der Genuß, resp. das Leid, begegnen wird, ferner ob er überhaupt noch zur Zeit leben wird, wo ihm der Genuß zu Theil werden, oder das Leid ihn treffen soll, so ist im practischen Leben die Nothwendigkeit noch bedeutend zwingender für den Menschen, in der angegebenen Weise zu handeln.

Dagegen wird der Wille in den Fällen 1, 4, 7, 10 heftig schwanken. Stellt er sich nun auf den Standpunkt der völligen Ungewißheit der Zukunft, so wird sich der Wille sehr oft für die genußreiche, resp. schmerzlose Gegenwart entscheiden; denn wer kann ihm

1) in den Fällen 1 und 10 den größeren Genuß garantiren, den er sich im Falle 1 durch Verzicht auf einen Genuß in der Gegenwart und im Falle 10 durch Erduldung eines Leids in der Gegenwart erkauft? und wer kann behaupten

2) daß er im Falle 4 nicht doch dem Leid entrinnt, das er, durch einen Genuß in der Gegenwart, einst erleiden soll, und daß er, im Falle 7, auch wirklich einem größeren Leid in der Zukunft dadurch entronnen ist, daß er ein Leid in der Gegenwart ertrug?

Ist jedoch der Wille der Zukunft auf irgend eine Weise gewiß – und es giebt ja Handlungen, deren Folge in der Zukunft den Menschen ganz bestimmt treffen, – so wird er zwar einen heftigen Kampf kämpfen, aber sich doch schließlich in allen vier Fällen, wenn er besonnen ist, für die Zukunft entscheiden. Dann muß er

1) in den Fällen 1 und 4 auf einen Genuß in der Gegenwart verzichten, um sich, im Falle 1, einen größeren Genuß in der Zukunft zu erkaufen, und um, im Fall 4, einem größeren Leid in der Zukunft zu entgehen;

2) in den Fällen 7 und 10 ein Leid in der Gegenwart erdulden, um, im Falle 7, einem größeren Leid in der Zukunft zu entfliehen, und, im Falle 10, einen größeren Genuß in der Zukunft zu erlangen.

Ich will indessen schon hier darauf hinweisen, daß, weil die Macht der Gegenwart die der Zukunft bedeutend überwiegt, sichere Genüsse in der Zukunft nur dann das Individuum zu sich ziehen, und sichere Uebel in der Zukunft es nur dann wirksam beeinflussen können, wenn sie bedeutend den Genuß in der Gegenwart, resp. das in der Gegenwart zu erduldende Leid, an Größe übertreffen. |

i173 Das Individuum muß klar und deutlich seinen Vortheil sehen, sonst wird es dem Zauber der Gegenwart unfehlbar unterliegen.

Hieraus ergiebt sich, daß der Mensch eine vollkommene Deliberationsfähigkeit, resp. eine vollkommene Wahlentscheidung hat und unter Umständen gegen seinen Charakter handeln muß, nämlich, wenn eine Handlung seinem Wohle, im Ganzen betrachtet, oder seinem allgemeinen Wohle, entgegen wäre.

 

5.

Es ist der Geist, der dieses allgemeine Wohl in jedem einzelnen Falle, oder auch ein für alle Mal, feststellt; denn obgleich es der Wille selbst ist, der denkt, wie er verdaut, greift, geht, zeugt u.s.w., so dürfen wir doch, aus dem oben angegebenen Grunde, das Erkenntnißvermögen vom Willen getrennt halten. Wir sind uns dabei stets bewußt, daß wir es mit einer untrennbaren Verbindung und, im Grunde, mit einem einzigen Princip zu thun haben, sowie ferner, daß, wie wir in der Physik gesehen haben, ein Antagonismus zwischen Willen und Geist nie stattfinden kann. Nur bildlich kann man sagen: der Geist giebt dem Willen Rath, oder hadert mit ihm u.s.w., denn immer ist es der Wille selbst, der vermöge eines seiner Organe, sich beräth, mit sich hadert. Aber völlig unzulässig, selbst im Bilde, ist vom Zwange der Vernunft und von einer möglichen Herrschaft derselben über den Willen zu sprechen; denn selbst, wenn wir es wirklich mit einer Zusammenschweißung zweier selbständigen Principien zu thun hätten, so würde doch nie der Geist zum Willen in das Verhältniß eines Herrn zum Diener treten, sondern höchstens sein machtloser Berather sein können.

Wie wir wissen, ist nun der Geist, obgleich er mit bestimmten Anlagen in das Leben tritt, sehr ausbildungsfähig. Die Hülfsvermögen der Vernunft, von denen der Grad der Intelligenz allein abhängt, können, je nach Behandlung, verkümmern, so daß Blödsinn eintritt, oder zu einer Entfaltung gebracht werden, die Genialität genannt wird. Den Geist zu entwickeln, ist die einzige Aufgabe der Erziehung, wenn man von der körperlichen Ausbildung absieht; denn auf den Charakter kann nur durch den Geist eingewirkt werden und zwar so, daß dem Zögling klar und deutlich die Nachtheile und Vortheile gezeigt werden, welche die Folgen von Handlungen sind, oder, mit |

i174 anderen Worten, daß man ihn deutlich erkennen läßt, wo sein wahres Wohl liegt.

