Home Random Page


CATEGORIES:

BiologyChemistryConstructionCultureEcologyEconomyElectronicsFinanceGeographyHistoryInformaticsLawMathematicsMechanicsMedicineOtherPedagogyPhilosophyPhysicsPolicyPsychologySociologySportTourism






Opicina, 16. November 1992 9 page

Wenn man einen Mann liebt – wenn man ihn mit Leib und Seele liebt –; ist es das Natürlichste von der Welt, sich ein Kind zu wünschen. Es handelt sich nicht um einen intelligenten Wunsch, um einen auf vernunftbestimmte Überlegungen gegründeten Entschluß. Bevor ich Ernesto kannte, dachte ich, ich wollte ein Kind, und wußte genau, warum ich es wollte, was dafür und was dagegen sprach. Kurz und gut, es war eine vernunftbestimmte Entscheidung, ich wollte ein Kind, weil ich ein gewisses Alter erreicht hatte und viel allein war, weil ich eine Frau war, und wenn die Frauen sonst nichts tun, können sie wenigstens Kinder kriegen. Verstehst du? Beim Kauf eines Autos hätte ich genau die gleichen Überlegungen angestellt.

Als ich aber in jener Nacht zu Ernesto gesagt habe: »Ich will ein Kind«, war das etwas ganz anderes, der ge-samte gesunde Menschenverstand sprach gegen diese Entscheidung, und doch war diese Entscheidung stärker als aller gesunde Menschenverstand. Und eigentlich war es gar keine Entscheidung, es war eine Raserei, eine Gier nach dauerhaftem Besitz. Ich wollte Ernesto in mir, bei mir, neben mir, für immer. Wenn du jetzt liest, wie ich mich verhalten habe, wird es dich vor Grauen schütteln, du wirst dich fragen, wieso du nie zuvor gemerkt hast, daß ich so niederträchtige, verächtliche Charakterzüge in mir verberge. Als ich am Bahnhof von Triest ankam, habe ich das einzige getan, was mir übrigblieb, ich bin aus dem Zug gestiegen und habe mich wie eine zärtliche, sehnsüchtige, verliebte Ehefrau benommen. Augusto war von meiner Veränderung sofort beeindruckt, anstatt sich Fragen zu stellen, fühlte er sich angezogen.

Nach einem Monat war es vollkommen glaubhaft, daß das Kind von ihm war. An dem Tag, an dem ich ihm das Ergebnis der Untersuchungen mitteilte, verließ er am helllichten Vormittag das Büro, und wir verbrachten den ganzen Tag damit, für die Ankunft des Kindes Veränderungen im Haus zu planen. Als ich mich zu meinem Vater beugte und ihm die Nachricht zuschrie, nahm er meine Hände zwischen die seinen und hielt sie eine Weile re-gungslos fest, während seine Augen feucht wurden und sich röteten. Schon seit einiger Zeit hatte die Schwerhörig-
keit ihn aus einem großen Teil des Lebens ausgeschlossen, Gespräche mit ihm gingen stockend vonstatten, zwischen einem Satz und dem nächsten entstand plötzlich eine Leere oder es tauchten unzusammenhängende Erinne- rungsbilder auf, die nichts mit dem Thema zu tun hatten. Ich weiß nicht, warum, aber angesichts seiner Tränen emp-fand ich anstatt Rührung eher einen leichten Unmut. Ich sah darin nur Rhetorik, sonst nichts. Die Enkelin hat er dann nicht mehr gesehen. Er starb im Schlaf, ohne zu leiden, als ich im sechsten Monat schwanger war. Als ich ihn hergerichtet im Sarg liegen sah, beeindruckte es mich, wie schmal und hinfällig er geworden war. Auf seinem Gesicht lag der gleiche Ausdruck wie immer, fern und unbeteiligt.



