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Analytik des Erkenntnißvermögens. 4 page

d. außerdem diesem realen Raum Unendlichkeit und dieser realen Substanz absolute Beharrlichkeit anzudichten.

Ferner gestattet der kritische Idealismus noch weniger der perversen Vernunft die willkürliche Uebertragung solcher Hirngespinnste auf die Dinge an sich und annullirt ihre dreisten Behauptungen:

a. das reine Sein der Dinge falle in die unendlichen Causalreihen;

b. das Weltall sei unendlich und die chemischen Kräfte seien in’s Unendliche theilbar oder sie seien ein Aggregat von Atomen;

c. die Weltentwicklung habe keinen Anfang;

d. alle Kräfte seien unzerstörbar.

Die zwei Urtheile, welche wir fällen mußten:

1) die einfachen chemischen Kräfte sind unzerstörbar,

2) die Weltentwicklung hat kein Ende,

erklärten wir für revisionsbedürftig.

Als ein wichtiges positives Ergebniß haben wir dann noch anzuführen, daß uns der transscendentale Idealismus zu einem transscendenten Gebiete brachte, das den Forscher, weil es nicht mehr existirt, nicht belästigen kann.

Hierdurch befreit der kritische Idealismus jede redliche und treue Naturbeobachtung von Inkonsequenzen und Schwankungen und macht die Natur wieder zur einzigen Quelle aller Wahrheit, die Keiner, verlockt von Truggestalten und Luftspiegelungen, ungestraft verläßt: denn er muß in der Wüste verschmachten.

i42

Ein Kerl, der speculirt,

Ist wie ein Thier auf dürrer Heide,

Von einem bösen Geist im Kreis herum geführt,

Und rings umher liegt schöne grüne Weide.

(Goethe.)

 

33.

Das für unsere weiteren Untersuchungen wichtigste Resultat der bisherigen ist: daß die Dinge an sich für das Subjekt substanzielle Objekte und, unabhängig vom Subjekt, sich bewegende Kräfte mit einer bestimmten Wirksamkeitssphäre sind. Wir erlangten es durch sorgfältige Analyse der nach außen gerichteten Erkenntnißvermögen, also ganz auf dem Boden der objektiven Welt; denn die auf dem Wege nach innen gewonnene Zeit hätten wir ebenso gut an unserem Leib oder in unserem Bewußtsein von anderen Dingen herstellen können.

Mehr aber als die Erkenntniß, daß das dem Objekt zu Grunde liegende Ding an sich eine Kraft von einem bestimmten Umfang und mit einer bestimmten Bewegungsfähigkeit ist, kann auf dem Wege nach außen nicht erlangt werden. Was die Kraft an und für sich sei, wie sie wirke, wie sie sich bewege – dieses Alles können wir nach außen nicht erkennen. Auch müßte die immanente Philosophie hier abschließen, wenn wir nur erkennendes Subjekt wären; denn was sie auf Grund dieser einseitigen Wahrheit über die Kunst, über die Handlungen der Menschen und die Bewegung der ganzen Menschheit aussagen würde, wäre von zweifelhaftem Werthe: es könnte so sein und könnte auch nicht so sein, kurz sie verlöre den sicheren Boden unter sich und allen Muth, und, müßte deshalb ihre Forschung abbrechen.



Aber der Weg nach außen ist nicht der einzige, der uns geöffnet ist. Wir können bis in das innerste Herz der Kraft eindringen; denn jeder Mensch gehört zur Natur, ist selbst eine Kraft und zwar eine selbstbewußte Kraft. Das Wesen der Kraft muß im Selbstbewußtsein zu erfassen sein.

So wollen wir denn jetzt aus der zweiten Quelle der Erfahrung, dem Selbstbewußtsein, schöpfen.

