Im Rahmen der Tempora, die durch das Sem „Ausbleiben im Redemoment" gekennzeichnet sind, kreuzen sich zwei weitere Scheidungslinien, die durch die distinktiven Merkmale 1. „Ablauf vor dem Redemoment" / „Eintritt nach dem Redemoment" und 2. „Ablauf vor einem anderen Geschehen" /0 gekennzeichnet werden:
[.Fut.
2. Fut.
Prät.
Perf,
Plqupf.
l- „Ablauf vor dem Redemoment"
_
-
+
+
2- «Eintritt nach dem Redemoment"
+
+
-
-
-
3. „Ablauf vor einem anderen Geschehen"
+
+/0
+
Distinktive Merkmale mit beschränktem Geltungsbereich sind „Aktualität des vergangenen Geschehens im Redemoment" sowie „Distanzierung des
vergangenen Geschehens vom Redemoment". Sie scheiden die einzelnen Vergangeoheitstempora:
Prät.
Perf.
Plqupf.
1. „Aktualität des vergangenen Geschehens im Redemoment"
-
+
-
2. „Distanzierung des vergangenen Geschehens vom Redemoment"
+
-
+ '
DIE MODI
Allgemeines
Die Kategorie der Modi (Sagweisen, Aussageweisen)gehört ebenfalls zu den prädikativen oder satzgestaltenden Kategorien des Verbs, die den Satz als eine Äußerung oder ein Teil einer Äußerung prägen. Durch den Modus des Verbs charakterisiert der Sprechende das geschilderte Geschehen und somit seine gesamte Äußerung hinsichtlich der Realität: Das Geschehen wird entweder als: tatsächlich statthabend / stattgehabt / stattzuhabend hingestellt (der Indikativ) oder aber als: in der Wirklichkeit nicht statthabend, sondern nur: möglich / möglich gewesen, unter gewissen Bedingungen realisierbar / realisierbar gewesen, erwünscht u. Ä. (der Konjunktiv).
Diesen Gegensatz von: tatsächlich statthabend / in der Wirklichkeit nicht statthabend veranschaulicht folgender Dialog:
Man sitzt bei Tische, man ist beim Obste angelangt und speist unter behaglichen Gesprächen. Plötzlich jedoch legt Christian einen angebissenen Pfirsich auf den Teller zurück, sein Gesicht ist bleich, und seine runden, tiefliegenden Augen über der allzu großen Nase haben sich erweitert.
„Ich esse nie wieder einen Pfirsich ", sagt er.
„Warum nicht, Christian.,. Wasßr ein Unsinn... Was ist dir?"
„Denkt euch, wenn ich aus Versehen... diesen großen Kern verschluckte, und wenn er mir im Halse steckte.,. und ich nicht Luft bekommen könnte.,. und ich spränge auf und würgte gräßlich und ihr alle spränget auch auf..." Und plötzlich ßgt er ein kurzes, stöhnendes „Oh!" hinzu, das voll ist von Entsetzen, richtet sich unruhig auf seinem Stuhl empor und wendet sich seitwärts, als wollte er fliehen.
Die Konsulin und Mamsell Jungmann springen tatsächlich auf.
„ Gott im Himmel, — Christian, du hast ihn doch nicht verschluckt?!"
Denn es hat vollkommen den Anschein, als sei es wirklich geschehen.
„Nein, nein ", sagt Christian und beruhigt sich allmählich, „aber wenn ich ihn verschluckte*" (Th. Mann)
Die Opposition: tatsächlich statthabend / in der Wirklichkeit nicht statthabend findet ihren Ausdruck in der Gegenüberstellung von zwei Mikropa-radigmen im System der Verbalformen:
cüeFormendes Indikativs die Formen des Konjunktivs (auch „Wirklichkeitsformen" (auch „Möglichkeitsformen oder genannt) Nichtwirklichkeitsformen" genannt)
er kommt / er käme, wenn...
käme er]
er kann das machen I er könnte das machen
er hat das gemacht l er hätte das gemacht, wenn...