Natürlich schrieb ich auch an Ernesto, nachdem ich die Ergebnisse erfahren hatte; seine Antwort kam in weniger als zehn Tagen. Ich wartete einige Stunden, bis ich den Brief öffnete, ich war sehr aufgeregt und fürchtete, er könne etwas Unangenehmes enthalten. Erst am späten Nachmittag entschloß ich mich, ihn zu lesen, und um es ungestört tun zu können, schloß ich mich in der Toilette eines Cafes ein. Seine Worte waren gelassen und vernünftig. »Ich weiß nicht, ob es das beste ist«, schrieb er, »aber wenn du so entschieden hast, respektiere ich deine Entscheidung.«

Von dem Tag an, da nun alle Hürden genommen waren, erwartete ich gelassen mein Kind. Ob ich mir wie ein Ungeheuer vorkam? Ob ich eins war? Ich weiß nicht. Im Lauf der Schwangerschaft und noch viele Jahre später habe ich nie einen Zweifel oder Gewissensbisse gehabt. Wie ich so tun konnte, als liebte ich einen Mann, während ich das Kind eines anderen, den ich wirklich liebte, im Bauch trug? Nun, siehst du, in der Wirklichkeit sind die Dinge nie so einfach, sie sind nie ganz schwarz oder ganz weiß, jede Farbe birgt viele Schattierungen in sich. Es kostete mich keinerlei Mühe, liebevoll und freundlich zu Augusto zu sein, weil ich ihn wirklich mochte. Anders als Ernesto, nicht so, wie eine Frau einen Mann liebt, sondern so, wie eine Schwester einen älteren, etwas langweiligen Bruder liebt. Wenn er böse gewesen wäre, hätte alles ganz anders ausgesehen, und ich hätte es mir nie träumen lassen, mit ihm zu leben und ein Kind zu bekommen, aber er war nur tödlich methodisch und vorhersehbar; davon abgesehen war er im Innersten freundlich und gütig. Er war glücklich über dieses Kind, und ich war glücklich, es ihm zu schenken. Aus welchem Grund hätte ich ihm das Geheimnis enthüllen sollen? Damit hätte ich drei Leben auf Dauer ins Unglück gestürzt. Jedenfalls dachte ich damals so. Jetzt, da es Bewegungsfreiheit, Entscheidungsfreiheit gibt, mag das, was ich getan habe, wirklich schrecklich erscheinen, aber damals – als ich mich in dieser Situation befand – war es etwas eher Gewöhnliches, ich will nicht behaupten, daß es bei jedem Paar der Fall war, aber gewiß kam es recht häufig vor,daß eine Frau im Rahmen einer Ehe ein Kind von einem anderen Mann empfing. Was dann passierte? Genau das, was mir auch passiert ist: nichts. Das Kind wurde geboren, wuchs zusammen mit den Geschwistern auf, wurde erwachsen, ohne daß es je den geringsten Verdacht schöpfte. Die Familie hatte damals unerschütterliche Grundfesten, um sie zu zerstören, brauchte man viel mehr als nur ein fremdes Kind. So ging es auch mit deiner Mutter. Sie kam zur Welt und wurde sofort meine und Augustes Tochter. Das wichtigste für mich war, daß Ilaria ein Kind der Liebe und nicht des Zufalls, der Konventionen oder der Langeweile war; ich dachte, das würde alle anderen Probleme beseitigen. Wie sehr ich mich irrte!

In den ersten Jahren jedoch verlief alles ganz natürlich und ohne Erschütterungen. Ich lebte nur für sie, ich war eine sehr zärtliche und aufmerksame Mutter – oder glaubte jedenfalls, es zu sein. Schon vom ersten Sommer an hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, die heißen Monate zusammen mit dem Kind an der adriatischen Riviera zu verbringen. Wir mieteten ein Haus, und Augusto kam alle zwei bis drei Wochen über das Wochenende zu uns.

Dort am Strand sah Ernesto seine Tochter zum ersten Mal. Natürlich tat er so, als sei er ein Fremder, beim Spa- zierengehen ging er »zufällig« neben uns, mietete einen Sonnenschirm in wenigen Schritten Entfernung und be- obachtete uns von dort – wenn Augusto nicht da war – stundenlang hinter einem Buch oder einer Zeitung hervor. Am Abend schrieb er mir dann lange Briefe, in denen er alles erzählte, was ihm durch den Kopf gegangen war, seine Gefühle für uns, was er gesehen hatte. Unterdessen hatte auch seine Frau noch ein Kind bekommen, er hatte die Saisonarbeit in dem Kurort aufgegeben und in der Stadt, wo er wohnte, Ferrara, eine Privatpraxis eröffnet. In Ilarias ersten drei Lebensjahren haben wir uns, abgesehen von den angeblich »zufälligen« Begegnungen, nie gesehen. Ich war sehr von der Kleinen in Anspruch genommen, erwachte jeden Morgen voller Freude mit dem Wissen, daß es sie gab, und auch wenn ich gewollt hätte, hätte ich mich nichts anderem widmen können.