Versenken wir uns in unser Inneres, so hören die Sinne und der Verstand, das nach außen gerichtete Erkenntnißvermögen, |

i43 gänzlich zu functioniren auf; sie werden gleichsam ausgehängt und nur die oberen Erkenntnißvermögen bleiben in Thätigkeit. Wir haben im Innern keine Eindrücke, zu denen wir eine von ihnen verschiedene Ursache erst zu suchen hätten; wir können uns ferner innerlich nicht räumlich gestalten und sind völlig immateriell, d.h. in uns findet das Causalitätsgesetz keine Anwendung und wir sind frei von Raum und Materie.

Obgleich wir nun völlig unräumlich sind, d.h. nicht zur Anschauung einer Gestalt unseres Innern gelangen können, so sind wir deswegen doch kein mathematischer Punkt. Wir fühlen unsere Wirksamkeitssphäre genau so weit, als sie reicht, nur fehlt uns das Mittel sie zu gestalten. Bis in die äußersten Spitzen unseres Körpers reicht das Gemeingefühl der Kraft, und wir fühlen uns weder concentrirt in einen Punkt, noch zerfließend in indefinitum, sondern in einer ganz bestimmten Sphäre. Diese Sphäre werde ich von jetzt an die reale Individualität nennen: sie ist der erste Grundpfeiler der rein immanenten Philosophie.

Prüfen wir uns weiter, so finden wir uns, wie schon oben dargelegt wurde, in unaufhörlicher Bewegung. Unsere Kraft ist wesentlich ruhe- und rastlos. Niemals, selbst nicht für die Dauer des kleinsten Theils eines Augenblicks, sind wir in absoluter Ruhe; denn Ruhe ist Tod, und die denkbar kleinste Unterbrechung des Lebens wäre Verlöschung der Lebensflamme. Wir sind also wesentlich ruhelos; jedoch fühlen wir uns nur in Bewegung im Selbstbewußtsein.

Der Zustand unseres innersten Wesens berührt gleichsam immer, als realer Punkt der Bewegung, das Bewußtsein, oder es schwimmt, wie ich früher sagte, die Gegenwart auf dem Punkte der Bewegung. Unseres inneren Lebens sind wir uns stets in der Gegenwart bewußt. Wäre dagegen die Gegenwart die Hauptsache und stände mithin der Punkt der Bewegung auf ihr, so müßte mein Wesen während jeder Intermittenz meines Selbstbewußtseins (in Ohnmachten, im Schlaf) total ruhen, d.h. der Tod würde es treffen und es könnte sein Leben nicht wieder entzünden. Die Annahme, daß wirklich der Punkt der Bewegung von der Gegenwart (auch die reale Bewegung von der Zeit) abhängig sei, ist, wie die, daß der Raum den Dingen Ausdehnung verleihe, ebenso absurd, als sie nothwendig für den |

i44 Entwicklungsgang der Philosophie war, wodurch ich ausdrücken will, daß es einen höheren Grad von Absurdität gar nicht geben kann.

Indem sich nun die Vernunft des Uebergangs von Gegenwart zur Gegenwart bewußt wird, gewinnt sie, auf die früher erörterte Weise, die Zeit und zugleich die reale Succession, welche ich von jetzt an, in Beziehung auf die reale Individualität, die reale Bewegung nennen werde: sie ist der zweite Grundpfeiler der immanenten Philosophie.

Es ist die größte Täuschung, in der man befangen sein kann, wenn man glaubt, auf dem Wege nach innen wären wir, wie auf dem Wege nach außen, erkennend und dem Erkennenden stünde ein Erkanntes gegenüber. Wir befinden uns mitten im Dinge an sich, von einem Objekt kann gar nicht mehr die Rede sein, und wir erfassen unmittelbar den Kern unseres Wesens, durch das Selbstbewußtsein, im Gefühl. Es ist ein unmittelbares Innewerden unseres Wesens durch den Geist, oder besser durch die Sensibilität.

Was ist nun die im Kern unseres Innern sich entschleiernde Kraft? Es ist der Wille zum Leben.