Dass der Imperativ trotz der traditionellen Ansicht kein drittes Gegenglied dieser Opposition ist, sondern den beiden Modi auf Grund einer anderen Opposition gegenübersteht, wurde schon erwähnt (s. S. 65).
§ 33. Der Indikativ
Man bezeichnet den Indikativ als das schwache (merkmallose) Oppositionsglied gegenüber dem Konjunktiv. Jung nennt den Indikativ den Normalmodus („normal, weil neutral" [138]). Der normale Modus ist der Indikativ vor allem deshalb, weil er in der Rede den natürlichen Redeverhälmissen gemäß unvergleichlich häufiger vorkommt als der Konjunktiv. Er ist aber durchaus nicht neutral oder merbmallos in dem Sinne, dass er keine eigene modale Bedeutung besitzt. Die paradigmatischen Bedeutungen der beiden Modi weisen den gleichen Grad von Bestimmtheit auf, indem sie einander gegenseitig abgrenzen und prägen. Eine Verbalform wie (er) kommt ist nicht nur ein Präsens, sondern zugleich eine Indikativform. Sie enthält eine zweifache Information, 1) dass das Geschehen tatsächlich stattfindet, und zwar — 2) im Redemoment. Ähnlich: (er) kam, (er) ist gekommen usw,
Auch in struktureller Hinsicht hat das Mikroparadigma des Indikativs im Vergleich zu dem des Konjunktivs seine eigenen Kennzeichen, Zwar besitzt der Indikativ kein spezielles Bildungsmorphem, (wie das Suffix -e im Konjunktiv), doch sind die Formen des Indikativs und die des Konjunktivs einander gegenübergestellt: a) durch den Morphembestand der Verbalformen (vgl. du kommst I du komm-e-st)\ b) durch die Personalendungen im Präsens und in allen analytischen Formen (vgl. er komm-t I er êîòò~å-); î) durch das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein der inneren Flexion (vgl. du gibst I du geb-e-st; er kam-1 er käm-e-).
Ein wichtiges Kennzeichen, das die einzelnen Tempusformen des Indikativs und die des Konjunktivs voneinander unterscheidet, ist außerdem, dass sie neben der verschiedenen modalen Bedeutung auch einen verschiedenen zeitlichen Bezug haben. Was bereits über die zeitliche Bedeutung des Präsens oder des Präteritums gesagt wurde (vgl S. 82 ff., 88 ff.), bezieht sich nicht auf das Präsens durchweg, oder auf das Präteritum durchweg, sondern ausschließlich auf den Indikativ Präsens bzw. auf den Indikativ Präteritum. Zwischen der zeitlichen Bedeutung der Tempusformen des Indikativs und denen des Konjunktivs gibt es keine Parallelität. Vgl,:
1) Es war Frühling — a) Wirklichkeitsform; b) auf die Vergangenheit bezogen;
2) Ich wollte, es wäre Frühling — a) Nichtwirklichkeitsform; b) auf die Gegenwart bezogen.
Diese Divergenz zwischen Indikativ und Konjunktiv hinsichtlich der zeitlichen Bedeutung ihrer Tempusformen erklärt sich dadurch, dass die Mikro-paradigmen der beiden Modi auf verschiedenen Oppositionsverhältnissen beruhen. Über die Oppositionsverhältnisse im Mikroparadigma des Konjunktivs wird weiter unten berichtet werden. Was die Oppositionsverhältnisse im Paradigma des Indikativs angeht, so sind sie bereits erörtert worden (s. S. 87 ff.). Wir sahen, dass sie rein zeitlicher Naturwaren. Die modale Bedeutung aller Tempora des Indikativs ist invariabel, was uns erlaubte, die entsprechende Bedeutungskomponente (Sem) der Einfachheit halber in der obigen Darstellung der Tempora auszuklammern. Es ließe sich wie folgt re-stituieren:
„Distanzierung des vergangenen Geschehens vom Redemoment"
Ind. Perf.
„Ablauf vor dem Redemoment"
„Aktualität im Redemoment"
„Ablauf vor einem im Redemoment gültigen Geschehen"
Ind. Plqupf.