Kurz bevor wir nach dem letzten Aufenthalt in der Kurstadt auseinandergingen, hatten Ernesto und ich einen
Pakt geschlossen. »Jeden Abend«, hatte Ernesto gesagt, »werde ich Punkt elf, wo immer ich auch bin und was im-mer ich gerade tue, ins Freie treten und Sirius am Himmel suchen. Du wirst es genauso machen, und so werden sich unsere Gedanken, auch wenn wir weit voneinander entfernt sind, auch wenn wir uns lange nicht gesehen haben und nichts voneinander wissen, dort oben treffen und beieinander sein.« Dann waren wir auf den Balkon des Pen- sionszimmers gegangen, und den Finger zu den Sternen hebend, neben Orion und Betelgeuse, hatte er mir Sirius gezeigt.

Dezember

 

Diese Nacht wurde ich plötzlich von einem Geräusch geweckt, ich habe eine Weile gebraucht, bis ich begriff, daß es das Telefon war. Als ich aufgestanden bin, hatte es schon lange geläutet, und als ich endlich davor stand, schwieg es. Ich habe dennoch den Hörer abgenommen und mit schlaftrunkener Stimme zwei- oder dreimal »hallo« gesagt. An- statt ins Bett zurückzugehen, habe ich mich in den Sessel daneben gesetzt. Warst du es ? Wer sonst hätte es sein kön-nen? Jener Klang in der nächtlichen Stille des Hauses hatte mich erschreckt. Mir fiel eine Geschichte ein, die eine Freundin mir vor ein paar Jahren erzählt hat. Ihr Mann lag schon lange im Krankenhaus. Wegen der starren Besuchs-zeiten konnte sie an dem Tag, an dem er starb, nicht bei ihm sein. Überwältigt von dem Schmerz, ihn auf diese Weise verloren zu haben, konnte sie in der ersten Nacht keinen Schlaf finden. Sie lag wach im Dunkeln, als plötzlich das Telefon klingelte. Sie war überrascht, konnte es wirklich sein, daß jemand sie um diese Zeit anrief, um sein Beileid kundzutun? Während sie die Hand nach dem Hörer ausstreckte, fiel ihr eine seltsame Sache auf: Ein zitternder Lichtschein ging von dem Apparat aus. Kaum hatte sie abgehoben, verwandelte sich die Überraschung in Entsetzen. Auf der anderen Seite der Leitung hörte sie eine sehr ferne Stimme, die nur mit Mühe sprechen konnte: »Marta«, sagte sie zwischen Pfeifen und Knacken, »ich wollte mich von dir verabschieden, bevor ich gehe...« Es war die Stimme ihres Mannes. Nach diesem Satz war einen Augenblick lang ein Geräusch von starkem Wind zu hören gewesen, dann wurde die Verbindung unterbrochen und Schweigen kehrte ein.

Damals hatte ich meine Freundin bedauert wegen des Zustands tiefer Verstörtheit, in dem sie sich befand: Die
Vorstellung, daß die Toten die modernsten Mittel wählten, um sich mitzuteilen, erschien mir eher verstiegen. Den- noch muß diese Geschichte in meiner Gefühlswelt Spuren hinterlassen haben. Tief innen, ganz tief unten, im ur-sprünglichsten und magischsten Teil meines Selbst hoffe vielleicht auch ich, daß mich früher oder später mitten in der Nacht jemand anruft, um mich aus dem Jenseits zu grüßen. Ich habe meine Tochter begraben, meinen Ehe-
mann und den Mann, den ich mehr als alle anderen auf der Welt liebte. Sie sind gestorben, sie sind nicht mehr da,
dennoch verhalte ich mich weiterhin, als hätte ich einen Schiff bruch überlebt. Die Strömung hat mich gerettet und auf eine Insel gespült, von meinen Gefährten weiß ich nichts mehr, ich habe sie im gleichen Moment aus den Au-
gen verloren, in dem das Boot kenterte, sie könnten ertrunken sein – es ist sogar fast sicher –, aber sie könnten
auch noch leben. Obgleich Monate und Jahre vergangen sind, spähe ich weiter hinüber zu den Nachbarinseln und warte immer noch auf ein Rauchzeichen, auf irgend etwas, das meine Vermutung bestätigt, daß sie alle noch mit mir
unter demselben Himmel weilen.