Die gute Erziehung stärkt Urtheilskraft und Gedächtniß und weckt entweder die Phantasie, oder zügelt sie. Zu gleicher Zeit läßt sie den Geist eine größere oder kleinere Summe von Erkenntnissen in sich aufnehmen, die auf der Erfahrung beruhen und jederzeit von ihr bestätigt werden. Alle anderen Erkenntnisse, mit denen sie ihn vertraut macht, versieht sie mit dem Stempel der Ungewißheit.

Neben dieser guten Erziehung geht die schlechte, in Schule und Familie, her, welche den Kopf des Menschen mit Hirngespinnsten, Aberglauben und Vorurtheilen erfüllt und ihn dadurch unfähig macht, einen klaren Blick in die Welt zu werfen. Die spätere Erfahrung wird ihn allerdings untersuchen und vieles Eingebildete und Falsche herausnehmen, aber auch oft eben dieses Eingebildete und Falsche stärken und erst recht hervortreten lassen, wenn das Individuum das Unglück hat, in Kreise zu gerathen, wo alles Absurde in ihm gedeihliche Pflege empfängt.

Je nachdem nun der Geist eines Menschen ein mehr oder weniger gebildeter oder verbildeter, ein entwickelter oder ein verkümmerter ist, wird der Wille mehr oder weniger befähigt sein, sowohl sein echtes Wohl im Allgemeinen zu erkennen, als in jedem einzelnen Falle zu beurtheilen, welche Handlung seinem Interesse am besten entspricht, und hiernach sich entscheiden.

 

6.

Der Charakter des Menschen ist angeboren, aber nicht unveränderlich; seine Veränderlichkeit jedoch bewegt sich in sehr engen Grenzen, da das Temperament gar nicht und einzelne Willensqualitäten nur insofern eine Veränderung erleiden können, als durch frühe Einprägung von Lehren und durch Beispiele, oder durch die Keulenschläge des Schicksals, durch großes Unglück und schweres Leiden – was Alles von der Erkenntniß abhängt, da es nur durch den Geist auf den Willen einfließen kann – eine hervorstechende Willensqualität wieder zum bloßen Keim herabgedrückt, eine andere erweckt und entfaltet werden kann.

Wäre der menschliche Wille nicht erkennend, so würde er schlechthin unveränderlich sein, wie die Natur der chemischen Kraft, oder besser, es würden die unablässigen Einwirkungen des Klimas, des |

i175 Kampfes um das Dasein von Jahrtausenden nöthig sein, um eine leichte Veränderung hervorzubringen, wie sie an Pflanzen und Thieren nachgewiesen worden ist. Aber vermittelst seines Geistes ist er Einwirkungen ausgesetzt, die viel tiefer in ihn eindringen als die gedachten Einflüsse, die ihn würgen und erschüttern. Ja, wie wir später sehen werden, können ihn Erkenntnisse derartig entflammen, daß er schmilzt und insofern als ein total anderer angesehen werden muß, als seine Thaten jetzt ganz andere sind. Dann ist es, als ob ein Dornbusch plötzlich Feigen trüge, und dennoch hat sich kein Wunder begeben.

 

7.

In jedem Augenblicke seines Lebens aber ist der Mensch die Verbindung eines bestimmten Dämons und eines bestimmten Geistes, kurz, zeigt er eine ganz bestimmte Individualität, wie jedes Ding in der Natur. Jede seiner Handlungen ist das Produkt dieses für den Augenblick festen Charakters und eines zureichenden Motivs und muß mit derselben Nothwendigkeit erfolgen, mit der ein Stein zur Erde fällt. Wirken mehrere Motive zu gleicher Zeit auf ihn ein, sie mögen nun anschaulich vor ihm stehen oder in der Vergangenheit und Zukunft liegen, so findet ein Kampf statt, aus dem dasjenige siegreich hervorgeht, welches das stärkste ist. Dann erfolgt auch die That gerade so, als wäre von vornherein nur ein zureichendes Motiv vorhanden gewesen.

 

8.

Aus dem Bisherigen ergiebt sich, daß die Thaten des Menschen nicht stets auf die gleiche Weise entstehen: entweder folgt der Wille nur seiner Neigung in der Gegenwart, ohne die Zukunft zu berücksichtigen, ohne überhaupt auf sein Wissen im weitesten Sinne zu achten, oder er entscheidet sich nach seinem allgemeinen Wohle. Im letzteren Falle handelt er entweder in Uebereinstimmung mit der Natur seines Willens, oder gegen dieselbe.

Handelt er nun, unter dem Zauber der Gegenwart stehend, seiner Neigung gemäß, aber gegen sein besseres Wissen, so wird er nach der That, je nach ihrer Bedeutung, heftige oder leise Gewissensbisse empfinden, d.h. dieselbe Stimme in ihm, welche vor der That, im Hinblick auf sein allgemeines Wohl, rieth, dem |


Date: 2014-12-29; view: 440


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