„Ablauf vor einem anderen vergangenen Geschehen"
Ind. I. Fut
„Eintritt nach dem Redemoment"
Ind. 2.Fut.
„Ablauf vor einem anderen zukünftigen Geschehen oder einem ausstehenden und ins Auge gefassten Zeitpunkt"
Wie bei den anderen grammatischen Kategorien ist die Neutralisation der kategoriellen Bedeutung der Modi möglich. Sie erfolgt bei der Transposition des Indikativs auf die Ebene des Konjunktivs und umgekehrt.
§ 34. Die Oppositionsverhältnisse im Mikroparadigma des Konjunktivs
Bezeichnend für das Mikroparadigma des Konjunktivs ist, dass es zum Unterschied vom Mikroparadigma des Indikativs nicht einheitlich in modaler Hinsicht ist. Im Rahmen des Konjunktivs stehen einige modale Bedeutungen einander gegenüber, die an bestimmte Tempusfotmen des Konjunktivs oder an Gruppen von Tempusformen gebunden sind, so dass jede Tempusform im Mikroparadigma des Konjunktivs Kreuzpunkt von zweifachen Oppositionen ist, einer modalenund einer zeitlichenOpposition.
Das Gesamtbild wird noch komplizierter, da sich nicht alle modalen Bedeutungen des Konjunktivs in eineOppositionsreihe einordnen lassen. Auch der Zeitbezug der Tempusformen des Konjunktivs und die jeweiligen synonymischen Beziehungen der Tempusformen zueinander variieren je nach dem Anwendungsbereich dieser Formen.
I. Im Rahmen der Grundbedeutung des Konjunktivs: in der Wirklichkeit nicht statthabend / stattgehabt stehen einander zwei modale Einzelbedeutungen gegenüber:
a) „In der Wirklichkeit nicht statthabend, aber als realisierbar gedacht" (der heischende Konjunktiv):
Edel sei der Mensch, hilfreich und gut. (Goethe) Jeder Autor, und sei er noch so groß, wünscht, dass sein Werk gelobt werde, (Heine)
b) „In der Wirklichkeit nicht statthabend und nicht als realisierbar ge dacht" (der irreale Konjunktiv):
Wenn ich eine Schwalbe wäre, flog' ich zu dir mein Kind. (Heine) Î Gott, î Gott, hätte ich das nur nicht getan. (H.Mann)
Die erste von diesen modalen Bedeutungen ist an eine einzige Tempusform des Konjunktivs gebunden — an den Konjunktiv Präsens (mit Gegen-warts- und Zukunftsbezug). Die zweite modale Bedeutung ist an die sog. präteritalenTempusformen des Konjunktivs gebunden, die man gewöhnlich unter der Bezeichnung Konjunktiv IIzusammenfasse
Es stehen zwei Gruppen von Tempusformen des Konjunktivs einander gegenüber:
Konjunktiv I
Konjunktiv II
Präsens
Präteritum
Perfekt
Plusquamperfekt
1. Futur
1. Konditional
2. Futur
2. Konditional
An der Opposition: heischender Konjunktiv / irrealer Konjunktiv beteiligt sich nur eine Tempusform des Konjunktivs I, der Konjunktiv Präsens,
der allen Tempusformen des Konjunktivs II gegenübersteht. Zum Gebrauch der anderen Formen des Konjunktivs I s. S. 109 ff.
Unter den Tempusformen der Gruppe Konjunktiv IIbestehen ein zeitliches Oppositionsverhältnis und synonymische Beziehungen. Der Konjunktiv Präteritum und der 1. Konditional sind wie der Konjunktiv Präsens auf die Gegenwart und die Zukunft bezogen, der Konjunktiv Plusquamperfekt und der 2. Konditional auf die Vergangenheit. Zwischen dem Konjunktiv Präsens und dem Konjunktiv Präteritum besteht also keine zeitliche Opposition.
Die oben geschilderten Oppositionsverhältnisse im Mikroparadigma des Konjunktivs können also wie folgt zusammengefasst werden:
Konjunktiv — in der Wirklichkeit nicht statthabend 1. modale Opposition:
als realisierbar gedacht nicht als realisierbar gedacht
Konj. Präs.