In der Nacht, in der Ernesto starb, wurde ich plötzlich von einem heftigen Geräusch geweckt. Augusto knipste das Licht an und rief: »Wer ist da?« Im Zimmer war niemand, nichts war in Unordnung. Erst am Morgen, als ich die Schranktür öffnete, bemerkte ich, daß im Innern alle Bretter zusammengekracht, Strümpfe, Schals und Unterhosen aufeinandergefallen waren.

Jetzt kann ich sagen: die Nacht, in der Ernesto starb. Damals jedoch wußte ich es nicht, ich hatte soeben einen Brief von ihm erhalten und konnte mir nicht im entferntesten vorstellen, was geschehen war. Ich dachte einzig und allein, durch die Feuchtigkeit seien die Eeisten angefault, die die Bretter stützten, und sie seien unter dem zu großen Gewicht heruntergebrochen. Ilaria war vier Jahre alt, seit kurzem ging sie in den Kindergarten, und mein Leben mit ihr und Augusto verlief in ruhigem Alltagstrott. An jenem Nachmittag setzte ich mich nach der Eatinistenversamm-lung in ein Cafe, um Ernesto zu schreiben. Zwei Monate später sollte eine Tagung in Mantua stattfinden, das war die Gelegenheit, auf die wir schon so lange warteten, um uns wiederzusehen. Bevor ich nach Hause ging, warf ich den Brief ein, und von der folgenden Woche an begann ich, auf die Antwort zu warten. Ich bekam keinen Brief, weder in der nächsten Woche noch in der über- oder überübernächsten. Noch nie hatte ich so lange warten müssen. Zuerst dachte ich an ein Versehen bei der Post, dann, daß er vielleicht krank sei und nicht in die Praxis gehen könne, um die Post abzuholen. Nach einem Monat schrieb ich ihm ein kurzes Kärtchen, und auch das blieb unbeantwortet. Mit dem Verstreichen der Tage begann ich mich zu fühlen wie ein Haus, in dessen Fundamente ein Wasserlauf eingesickert ist. Anfangs war es ein zurückhaltendes, dünnes Rinnsal, das kaum die Zementpfeiler beleckte, doch dann war es im Lauf der Zeit angeschwollen, war größer und reißender geworden, unter seiner Kraft war der Zement zu Sand geworden, auch wenn das Haus noch stand, auch wenn scheinbar alles normal war, ich wußte, daß es nicht stimmte, daß der geringste Stoß genügt hätte, um die Fassade und alles übrige zum Einsturz zu bringen.

Als ich zu der Tagung fuhr, war ich nur noch ein Schatten meiner selbst. Nachdem ich mich in Mantua gezeigt hatte, fuhr ich sofort nach Ferrara, um herauszufinden, was passiert war. In der Praxis nahm niemand ab, die Fen- sterläden waren immer geschlossen, wenn man von der Straße hinaufsah. Am zweiten Tag ging ich in eine Biblio-thek und bat, die Zeitungen der letzten Monate durchsehen zu dürfen. Ich fand einen kurzen Artikel, darin stand alles geschrieben. Nachts, auf dem Heimweg von einem Krankenbesuch, hatte er die Kontrolle über das Auto verloren und war gegen eine große Platane gerast; der Tod war fast sofort eingetreten. Tag und Uhrzeit entsprachen genau dem Zusammenbruch meines Schranks.

Einmal habe ich in einer dieser alten Zeitschriften, die mir Frau Razman ab und zu bringt, auf der Horoskopseite gelesen, daß bei gewaltsamen Toden Mars im achten Haus steht. Dem Artikel zufolge sind Menschen, die mit dieser Sternenkonfiguration geboren werden, dazu bestimmt, nicht friedlich im eigenen Bett zu sterben. Wer weiß, ob an Ernestos und Ilarias Himmel diese verhängnisvolle Kombination funkelte. Im Abstand von mehr als zwanzig Jahren sind Vater und Tochter auf genau die gleiche Weise gestorben, indem sie mit dem Auto gegen einen Baum rasten.

