Gestern hat sich mein Bruder Johannes eine Haarsträhne grün färben lassen. Die restlichen Haare hat er mit Baby-Öl eingeschmiert, dann hat er sich ganz schwarz angezogen und sich so an den Kaffeetisch gesetzt. Mein Bruder ist fünfzehn und ich bin dreizehn. Er sagt, er sei jetzt ein Punk. Wenn ich ihn frage, was das ist, weiß er das selber nicht so genau.
Jedenfalls gab's einen ziemlichen Krach, als er so vor der versammelten Familie erschienen ist. Meine Eltern haben sich noch nicht mal so aufgeregt, aber dann war da noch meine Tante Vera. Und die ist fast vom Stuhl gefallen, als der Johannes in dem Aufzug reingekommen ist.
"Bist du eigentlich übergeschnappt? Ihr seid ja wohl heute alle total verrückt geworden!" hat sie sich aufgeregt. Der Johannes ist ganz ruhig geblieben, hat einfach nichts gesagt und angefangen, Kuchen zu essen. Das hat meine Tante naturlich nur noch wütender gemacht. Sie fing richtig an zu kreischen: "Kannst du nicht wenigstens deinen Schnabel aufmachen, wenn man dich was fragt? Ich versteh euch aber auch nicht!"
Sie funkelte meine Eltern an. "Lasst ihr die Kinder denn alles machen, was ihnen in den Kopf kommt?" Mein Vater sagte bloß: "Der Junge ist doch alt genug! Der muss schon wissen, was er tut." ? "Alt genug? Fünfzehn Jahre ist der alt! Ein ganz grünes Bürschchen!" Als Tante Vera das Wort grün sagte, mussten wir alle auf die grüne Haarsträhne gucken und lachen. Nur eben Tante Vera, die musste nicht lachen. Sie hat auch gar nicht kapiert, dass wir über die Haare gelacht haben, sondern dachte natürlich, wir lachen über sie, und ärgerte sich schrecklich. "Die wissen doch vor lauter Wohlstand nicht mehr, was sie noch machen sollen! Wisst ihr eigentlich, was wir mit fünfzehn gemacht haben? Mitten im Krieg! Wir sind bei Bauern betteln gegangen! Um ein paar Rüben! Weil wir gehungert haben!"
"Lass das doch, Vera! Die Kinder leben doch heute in einer ganz anderen Welt als wir damals." Meine Mutter stand auf und räumte die Kaffeetassen weg.
Aber Tante Vera war in Fahrt. "Im Luftschutzkeller haben wir gesessen! Und wussten nicht, ob wir da je wieder lebendig rauskommen! Und ihr färbt euch die Haare grün! Und schmiert euch Öl auf den Kopf! Guckt mal lieber in eure Schulbücher!"
"Hör doch bloß auf mit deinen blöden Kriegsgeschichten. Die hängen mir absolut zum Halse heraus, Mensch!" Johannes tat so, als müßte er auf seinen Teller kotzen. Dann sagte er noch: "Versuch doch einfach mal einigermaßen cool zu bleiben, Vera."
Das war zuviel für meine Tante. "Seit wann nennst du mich Vera? Bin ich irgendein Pipimädchen, das neben dir die Schulbank drückt? Das ist doch unerhört! Blöde Kriegsgeschichten hat er gesagt! Euch geht es doch einfach zu gut! Euch ist das doch gar nicht bewusst, was das heißt, im Frieden zu leben! Begreift ihr überhaupt, was das ist?"
Johannes tat weiter ganz cool. Aber ich hab gesehn, dass seine Hände ganz schön zitterten. Dann ist er aufgestanden und hat gesagt: "Vom Frieden hast du wohl selber nicht allzuviel kapiert. Sonst würdest du hier nämlich nicht so einen Tanz machen." Dann ging er einfach raus.
Tante Vera kriegte einen knallroten Kopf und fing an zu heulen. Mein Vater holte die Kognakflasche aus dem Schrank. Meine Mutter sagte zu mir: "Du, geh mal für'n Moment in dein Zimmer,ja?" Mir war alles plötzlich richtig peinlich. Im Flur hab ich Tante Vera noch weiter heulen gehört. Die konnte kaum noch reden. "Wie wir damals gelitten haben! Und da sagt dieser Rotzlümmel 'blöde Kriegsgeschichten'!"
Ich bin raufgegangen. Aus Johannes' Zimmer dröhnte knallaute Musik. Mit einemal hab ich eine Riesenwut gekriegt auf den, bin in sein Zimmer gerannt und hab gebrüllt: "Setz dir wenigstens deine Kopfhörer auf, wenn du schon so 'ne Scheißmusik hörst!"
Johannes hat mich groß angeguckt und gesagt: "Jetzt fängst du auch noch an auszurasten! Was ist hier überhaupt los? Der totale Krieg, oder was?"
Mir war's zu blöd, ich hab die Tür zugepfeffert und mich in mein Zimmer verzogen.
Abends im Bett musste ich nochmals über alles nachdenken. Auch über das, was Tante Vera gesagt hatte. Über die Luftschutzkeller und dass sie Angst gehabt hat und so. Und dass sie meint, wir würden nicht begreifen, was das ist: Frieden. So richtig im Frieden leben wir, glaub ich, auch gar nicht. Aber natürlich auch nicht richtig im Krieg. Wir können schon eine Menge machen, was die damals nicht konnten. Und vieles, was die machen und aushalten mussten, das passiert uns eben nicht, dass wir zum Beispiel hungern müssen oder Angst haben, ob wir den nächsten Tag noch erleben. Da bin ich eigentlich auch unheimlich froh darüber. Aber trotzdem: bloß weil kein Krieg ist, ist noch lange kein richtiger Frieden. Dazu gehört, glaub ich, noch eine ganze Menge mehr.