2. zeitliche Opposition:
Gegenwart und Zukunft Vergangenheit f Konj. Präs. f Konj. Pluqupf.
( 1, Kondit. l 2. Kondit.
2. Das vorstehende Oppositionsschema umfasst weder alle Verbalformen des Mikroparadigmas des Konjunktivs (ausgeklammert bleiben der Konjunktiv Perfekt und der Konjunktiv Futur), noch die Gesamtleistung des Konjunktivs in modaler Hinsicht.
Ein selbstständiger Anwendungsbereich des Konjunktivs gegenüber dem oben geschilderten ist der Ausdruck der Modalität, der indirekten (mittelbaren) Darstellung. Er unterscheidet sich von dem obigen auch formell durch gänzlich verschiedenen Gebrauch der Tempora und durch den Charakter der zeitlichen Opposition, die ihm zugrunde liegt.
Die Modalität der direkten (mittelbaren) Darstellung ist die Modalität der berichteten Redeim weiteren Sinne des Wortes. Ihr Bereich ist vor allem die indirekte Rede als solche, d. h. die Wiedergabe fremder Äußerungen sowie die Wiedergabe von Gedanken und seelischen Regungen einer anderen Person oder des Sprechers selbst:
Die Ordonnanz war gegangen, den Sergeanten zu holen, und nun stellte Saint-Just seinem Kollegen Fragen... Die Ordonnanz kam zurück und meldete, der Sergeant warte draußen. (Bredel)
Ja, Papa... undich habe Erika sehr lieb... obgleich Grünlich behauptet, ich sei nicht kinderlieb. (Th.Mann)
Gleichem Prophezeiung, dass die Gestapo eines Tages auch in Wolfgangs Haus êîò-men würde, traf tatsächlich ein... (Kellermann)
Wolf gang war nicht verheiratet. Er war der Ansicht, dass Frauen und Kinder zu viel Unruhe ins Haus brächten und ein Künstler nur seiner Kunst leben sollte. (Kellermann)
Der Vergleich dieser Beispiele zeigt, dass der Konjunktiv der berichteten Rede gebraucht werden kann sowohl zur Wiedergabe solcher Äußerungen, die von dem Sprechenden als der Wirklichkeit entsprechend qualifiziert werden, als andererseits auch zur Wiedergabe von Äußerungen, deren Gehalt der Wirklichkeit augenscheinlich widerspricht. Daraus ist zu schließen, dass der Konjunktiv der berichteten. Rede entgegen der ziemlich verbreiteten Meinung an der Opposition: tatsächlich statthabend /in der Wirklichkeit nicht statthabend nicht beteiligt ist. Er zeigt nicht, ob der Sprechende den Inhalt der berichteten Rede als der Wirklichkeit entsprechend oder als nicht entsprechend betrachtet; darüber informieren uns der Kontext, gewisse Redewendungen und Modalwörter, die Satzform, z. B. der als (als ob) -Satz u. Ä.
Die eigentliche Leistung des Konjunktivs in den vorangehenden Beispielen besteht darin, dass er die berichtete Rede als åùå besondere Sagweise, eine besondere Art der Darstellung der Wirklichkeit kennzeichnet und sie der direkten Rede gegenüberstellt. Während die direkte Rede eine wirkliche oder unwirkliche Äußerung über bestimmte Geschehnisse und Vorgänge ist, sind der Mitteüungsgegenstand der berichteten Rede nicht die nämlichen Geschehnisse und Vorgänge, sondern Äußerungen einer dritten Person (oder seltener auch eigene frühere Äußerungen oder Gedanken, vgl. Beispiele S. Ø6) über bestimmte Geschehnisse und Vorgänge sowie über die von diesen Geschehnissen angeregten Gedanken und Gefühle.