Nach Ernestos Tod erlitt ich einen schweren Zusammenbruch. Plötzlich war mir klargeworden, daß das Licht, in dem ich in den letzten Jahren erstrahlt war, nicht aus meinem Inneren kam, sondern nur ein Widerschein war. Das Glück, die Liebe zum Leben, die ich empfunden hatte, gehörten mir in Wirklichkeit gar nicht, ich hatte sie nur wie ein Spiegel aufgefangen. Ernesto sandte Licht aus, und ich reflektierte es. Nachdem er verschwunden war, war alles wieder stumpf geworden. Ilarias Anblick bereitete mir keine Freude mehr, sondern Unmut, ich war so verunsichert, daß ich zuletzt sogar daran zweifelte, ob sie wirklich Ernestos Tochter sei. Diese Veränderung entging ihr nicht, mit ihren Antennen eines empfindsamen Kindes bemerkte sie meine Abneigung, wurde bockig und trotzig. Nun war sie die junge, lebensvolle Pflanze und ich der alte Baum, der bald erstickt werden würde. Sie roch meine Schuldgefühle wie ein Spürhund, sie nutzte sie, um höher hinauf zu kommen. Das Haus hatte sich in eine kleine Hölle voller Zankereien und Geschrei verwandelt.

Um mir das Leben zu erleichtern, stellte Augusto eine Frau ein, die sich um die Kleine kümmern sollte. Eine Weile hatte er probiert, sie für Insekten zu begeistern, aber nach drei oder vier Versuchen – bei denen sie immer nur »Igitt« schrie – gab er es auf. Plötzlich sah man ihm seine Jahre an, mehr denn wie der Vater semer Tochter wirkte er wie der Großvater, er war freundlich zu ihr, hielt aber Abstand. Wenn ich am Spiegel vorbeiging, fand ich mich auch sehr gealtert, meine Gesichtszüge verrieten eine Härte, die sie vorher nie gehabt hatten. Mich zu vernachlässigen war eine Möglichkeit, die Verachtung auszudrücken, die ich für mich selbst empfand. Da Ilaria nun zur Schule ging und sonst von der Haushälterin betreut wurde, hatte ich sehr viel freie Zeit. Die Unruhe drängte mich dazu, sie meistens in Bewegung zu verbringen, ich nahm das Auto und fuhr wie in Trance kreuz und quer durch den Karst.

Ich las einige religiöse Texte wieder, mit denen ich mich während meines Aufenthalts in Aquila beschäftigt hatte. Voller Ungestüm suchte ich in diesen Seiten eine Antwort. Im Gehen sagte ich mir den Satz des heiligen Augustinus zum Tod der Mutter vor: »Laßt uns nicht traurig sein, daß wir sie verloren haben, sondern laßt uns danken, daß wir sie gehabt haben.«

Eine Freundin hatte mich zwei- oder dreimal zu ihrem Beichtvater geschickt, und nach diesen Begegnungen war ich noch untröstlicher als zuvor. Seine Worte waren süßlich, eine Hymne auf die Kraft des Glaubens, so als wäre der Glaube ein Nahrungsmittel, das man an jeder Straßenecke kaufen könne. Es gelang mir nicht, den Verlust Ernestos zu verwinden, die Entdeckung, kein eigenes Eicht zu besitzen, machte die Versuche, eine Antwort zu finden, noch schwieriger. Weißt du, als ich ihm begegnete, als unsere Eiebe geboren wurde, war ich plötzlich überzeugt, mein ganzes Eeben sei im Eot, ich war glücklich, daß es mich gab, glücklich über alles, das es mit mir zusammen gab, ich fühlte mich am höchsten, am stabilsten Punkt meines Weges angekommen, ich war sicher, daß nichts und niemand mich von dort wieder wegbewegen könnte. Ich wiegte mich in der ein wenig überheblichen Sicherheit der Menschen, die alles begriffen haben. Viele Jahre lang war ich überzeugt gewesen, auf eigenen Füßen vorangegangen zu sein, dabei hatte ich nicht einen Schritt allein gemacht. Obwohl ich es nie gemerkt hatte, war unter mir ein Pferd, das hatte den Weg zurückgelegt, nicht ich. In dem Augenblick, in dem das Pferd verschwand, merkte ich, wie schwach meine Füße waren; ich wollte gehen, und die Knöchel gaben nach, die Schritte, die ich machte, waren unsicher wie die Schritte eines sehr kleinen Kindes oder eines Alten. Einen kurzen Moment lang dachte ich, ich könnte mich an irgendeinen Stock klammern: an die Religion etwa, oder an die Arbeit. Aber diese Vorstellung hielt nicht lange vor. Sehr schnell wurde mir klar, daß es nur wieder ein Fehler sein würde. Mit vierzig ist für Fehler kein Platz mehr. Wenn man plötzlich nackt dasteht, muß man den Mut haben, sich im Spiegel anzusehen, so wie man ist. Ich mußte alles von vorn beginnen. Ja, aber wo sollte ich anfangen? Bei mir selbst. Das war leicht gesagt, aber schwer getan. Wo war ich? Wer war ich? Wann war ich zum letzten Mal ich selbst gewesen?