Wann immer wir auch den Weg nach innen betreten – mögen wir uns in scheinbarer Ruhe und Gleichgültigkeit antreffen, mögen wir selig erbeben unter dem Kusse des Schönen, mögen wir rasen und toben in wildester Leidenschaft oder zerfließen in Mitleid, mögen wir »himmelhoch jauchzen« oder »zum Tode betrübt sein« – immer sind wir Wille zum Leben. Wir wollen da sein, immer da sein; weil wir das Dasein wollen, sind wir und weil wir das Dasein wollen, verbleiben wir im Dasein. Der Wille zum Leben ist der innerste Kern unseres Wesens; er ist immer thätig, wenn auch oft nicht an der Oberfläche. Um sich hiervon zu überzeugen, bringe man das ermattetste Individuum in wirkliche Todesgefahr und der Wille zum Leben wird sich enthüllen, in allen Zügen mit entsetzlicher Deutlichkeit die Begierde nach Dasein tragend: sein Heißhunger nach Leben ist unersättlich.

Wenn aber der Mensch wirklich das Leben nicht mehr will, so vernichtet er sich auch sofort durch die That. Die Meisten wünschen sich nur den Tod, sie wollen ihn nicht.

Dieser Wille ist eine sich entwickelnde Individualität, was identisch ist mit der von außen gefundenen sich bewegenden Wirksamkeitssphäre. Aber er ist durch und durch frei von Materie. |

i45 Dieses unmittelbare Erfassen der Kraft auf dem Wege nach innen als frei von Materie betrachte ich als Siegel, das die Natur unter meine Erkenntnißtheorie drückt. Nicht der Raum, nicht die Zeit, unterscheiden das Ding an sich vom Objekt, sondern die Materie allein macht das Objekt zu einer bloßen Erscheinung, die mit dem erkennenden Subjekt steht und fällt.

Als das wichtigste Ergebniß der Analytik halten wir den vom Subjekt total unabhängigen individuellen, sich bewegenden Willen zum Leben fest in der Hand. Er ist der Schlüssel, der in das Herz der Physik, Aesthetik, Ethik, Politik und Metaphysik führt.

 

—————

 

Physik.

 

i47

—————

Magnetes Geheimniß, erkläre mir das!

Kein größer Geheimniß als Liebe und Haß.

Goethe.

————

Suchet in euch, so werdet ihr Alles finden und erfreuet

euch, wenn da draußen, wie ihr es immer heißen möget, eine

Natur liegt, die Ja und Amen zu Allem sagt, was ihr in euch

selbst gefunden habt.

Goethe.

i49

1.

Ich nehme zum Grundstein der Physik nicht die unsichtbar zwischen Himmel und Erde schwebende Gattung, den metaphysischen Artbegriff ohne Mark und Saft; noch weniger die sogenannten physikalischen Kräfte wie Schwere, Electricität u.s.w., sondern den in der Analytik gewonnenen realen individuellen Willen zum Leben. Wir haben ihn im innersten Kern unseres Wesens erfaßt als das der (von außen erkennbaren) Kraft zu Grunde Liegende, und da Alles in der Natur ohne Unterlaß wirkt, Wirksamkeit aber Kraft ist, so sind wir zu schließen berechtigt, daß jedes Ding an sich individueller Wille zum Leben ist.

 

2.

»Wille zum Leben« ist eine Tautologie und eine Erklärung; denn das Leben ist vom Willen nicht zu trennen, selbst nicht im abstraktesten Denken. Wo Wille ist, da ist Leben und wo Leben Wille.

Andererseits erklärt das Leben den Willen, wenn Erklärung die Zurückführung eines Unbekannteren auf ein Bekannteres ist; denn wir nehmen das Leben als ein continuirliches Fließen wahr, auf dessen Pulse wir in jedem Augenblick den Finger legen können, während der Wille nur in den willkürlichen Handlungen deutlich für uns hervortritt.