Es liegt also eine modale Opposition zwischen verschiedenen Darstellungsweisen von Sachverhalten vor, an der sowohl der Indikativ als auch der Konjunktiv teilnehmen:
unmittelbare Darstellung mittelbare Darstellung
von Geschehnissen von Geschehnissen durch
die berichtete Rede
Äußerung über Äußerung aber
tatsächlich etwas in Wirklichkei t
Statthabendes Nichtstatthabendes
Indikativ Konjunktiv Konjunktiv
Der Tempusgebrauch des Konjunktivs der berichteten Rede unterscheidet sich grundsätzlich von dem oben geschilderten:
a) Die modale Bedeutung aller Tempusformen beim Konjunktiv der be richteten Rede ist im Wesentlichen einheitlich, so dass die Wahl der Tem pusform, durch die zeitliche Opposition geregelt wird (s. aber S. 119);
b) Der Verwendung der Tempora liegt die indirekte (relative) Zeit zu grunde; dabei ist die zeitliche Opposition hier im Gegensatz zu den indirek ten Tempora des Indikativs dreigliedrig: Vorzeitigkeit / Gleichzeitigkeit / Nachzeitigkeit;
c) Die synonymischen Verhältnisse zwischen den Tempusformen sind wie folgt:
/ Konj. Präs. f Konj, Perf. f Konj. 1. Fut.
1 Konj. Prät. l Konj. Plqupf. 11. Kondit. f
In der berichteten Rede werden die Tempusforraen des Konjunktivs auf Grund folgender zeitlicher Opposition gebraucht:
Vorzeitigkeit
/ Gleichzeitigkeit f Konj. Präs. l Konj.Prät.
/ Nachzeitigkeit f Konj. 1. Fut. l 1. Kondit.
Das gesamte System der Oppositionen auf dem die Verwendung des Konjunktivs der direkten und der berichteten Rede beruht, kann wie folgt zu-sammengefasst werden:
1. modale Opposition:
mittelbare Darstellung von
unmittelbare Darstellung von Geschehnissen Geschehnissen durdi^ie berichtete Rede
als tatsächlich
X
als in der Wirklichkeit
statthabend
nicht statthabend
Indikativ
Konjunktiv
Konjunktiv
/
A\
2. modale
/
4. zeitliche Opposition
Opposition:/
/
\
als realisierbar nicht als realisierbar Vorzeitigkeit-Gleichzeitigkeit-Nachzeitigkeit gedacht gedacht f Konj. Perf. f Konj. Präs. f Konj. 1. Fut.
Konj. Präs. /1 l Konj. Plqupf. 1 Konj.Prät. 11. Kondit.
3. zeitliche Opposition:
Gegenw.=Zufc. Vergangenheit f Konj. Prät. f Konj. Plqupf. U. Kondit. 12. Kondit.
Das starke (merkmalhaltige) Oppositionsglied der Opposition: unmittelbare Darstellung / mittelbare Darstellung ist ohne Zweifel das zweite Glied. Hier fühlen wir die Modalität der mittelbaren Darstellung immer, während die Modalität der unmittelbaren Darstellung als schwaches (merkmalloses) Glied zwar immer vorliegt, doch von der Opposition: tatsächlich statthabend / in der Wirklichkeit nicht statthabend in den Hintergrund gedrängt wird.
Die Vielfalt der modalen Bedeutungen, die vom Konjunktiv ausgedrückt werden, veranlasst die Sprachforscher zur Untergliederung der Konjunktivformen in einzelne Tempusgruppen oder sogar in einzelne Modi. So unter-
scheidet zum Beispiel Glinz innerhalb des Konjunktivs zwei „Modi", die er dem Indikativ als einem dritten Modus gegenüberstellt:
fest anzunehmen nur zu denken
allgemein vergangen
sei, komme wäre, käme
V (er) ist, kommt war, kam
(s.: [81]; ähnlich [38]). Der Konjunktiv der berichteten Rede kommt weder für Glinz, noch für Brinkmann als besonderer Modus in Frage, da sie ihn inhaltlich nicht von dem Konjunktiv I trennen. Nach Glinz zum Beispiel weist der Konjunktiv in der indirekten Rede daraufhin, „daß der Verbinhalt nicht als zweifellos erfolgt und vom Sprecher verbürgt erscheint, sondern daß seine Verwirklichung nur angenommen wird, daß man sie nur als möglichen und wahrscheinlichen Fall setzt" [81].