Wie schon gesagt, irrte ich ganze Nachmittage lang auf der Hochebene umher. Manchmal, wenn ich ahnte, daß
die Einsamkeit meine Stimmung noch verschlechtern würde, fuhr ich in die Stadt hinunter und ging, unter die Menge gemischt, die bekanntesten Straßen auf und ab auf der Suche nach etwas Erleichterung. Es war inzwischen, als hätte ich eine Arbeit, ich ging, wenn Augusto ging, und kam zurück, wenn er nach Hause kam. Der Arzt, der mich behandelte, hatte ihm gesagt, bei manchen Nervenzusammenbrüchen sei es normal, den Wunsch nach viel Bewegung zu verspüren. Da keine Selbstmordgedanken in mir vorhanden seien, bestehe keine Gefahr, wenn ich in der Gegend herumliefe; zum Schluß würde ich mich, meinte er, durch das viele Laufen beruhigen. Augusto fand die Erklärungen des Arztes einsichtig, ich weiß nicht, ob er wirklich daran glaubte oder nur feige war und sein ruhiges Leben nicht aufs Spiel setzen wollte, jedenfalls war ich ihm dankbar, daß er sich zurückzog, mir in meiner großen Unrast nicht im Weg stand.

In einer Sache hatte der Arzt allerdings recht, in meinem schwer depressiven Zusammenbruch hegte ich keine Selbstmordgedanken. Es ist seltsam, aber genau so war es, keine Sekunde habe ich nach Ernestos Tod daran gedacht, mich umzubringen, und glaub nur nicht, daß es Ilaria war, die mich zurückhielt. Wie ich schon sagte, war sie mir in jenem Augenblick vollkommen gleichgültig. Ich ahnte vielmehr, irgendwo in mir, daß dieser so plötzliche Verlust in einem größeren Zusammenhang stand – anders durfte es, konnte es nicht sein. Es mußte ein Sinn darin liegen, diesen Sinn sah ich undeutlich vor mir wie eine riesige Stufe. War sie da, damit ich sie überwinde? Wahrscheinlich, aber ich konnte mir nicht vorstellen, was dahinter war, was ich sehen würde, wenn ich sie erklommen hätte.

Eines Tages kam ich mit dem Auto in einen Ort, in dem ich noch nie gewesen war. Dort stand ein Kirchlein mit
einem kleinen Friedhof rundherum, zu beiden Seiten bewaldete Hügel, und auf einer der Hügelkuppen ragte hell eine Burg heraus. Nicht weit von der Kirche lagen zwei oder drei Gehöfte, freilaufende Hühner scharrten auf der Straße, ein schwarzer Hund bellte. Auf dem Ortsschild stand Samatorza. Samatorza, das klang nach Einsamkeit, der richtige Platz, um seine Gedanken zu sammeln. Ich entdeckte einen steinigen Weg und begann zu laufen, ohne mich zu fragen, wohin er wohl führte. Die Sonne ging bereits unter, aber je weiter ich ging, um so weniger hatte ich Lust umzukehren. Ab und zu ließ mich ein Eichelhäher auffahren. Da war etwas, das mich rief, doch was es war, verstand ich erst, als ich auf eine offene Lichtung gelangte, als ich dort in der Mitte, gelassen und majestätisch, mit Zweigen, ausgestreckt wie Arme, bereit, mich zu empfangen, eine riesige Eiche stehen sah.

Wenn man es erzählt, klingt es komisch, aber kaum sah ich sie, begann mein Herz anders zu schlagen, ja ichmöchte fast sagen, zu schwirren, wie ein Tierchen, das sich freut, so schlug es sonst nur, wenn ich Ernesto sah. Ich habe mich darunter gesetzt, sie gestreichelt, den Rücken und den Hinterkopf an ihren Stamm gelehnt.