Ferner sind Leben und Bewegung Wechselbegriffe; denn wo Leben ist, da ist Bewegung und umgekehrt, und ein Leben, das nicht Bewegung wäre, würde mit menschlichem Denken nicht zu begreifen sein.

Auch ist Bewegung die Erklärung des Lebens; denn Bewegung ist das erkannte oder gefühlte Merkmal des Lebens.

Dem Willen zum Leben ist also die Bewegung wesentlich; sie ist sein einziges echtes Prädicat, und an sie müssen wir |

i50 uns halten, um den ersten Schritt in der Physik machen zu können.

Ein klarer Blick in die Natur zeigt uns die verschiedenartigsten individuellen Willen. Die Verschiedenartigkeit muß im Wesen derselben begründet sein; denn das Objekt kann nur zeigen, was im Ding an sich liegt. Der Unterschied offenbart sich uns nun am deutlichsten in der Bewegung. Untersuchen wir dieselbe jetzt näher, so müssen wir die erste allgemeine Eintheilung der Natur gewinnen.

Hat der individuelle Wille eine einheitliche ungetheilte Bewegung, weil er selbst ganz und ungetheilt ist, so ist er als Objekt ein unorganisches Individuum. Selbstverständlich ist hier nur vom Trieb, von der inneren Bewegung, innerhalb einer bestimmten Individualität, die Rede.

Hat der Wille dagegen eine resultirende Bewegung, welche daraus entsteht, daß er sich gespalten hat, so ist er als Objekt ein Organismus. Der ausgeschiedene Theil heißt Organ.

Die Organismen unterscheiden sich dann auf folgende Weise von einander:

Ist die Bewegung der Organe nur Irritabilität, die lediglich auf äußere Reize reagirt, so ist der Organismus eine Pflanze. Die resultirende Bewegung ist Wachsthum.

Ist ferner der individuelle Wille derartig theilweise in sich auseinandergetreten, daß ein Theil seiner Bewegung sich gespalten hat in ein Bewegtes und ein Bewegendes, in ein Gelenktes und einen Lenker, oder mit anderen Worten in Irritabilität und Sensibilität, welche zusammengenommen wieder den ganzen Theil der Bewegung bilden, so ist er als Objekt ein Thier. Die Sensibilität (mithin auch der Geist) ist also nichts weiter, als ein Theil der dem Willen wesentlichen Bewegung und als solche so gut eine Manifestation des Willens, wie die Irritabilität oder die restliche ganze Bewegung. Es giebt nur ein Princip in der Welt: individuellen Willen zum Leben, und er hat kein anderes neben sich.

Ein je größerer Theil der ganzen Bewegung sich gespalten hat, d.h. je größer die Intelligenz ist, desto höher ist die Stufe, auf welcher das Thier steht, und eine desto größere Bedeutung hat der Lenker für das Individuum; und je ungünstiger das Verhältniß der Sensibilität zur restlichen ungespaltenen Bewegung ist, |

i51 desto größer ist die restliche ganze Bewegung, welche hier auftritt als Instinkt, von dem der Kunsttrieb eine Abzweigung ist.

Ist schließlich durch eine weitere Spaltung der restlichen ganzen Bewegung das Denken in Begriffen im individuellen Willen entstanden, so ist er ein Mensch.

Die resultirende Bewegung zeigt sich beim Thier, wie beim Menschen, als Wachsthum und willkürliche Bewegung.

Den Lenker einerseits, und das Gelenkte sowie die ungespaltene Bewegung andererseits, stelle ich unter dem Bilde eines sehenden Reiters und eines blinden Pferdes dar, welche mit einander verwachsen sind. Das Pferd ist Nichts ohne den Reiter, der Reiter Nichts ohne das Pferd. Es ist jedoch wohl zu bemerken, daß der Reiter auch nicht den geringsten direkten Einfluß auf den Willen hat und etwa das Pferd nach Gutdünken lenken kann. Der Reiter schlägt nur die Richtungen vor; das Pferd allein bestimmt die Richtung seiner Bewegung. Dagegen ist der indirekte Einfluß des Geistes auf den Willen von größter Bedeutung.