Unter Berücksichtigung der Eigenart des Konjunktivs der berichteten Rede unterscheidet Flämig drei Hauptverwendungsweisen des Konjunktivs: 1) den Konjunktiv des irrealen Geschehens — Konj. II; 2) den Konjunktiv der mittelbaren Aussage — Konj. I; 3) den heischenden oder den voluntativen Konjunktiv —Konj. Vol. I und II im Aufforderungssatz (Konj. I) und im Wunschsatz [71].
_ Eine ähnliche Klassifikation finden wir bei W Schmidt vor: 1) der volun-tative oder optative Konjunktiv zum Ausdruck einer Bitte oder eines Wunsches {Es lebe der Frieden] Hättest du doch auf mich gehört*)', 2) der hypothetische Konjunktiv zum Ausdruck von Unbestimmtheit, Möglichkeit, Zweifel oder NichtWirklichkeit (So wäre es wohl besser gewesen; Fast wäre ich zu spät gekommen); 3) der oblique (abhängige) Konjunktiv in den Gliedsätzen der indirekten Rede {Mein Bruder schreibt mir, er könne nicht kommen).
Die zwei letzten Klassifikationen stimmen im Wesentlichen mit unserem Schema der Oppositionsverhältnisse im Formensystem des Konjunktivs überein, ausgenommen die Ausgliederung des heischenden (voluntativen) Konjunktivs II, die wir für überflüssig halten, da der heischende Konjunktiv II keine Eigenart gegenüber der Grundbedeutung des Konjunktivs Ï als Aus-drucksform des irrealen Geschehens aufweist.
§ 35. Der heischende Konjunktiv Präsens
Außerhalb der berichte ten Rede wird nur eine Tempusform des Konjunktivs I, der Konjunktiv Präsens gebraucht. Seine Grundbedeutung ist tatsächlich nicht statthabend, aber als realisierbar gedacht
Der Hauptanwendungsbereich des Konjunktivs Präsens sind der Wunschsatz, der Aufforderungssatz und einige andere Satztypen, die mit verschiedenem Grad des Wunsches des Sprechers verbunden sind, so dass zur Be-
deutung des Konjunktivs Präsens eine „heischende Komponente" tritt, daher auch die Benennungen: „heischender", „voluntativer", „optativer" Konjunktiv:
Es lebe die Republik).
Gott helfe ihnenl
Wer dazu stimmt, erhebe seine Händel
Der Bedeutungsgehalt des heischenden Konjunktivs Präsens ist:
Grammem
Bedeutungskomponenten (Seme)
der Konjunktiv Präsens
„tatsächlich nicht statthabend"
„erwünscht, gefordert"
„als realisierbar gedacht"
Der Konjunktiv Präsens hat folgenden Anwendungsbereich:
a) Wunschsatz
„Vorwärts zum Sturm, vernichten wir die Söldlinge der Despoten! Es lebe die Repu-bltkl" (Bredel)
„Professor.1" schrie er. „Was haben sie aus unserer Jugend gemacht in ihren Arbeitslagern und ihren Ausbildungsschulen? Gott möge sie in die tiefste Hölle verdammen! Sie haben sie zu wilden Tieren dressiert, sie haben sie in reißende Bestien verwandelt." (Kellermann)
Es seien diese Verse abgesandt,
Die Ehrenbotschaft dir zu überbringen;
Du sei fortan Die Ewige Stadt genannt!