Gnothi seauton hatte ich als Mädchen auf das Deckblatt meines Griechischheftes geschrieben. Zu Füßen der Eiche kam mir dieser im Gedächtnis begrabene Satz plötzlich wieder in den Sinn. Erkenne dich selbst. Luft, Atem.

Dezember

 

Heute nacht hat es geschneit, als ich aufwachte, war der ganze Garten weiß. Buck rannte wie verrückt auf der Wiese herum, sprang durch die Gegend, bellte, nahm einen Ast ins Maul und warf ihn in die Luft. Später ist Frau Razman zu Besuch gekommen, wir haben zusammen Kaffee getrunken, und sie hat mich eingeladen, den Weihnachtsabend bei ihnen zu verbringen. »Was machen Sie die ganze Zeit?« hat sie mich gefragt, bevor sie ging. Ich habe die Achseln gezuckt. »Nichts«, habe ich geantwortet, »manchmal sehe ich fern, manchmal denke ich nach.«

Nach dir fragt sie nie, diskret umgeht sie das Thema, aber an dem Tonfall ihrer Stimme erkenne ich, daß sie dich für undankbar hält. »Die jungen Leute«, sagt sie oft mitten im Gespräch, »haben kein Herz, sie haben nicht mehr den Respekt, den sie früher hatten.« Damit sie nicht weiterredet, nicke ich, innerlich bin ich jedoch überzeugt, daß das Herz das gleiche ist wie immer, es gibt nur weniger Scheinheiligkeit, das ist alles. Junge Menschen sind nicht von Natur aus egoistisch, so wie alte Menschen nicht von Natur aus weise sind. Verständnis und Oberflächlichkeit hängen nicht mit dem Alter zusammen, sondern mit dem Weg, den jeder einzelne geht. Irgendwo habe ich kürzlich einen Indianerspruch gelesen, der hieß: »Bevor du über einen Menschen urteilst, gehe drei Monde lang in seinen Mokassins.« Er hat mir so gut gefallen, daß ich ihn auf den Notizblock am Telefon geschrieben habe, um ihn nicht zu vergessen. Von außen gesehen, wirken viele Leben falsch, irrational, verrückt. Solange man außerhalb steht, ist es leicht, die Menschen, ihre Beziehungen mißzuverstehen. Nur von innen heraus, nur wenn man drei Monde lang in hre Mokassins schlüpft, kann man die Gründe, die Empindungen, all das, was eine Person eher auf die eine als auf die andere Weise handeln läßt, verstehen. Verständnis erwächst aus Demut, nicht aus dem Stolz zu wissen.

Wer weiß, ob du meine Pantoffeln anziehen wirst, nachdem du diese Geschichte gelesen hast? Ich hoffe es, ich hoffe, daß du lange von einem Zimmer ins andere schlurfen wirst, daß du mehrmals den Rundgang durch den Gar-ten machen wirst, vom Nußbaum zum Kirschbaum, vom Kirschbaum zur Rose, von der Rose zu den häßlichen schwarzen Pinien hinten am Rand der Wiese. Ich hoffe es, nicht weil ich um dein Mitleid betteln oder nach dem Tod von dir freigesprochen werden möchte, sondern weil es für dich, für deine Zukunft notwendig ist. Zu verstehen, wo man herkommt, was hinter uns liegt, ist der erste Schritt, um ohne Lügen vorwärts gehen zu können.

Diesen Brief hätte ich an deine Mutter schreiben müssen, statt dessen habe ich ihn nun an dich gerichtet. Wenn ich ihn überhaupt nicht geschrieben hätte, wäre meine Existenz wirklich ein Scheitern gewesen. Fehler zu machen ist natürlich, fortzugehen, ohne sie begriffen zu haben, macht den Sinn eines Lebens zunichte. Die Dinge, die uns geschehen, geschehen nie umsonst, nur um ihrer selbst willen, jede Begegnung, jedes kleine Ereignis birgt eine Bedeutung in sich, das Verständnis für sich selbst entsteht aus der Bereitschaft, diese anzuerkennen, aus der Fähig-keit, in jedem beliebigen Moment die Richtung zu ändern, aus der alten Haut zu schlüpfen wie eine Eidechse beim Wechsel der Jahreszeit.