 

3.

Der Geist steht zum Willen des Thieres in einer zweifachen, zu dem des Menschen in einer dreifachen Beziehung. Die gemeinschaftlichen Beziehungen sind die folgenden. Zuerst lenkt der Geist, d.h. er giebt verschiedene Richtungen an und schlägt die vom Willen erwählte ein. Dann kettet er an den Willen das Gefühl, welches er steigern kann bis zum größten Schmerz und zur größten Wollust.

Die dritte Beziehung, beim Menschen allein, ist die, daß der Lenker durch das Selbstbewußtsein dem Willen die Fähigkeit giebt, in sein innerstes Wesen zu blicken.

Die beiden letzten Beziehungen können seinem Einflusse, obgleich er ein indirekter ist, eine große Gewalt geben und sein ursprüngliches Verhältniß zum Willen völlig umgestalten. Aus dem Sclaven, der nur zu gehorchen hat, wird erst ein Warner, dann ein Berather, schließlich ein Freund, in dessen Hände der Wille vertrauensvoll seine Geschicke legt.

 

4.

Zum Wesen des Willens gehört demnach nur die Bewegung und nicht Vorstellung, Gefühl und Selbstbewußtsein, welche Er|scheinungen

i52 einer besonderen gespaltenen Bewegung sind. – Das Bewußtsein zeigt sich beim Menschen

1) als Gefühl,

2) als Selbstbewußtsein.

Die Vorstellung an sich ist ein unbewußtes Werk des Geistes und wird ihm erst bewußt durch die Beziehung auf das Gefühl oder auf das Selbstbewußtsein.

Der Wille zum Leben ist also zu definiren: als ein ursprünglich blinder, heftiger Drang oder Trieb, der durch Spaltung seiner Bewegung erkennend, fühlend und selbstbewußt wird.

Insofern der individuelle Wille zum Leben unter dem Gesetz einer der angeführten Bewegungsarten steht, offenbart er sein Wesen im Allgemeinen, welches ich, als solches, seine Idee im Allgemeinen nenne. Somit haben wir

1) die chemische Idee,

2) die Idee der Pflanze,

3) die Idee des Thieres,

4) die Idee des Menschen.

Insofern aber vom besonderen Wesen eines individuellen Willens zum Leben die Rede ist, von seinem eigenthümlichen Charakter, der Summe seiner Eigenschaften, nenne ich ihn Idee schlechthin, und haben wir mithin genau ebenso viele Ideen, als es Individuen in der Welt giebt. Die immanente Philosophie legt den Schwerpunkt der Idee dahin, wo ihn die Natur hinlegt: nämlich in das reale Individuum, nicht in die Gattung, welche nichts Anderes, als ein Begriff, wie Stuhl und Fenster, ist, oder in eine unfaßbare erträumte transscendente Einheit in, über oder hinter der Welt und coexistirend mit dieser.

 

5.

Wir haben jetzt den Ideen im Allgemeinen und den besonderen Ideen näher zu treten, und zwar in umgekehrter obiger Reihenfolge, weil wir die Idee des Menschen am unmittelbarsten erfassen. Es hieße »die Gestalt eines Dinges aus seinem Schatten erklären«, wollten wir uns die organischen Ideen durch die chemischen verständlich machen.

Die obige Scheidung der Ideen nach der Art ihrer Bewegung haben wir mit Hülfe der im Selbstbewußtsein gefundenen Thatsache der rastlosen Bewegung bewerkstelligt. Wenn nun auch die innere |

i53 Erfahrung, mit Absicht auf die unmittelbare Erfassung des Wesens der Dinge an sich, vor der äußeren den Vorzug verdient, so tritt sie dagegen vor letzterer, mit Absicht auf die Erkenntniß der Faktoren der Bewegung, zurück. In mir finde ich stets nur den individuellen Willen zum Leben in einer bestimmten Bewegung, einem bestimmten Zustande, dessen ich mir bewußt bin. Ich empfange nur die resultirende vieler Thätigkeiten; denn ich verhalte mich im Innern nicht erkennend. Weder erkenne ich meine Knochen, meine Muskeln, meine Nerven, meine Gefäße und Eingeweide, noch kommen mir ihre einzelnen Funktionen zum Bewußtsein: immer fühle ich nur einen Zustand meines Willens.