Und schon erheben sich, dir Dank zu singen,
Die Städte alle. (Becher)
b) Au ff orderung ss atz
Man stelle sich einen rechtwinkligen Felsblock vor, etwa achtzig Meter lang, zehn Meterhoch, fünfMeter breit. (Kisch) Wer dazu stimmt, erhebe seine Hände. (Schüler)
c)PostuIierender Aussagesatz
A. sei ein Punkt auf der Geraden X.
Der Doktor Becker, so sei unser Mann genannt, ist mit schwankenden Gefühlen an Bord des englischen Passagierdampfers. (Kisch)
d) Einräumungssatz (Konzessivsatz)
Jeder Autor, und sei er noch so groß, wünscht, dass sein Werk gelobt werde. (Heine)
e)Finalsatz
Damit er wenigstens einigen Komfort für diese Fälle habe, richtete sie ihm ein Schlafzimmer mit Bad und ein Speisezimmer im Syndikatgebäude ein... (Kellermann)
f) Andere Satztypen mit heischendem Inhalt
Hier sitz' ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei:
Zu leiden, zu weinen,
Zu genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ichl (Goethe)
Angesichts des vielfältigen Gebrauchs des heischenden Konjunktivs Präsens spricht die traditionelle Grammatik von verschiedenen Bedeutungsschattierungen des Konjunktivs Präsens: von dem Optativen Konjunktiv im Wunschsatz, dem imperativischen Konjunktiv im Aufforderangssatz, dem einräumenden Konjunktiv, dem finalen Konjunktiv. Diese Einteilung der Bedeutungen des Konjunktivs Präsens ist auch in einigen der neueren Forschungen anzutreffen, zum Beispiel bei Schendels, die an diese Unterarten des heischenden Konjunktivs verschiedenen Semengehalt knüpft (216]. Doch ist ausdrücklich zu betonen, dass die Gesamtbedeutung des Konjunktivs Präsens als Verbalform in allen diesen Fällen die gleiche ist. Was verschiedene Bedeutungsmodifikationen hervorruft, ist das Zusammenwirken der Bedeutung des Konjunktivs mit der grammatischen Bedeutung des Satztyps (Satzmodells) und mit dem lexikalischen Kontext (vgl. darüber: [71, 216]). So schreibt Flämig: „Die Modusaussage im deutschen Satz wird durch einen Zeichenkomplex ausgedrückt. Als wichtigste Komponenten sind zu erfassen: der Aussagewert des Konjunktivs (Flexion), der grammatische Aussagewert des Kontextes (Syntax), der inhaltliche Aussagewert des Kontextes (Wortwahl)" [72].
Das Zusammenwirken der Bedeutung der Konjunktivform und des Aussagewertes des Satzmodells tritt besonders klar in solchen Typen von Gliedsätzen zutage wie dem Finalsatz, wo die Bedeutungskomponente „Absicht", die die Grundbedeutung des Konjunktivs Präsens überlagert, nicht der Verbalform, sondern dem Satztyp eigen ist. Es handelt sich also nicht um den finalen Konjunktiv Präsens als Abart des heischenden Konjunktivs Präsens, sondern um das Zusammenwirken der grammatischen Bedeutung des Finalsatzes mit der Gesamtbedeutung der Verbalform. Ähnlich im Konzessivsatz, wo die Bedeutung der Einräumung dem Satztyp eigen ist und mit der Grundbedeutung der Verbalform zusammenwirkt.
Eine enge Verbindung der Bedeutung der Verbalform und des grammatischen Aussagewertes der Satzstraktur tritt uns auch im Aufforderimgssatz entgegen. Diese Satzmodelle werden überhaupt erst von dem heischenden Konjunktiv geprägt,und der Ersatz des Konjunktivs durch den Indikativ löst das Satzmodell auf. Vgl.:
a) Wunschsatz Gott helfe ihm\
b) Aufforderungssatz Man gebe auf Folgendes Acht.
Ersatzprobe Gott hilft ihm.
Man gibt auf Folgendes Acht.
Im Wunschsatz und im Aufforderangssatz tritt auch das Zusammenwirken der Bedeutung der Verbalform und des lexikalischen Kontextes sehr klar zutage. Ob der Wunschsatz ein Gebot, einen sehnlichen Wunsch, eine Selbstverwünschung (Hol mich der Teufeil), ein allgemeines Erfordernis (Es sei gesagt...) ausdrückt, ob der Aufforderungssatz einen Befehl, eine Bitte, eine Empfehlung ausdrückt, hängt einzig und allein von der Wortwahl, das heißt vom lexikalischen Kontext ab.