Wenn mir an jenem Tag mit fast vierzig Jahren nicht der Satz aus meinem Griechischheft eingefallen wäre, wenn ich dort nicht einen Punkt gemacht hätte, bevor ich weiterging, hätte ich nur die gleichen Fehler wiederholt, die ich bis dahin gemacht hatte. Um die Erinnerung an Ernesto zu vertreiben, hätte ich einen neuen Liebhaber finden können, und dann noch einen und noch einen; auf der Suche nach seinem Doppelgänger, in dem Bestreben, zu wie-derholen, was ich schon gelebt hatte, hätte ich Dutzende ausprobiert. Keiner wäre dem Original gleich gewesen, und immer unzufriedener hätte ich so weiter gemacht, hätte mich, vielleicht schon alt und lächerlich, mit jungen Männern umgeben. Oder ich hätte Augusto hassen können, im Grunde war es mir ja auch wegen seiner Anwesenheit unmöglich gewesen, drastischere Entscheidungen zu treffen. Verstehst du? Ausflüchte zu finden, wenn man nicht in sich hineinsehen will, ist das einfachste auf der Welt. Eine äußere Schuld gibt es immer, man braucht sehr viel Mut, um zu akzeptieren, daß die Schuld – oder besser, die Verantwortung – nur bei uns selbst liegt. Und doch ist dies, wie ich dir schon sagte, die einzige Möglichkeit, um vorwärts zu gehen. Wenn das Leben ein Weg ist, so ist es ein Weg, der immer bergauf führt.

Mit vierzig habe ich begriffen, wovon ich ausgehen mußte. Zu verstehen, wo ich ankommen sollte, war ein
langer Prozeß, voller Hindernisse, aber mitreißend. Weißt du, heute höre ich ja oft im Fernsehen oder lese in der Zei-tung, daß überall wie Pilze diese Gurus aus dem Boden schießen, und eine Menge Leute beugen sich von heute auf morgen ihren Geboten. Mir macht es angst, daß diese Meister so überhandnehmen, samt den Wegen, die sie empfeh-
len, um inneren Frieden, universelle Harmonie zu rinden. Sie sind Ausdruck einer großen, allgemeinen Verunsiche-rung. Im Grunde – und das ist gar nicht so bedeutungslos – leben wir am Ende eines Jahrtausends; auch wenn Daten willkürlich festgelegt sind, fürchtet man sich trotzdem, alle warten darauf, daß etwas Entsetzliches passiert, wollen vorbereitet sein. Deshalb gehen sie zu den Gurus, schreiben sich in Schulen ein, um sich selbst zu finden, und wenn sie die einen Monat lang besucht haben, sind sie schon ganz durchtränkt von der Überheblichkeit, an der man die Propheten, die falschen Propheten erkennt. Was für eine große, soundsovielte, schreckliche Lüge!

Der einzige Meister, den es gibt, der einzige wirkliche und glaubwürdige Meister ist das eigene Bewußtsein. Um ihn zu finden, muß man schweigen – allein schweigen –, man muß nackt und ohne irgend etwas um sich herum auf der nackten Erde verharren, als wäre man schon tot. Zu Anfang hörst du nichts, das einzige, was du empfindest, ist Schrecken, doch dann beginnst du, weit, weit weg eine Stimme zu vernehmen, es ist eine ruhige Stimme und zuerst irritiert sie dich vielleicht in ihrer Belanglosigkeit. Es ist seltsam, wenn du erwartest, die größten Dinge zu hören, zeigen sich dir die kleinen. Sie sind so klein und so selbstverständlich, daß du fast schreien möchtest: »Wie, ist das alles?« Wenn das Leben einen Sinn hat – wird die Stimme zu dir sagen –, so ist dieser Sinn der Tod. Alle anderen Dinge kreisen nur darum. Welch schöne Entdeckung, wirst du an diesem Punkt bemerken, welch schöne makabre Entdeckung, daß man sterben muß, weiß auch der letzte Mensch. Das ist wahr, im Kopf wissen wir es alle, doch es im Kopf zu wissen, ist eins, es mit dem Herzen zu wissen, ist etwas anderes, etwas völlig anderes. Wenn deine Mutter mit ihrer Überheblichkeit über mich herfiel, sagte ich zu ihr: »Du tust meinem Herzen weh.«


Date: 2016-01-14; view: 423


<== previous page | next page ==>
Opicina, 16. November 1992 8 page | Opicina, 16. November 1992 10 page
doclecture.net - lectures - 2014-2024 year. Copyright infringement or personal data (0.008 sec.)