Zur vollkommenen Erkenntniß der Natur ist demnach die Heranziehung der Vorstellung nöthig, und wir müssen aus beiden Quellen der Erfahrung schöpfen; doch dürfen wir dabei nicht vergessen, daß wir auf dem Wege nach außen nie in das Wesen der Dinge gelangen, und daß deshalb, müßten wir wählen zwischen beiden Quellen der Erfahrung, die innere entschieden den Vorzug verdiente. Ich will dies an einem Bilde deutlich machen.

Man kann eine Locomotive auf drei Arten betrachten. Die erste Art ist eine genaue Untersuchung aller Theile und ihres Zusammenhangs. Man besichtigt den Feuerraum, den Kessel, die Ventile, die Röhren, die Cylinder, die Kolben, die Stangen, die Kurbeln, die Räder u.s.w. Die andere Art ist eine viel einfachere. Man fragt nur: was ist die Gesammtleistung aller dieser sonderbaren Theile? und ist gänzlich befriedigt von der Antwort: die einfache Bewegung des complicirten, pustenden Ungethüms vorwärts oder rückwärts auf geraden Schienen. Wer sich bloß mit dem erkannten Zusammenhang der Theile zufrieden giebt und die Bewegung des Ganzen, im Erstaunen über den wunderbaren Mechanismus, übersieht, steht Demjenigen nach, welcher die Bewegung allein in’s Auge faßt. Aber Beide übertrifft Derjenige, welcher zuerst die Bewegung und dann die Zusammensetzung der Maschine sich klar macht.

So wollen wir jetzt auch, von einem sehr allgemeinen Gesichtspunkte aus, durch die Vorstellung ergänzen, was wir an der Hand der inneren Erfahrung gefunden haben.

Der menschliche Leib ist Objekt, d.h. er ist die durch die Erkenntnißformen gegangene Idee Mensch. Unabhängig vom Subjekt ist der Mensch reine Idee, individueller Wille.

i54 Was wir also, nur die Bewegung im Auge haltend, Lenker nannten, ist auf dem Wege nach außen Funktion der Nervenmasse (also des Gehirns, Rückenmarks, der Nerven und der Knoten-Nerven) und das Gelenkte (Irritabilität) ist Funktion der Muskeln. Sämmtliche Organe sind vom Blut gebildet, aus ihm ausgeschieden worden. Im Blute liegt mithin nicht der ganze Wille, und seine Bewegung ist nur eine restliche ganze Bewegung.

Jedes Organ ist hiernach Objektivation einer bestimmten Bestrebung des Willens, die er als Blut nicht ausüben, sondern nur aktuiren kann. So ist das Gehirn die Objektivation der Bestrebung des Willens, die Außenwelt zu erkennen, zu fühlen und zu denken; so sind die Verdauungs- und Zeugungsorgane die Objektivation seines Strebens, sich im Dasein zu erhalten u.s.w.

Wenn aber auch das Blut, an sich betrachtet, nicht die Objektivation des ganzen Willens ist, so ist es doch im Organismus die Hauptsache, der Herr, der Fürst: es ist echter Wille zum Leben, wenn auch geschwächt und beschränkt.

Dagegen ist der ganze Organismus Objektivation des ganzen Willens: er ist die Auswickelung des ganzen Willens. Von diesem Gesichtspunkte aus ist der ganze Organismus die zur Vorstellung gewordene, objektivirte, Kraftsphäre des Willens, und jede Aktion des Organismus, sie sei nun Verdauung, Athmung, Sprechen, Greifen, Gehen, ist eine ganze Bewegung. So ist das Ergreifen eines Gegenstandes zunächst Zusammenschluß von Nerv und Muskel zu einer ganzen Theilbewegung, die That aber an sich Zusammenschluß dieser Theilbewegung mit der restlichen ganzen Bewegung des Blutes zu einer ganzen Bewegung des Willens. Die einheitliche Bewegung der chemischen Kraft ist eine einfache Aktion, die Bewegung eines Organismus eine zusammengesetzte, resultirende Aktion. Im Grunde sind beide identisch, wie es ja gleich ist, ob zehn Menschen vereint, oder ein Starker allein, eine Last heben.

Wie wir die Bewegung des menschlichen Willens nur scheiden konnten in Sensibilität und Irritabilität einerseits, und restliche ganze Bewegung andererseits, so stellen sich auch die Faktoren der Bewegung im Organismus nur dar als Nerven und Muskeln einerseits und Blut anderseits. Alles Andere ist Nebensache. Und von diesen drei Faktoren ist das Blut die Hauptsache und das Ursprüngliche, das Nerv und Muskel aus sich ausgeschieden hat. Es ist der ange|schaute

i55 ungespaltene Wille zum Leben, die Objektivation unseres innersten Wesens, des Dämons, der im Menschen dieselbe Rolle, wie der Instinkt im Thiere spielt.

 

6.

Es ist indessen wohl zu bemerken, daß, obgleich die Nervenmasse, wie jeder andere Theil des Leibes, Objektivation des Willens ist, sie dennoch eine ganz exceptionelle Stellung im Organismus einnimmt. Schon oben haben wir gesehen, daß sie in sehr wichtigen Beziehungen zum Dämon steht und, wenn auch in totaler Abhängigkeit von ihm, wie fremd ihm gegenübertritt. Jedenfalls stehen die Muskeln dem Blute bedeutend näher, d.h. sie enthalten den größeren Theil der gespaltenen Bewegung, wie sich schon aus der Farbe und chemischen Zusammensetzung ergiebt. Hierzu tritt, daß ohne Nervenreiz kein Organ functioniren kann, während das Gehirn nur mit Hülfe des Blutes arbeitet. Aus diesen Gründen empfiehlt sich schon jetzt – wir werden später viel wichtigere Gründe finden – wenigstens diesen Theil der Nervenmasse (den objektivirten Geist) hervorzuheben und die Idee des Menschen in eine untrennbare Verbindung von Willen und Geist zu setzen; dabei aber stets im Auge behaltend, daß Alles, was zum Leibe gehört, nichts Anderes ist, als Objektivation des Willens, des einzigen Princips in der Welt, was ich nicht genug einschärfen kann.

 

7.

Die Idee des Menschen ist also eine untrennbare Einheit von Willen und Geist, oder eine untrennbare Verbindung eines bestimmten Willens mit einem bestimmten Geist.

Den Geist habe ich bereits in der Analytik zerlegt: er umfaßt die zu einer untrennbaren Einheit vereinigten Erkenntnißvermögen.

Er ist in jedem Menschen ein bestimmter, weil seine Theile mangelhaft, wenig oder hoch entwickelt sein können. Gehen wir die Vermögen durch, so können zunächst einzelne Sinne erloschen oder geschwächt sein. Der Verstand übt immer seine Funktion – Übergang von der Wirkung zur Ursache – aus und zwar bei allen Menschen mit derselben Schnelligkeit, welche so unvergleichbar groß ist, daß ein Mehr oder Minder sich der Wahrnehmung völlig entziehen muß. Auch objektiviren seine Formen, Raum und Materie, bei allen Men|schen

i56 gleichmäßig; denn etwaige Unvollkommenheiten, wie Verschwommenheit der Umrisse und falsche Farbenbestimmung, sind auf die mangelhafte Beschaffenheit der betreffenden Sinnesorgane (Kurzsichtigkeit, beschränkte Fähigkeit der Retina zur qualitativen Theilung ihrer Thätigkeit) zurückzuführen.

In dem höheren Erkenntnißvermögen muß demnach Dasjenige gesucht werden, was den Dummkopf vom Genie unterscheidet. In der Vernunft allein kann es nicht liegen, denn ihre Funktion, die Synthesis, kann, wie die Funktion des Verstandes, bei keinem Menschen verkümmert sein, sondern ist in der Vernunft vereinigt mit ihren Hülfsvermögen: Gedächtniß, Urtheilskraft und Einbildungskraft. Denn was hilft mir die Synthesis, d.h. das Vermögen in indefinitum zu verbinden, wenn ich, beim dritten Gedanken angekommen, den ersten schon vergessen habe, oder wenn ich mir eine Gestalt einprägen will und, am Halse angelangt, den Kopf vermisse, oder wenn ich nicht mit Schnelligkeit Aehnliches zu Aehnlichem, Gleiches zu Gleichem zu stellen vermag? Darum sind die hochentwickelten Hülfsvermögen der Vernunft unerläßliche Bedingungen für ein Genie, es zeige sich als Denker oder als Künstler.

Es giebt einerseits Menschen, welche nicht drei Worte zusammenhängend sprechen können, weil sie nicht zusammenhängend denken können, und andererseits solche, welche ein großes Werk einmal lesen und seinen Gedankengang nie mehr vergessen. Es giebt Menschen, welche stundenlang einen Gegenstand betrachten und doch seine Form sich nicht klar einprägen können, dagegen andere, welche einmal, langsam und klar, das Auge über eine weite Gegend gleiten lassen und sie von da ab für alle Zeit deutlich in sich tragen. Die Einen haben ein schwaches, die Anderen ein starkes Gedächtniß, jene eine schwache, diese eine begnadete Phantasie. Doch ist zu beachten, daß sich der Geist nicht immer rein offenbaren kann, weil seine Thätigkeit vom Willen abhängt, und es wäre verkehrt, aus der stockenden Rede eines ängstlichen, zaghaften Menschen auf seine Geistlosigkeit zu schließen.

Es ist ferner zu bemerken, daß die Genialität zwar eine Gehirnerscheinung ist, aber auf einem quantitativ und qualitativ guten Gehirne nicht allein beruht. Wie ein großer Haufen Kohlen Metall nicht schmelzen kann, wenn nur die Bedingungen für eine langsame Verbrennung gegeben sind, ein tüchtiger Blasebalg dagegen rasch zum Ziele führt, so kann das Gehirn nur hohe Genialität zeigen, |

i57 wenn ein energischer Blutlauf es actuirt, der seinerseits von einem tüchtigen Verdauungssystem und einer kräftigen Lunge wesentlich abhängt.

 

8.

Wenden wir uns zum Willen des Menschen, so haben wir zunächst seine Individualität als Ganzes zu bestimmen. Sie ist geschlossenes Fürsichsein oder Egoismus (Selbstsucht, Ichheit). Wo das Ich aufhört, beginnt das Nicht-Ich, und es gelten die Sätze:

Omnis natura vult esse conservatrix sui. –

Pereat mundus, dum ego salvus sim. –

Der menschliche Wille will, wie Alles in der Welt, im Grunde zunächst das Dasein schlechthin. Aber dann will er es auch in einer bestimmten Weise, d.h. er hat einen Charakter. Die allgemeinste Form des Charakters, welcher gleichsam die innere Seite des Egoismus (der Haut des Willens) ist, ist das Temperament. Man unterscheidet bekanntlich vier Temperamente:

1) das melancholische,

2) das sanguinische,

3) das cholerische,

4) das phlegmatische,

welche feste Punkte sind, zwischen denen viele Varietäten liegen.


Date: 2014-12-29; view: 597


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