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Opicina, 16. November 1992 8 page

Dank des Zaubers der Erinnerung erscheint alles vor mir und rund um mich, als befände ich mich auf dem Bel-vedere der Burg. Nichts fehlt, nicht einmal das Geräusch des Windes, die Gerüche der Jahreszeit, die ich gewählt habe. Ich sitze da und betrachte die von der Zeit zerfressenen Kalkpfeiler, das große kahle Gebiet, wo die Panzer üben, Istrien, das dunkle Vorgebirge, das aus dem Blau des Meeres wächst, ich betrachte alle Dinge rundum und frage mich zum soundsovielten Mal: Wenn es einen Mißklang gibt, wo ist er dann?

Ich liebe diese Landschaft, und diese Liebe hindert mich vielleicht daran, die Frage zu beantworten, das einzige, dessen ich sicher bin, ist der Einfluß der äußeren Umgebung auf den Charakter der Menschen, die an diesen Orten leben. Wenn ich oft so harsch und brüsk bin, genau wie du, so verdanken wir das dem Karst, seiner Erosion, seinen Farben, dem Wind, der dort pfeift. Wären wir, was weiß ich, in den Hügeln Umbriens geboren, wären wir vielleicht sanftmütiger und Reizbarkeit gehörte nicht zu unserem Temperament. Ob das besser gewesen wäre? Ich weiß es nicht, eine Gemütslage, die man nicht erlebt hat, kann man sich nicht vorstellen.

Wie auch immer, ein kleines Unheil hat es heute gegeben. Heute früh, als ich in die Küche kam, habe ich die Amsel leblos auf ihren Lappen gefunden. Schon in den letzten beiden Tagen hatte sie Zeichen von Unwohlsein ge- zeigt, sie fraß weniger und dämmerte zwischen einem Schnabelvoll und dem nächsten häufig ein. Der Tod muß kurz vor Tagesanbruch eingetreten sein, denn als ich sie in die Hand nahm, baumelte ihr Kopf von einer Seite zur an-deren, als wäre innen drin eine Feder kaputtgegangen. Sie fühlte sich leicht an, zerbrechlich, kalt. Ich habe sie ein wenig gestreichelt, bevor ich sie in einen Lappen gewickelt habe. Ich wollte ihr etwas Wärme geben. Draußen fiel dichter Schneeregen, ich habe Buck in ein Zimmer gesperrt und bin hinausgegangen. Da ich nicht mehr die Kraft besitze, um den Spaten zur Hand zu nehmen und damit zu graben, habe ich das Beet mit der weichsten Erde ausgewählt und mit dem Fuß ein kleines Loch gebohrt. Ich habe die Amsel hineingelegt, habe es wieder zuge-scharrt, und bevor ich ins Haus zurückgegangen bin, habe ich noch das Gebet gesprochen, das wir immer beim Be-erdigen unserer Vögelchen aufsagten. »Herr, nimm dieses winzig kleine Leben zu dir, so wie du auch alle anderen zu dir genommen hast.«

Weißt du noch, wie viele Vögel wir aufgesammelt und zu retten versucht haben, als du klein warst? Nach jedem stürmischen Tag fanden wir einen, der verletzt war, einen Finken, eine Meise, Spatzen, Amseln, einmal sogar einen Fichtenkreuzschnabel. Wir taten alles, um sie gesund zu machen, aber unsere Bemühungen waren fast nie von Er-folg gekrönt, von einem Tag auf den anderen fanden wir sie, ohne Vorwarnung, tot daliegen. Welche Tragödie war das dann jedesmal, auch wenn es schon oft vorgekommen war, warst du doch immer wieder verstört. Nach vollzo- genem Begräbnis hast du dir mit der flachen Hand über Nase und Augen gewischt und dich dann in deinem Zimmer eingesperrt, »um Platz zu machen«.



Eines Tages hattest du mich nämlich gefragt, wie wir bloß die Mama wiederfinden sollten, der Himmel sei so groß, daß man sich leicht verirren könne. Ich hatte dir erzählt, der Himmel sei eine Art großes Hotel, wo jeder sein Zimmer habe, und in dem Zimmer träfen sich nach dem Tod alle Personen, die einander liebgehabt hätten, und blieben für immer zusammen. Eine Zeitlang hatte diese Erklärung dich aufgeheitert. Erst nach dem Tod deines vierten oder fünften Goldfischs warst du wieder auf das Thema zurückgekommen und hattest mich gefragt: »Und wenn es keinen Platz mehr gibt?« – »Wenn es keinen Platz mehr gibt«, hatte ich dir geantwortet, muß man die Augen zumachen und eine Minute lang sagen >Raum, erweitere dich<, dann wird das Zimmer sofort größer.«

Erinnerst du dich noch an diese Bilder aus deiner Kindheit, oder hat dein Panzer sie ausgesperrt? Mir sind sie heute wieder eingefallen, als ich die Amsel begrub. Raum, erweitere dich, was für ein schöner Zauberspruch! Wenn ich mir die Mama, die Hamster, die Spatzen, die Goldfische vorstelle, muß dein Zimmer allerdings schon so ge-
drängt voll sein wie die Ränge eines Stadions. Bald werde auch ich dort hingehen; wirst du mich in deinem Zimmer wollen, oder werde ich mir nebenan eines mieten müssen? Und werde ich den ersten Menschen einladen dürfen, den ich geliebt habe, werde ich dir endlich deinen echten Großvater vorstellen dürfen?

 

Was ich an jenem Abend dachte und mir vorstellte, als ich in Porretta Terme aus dem Zug stieg? Überhaupt nichts. Der Geruch der Kastanien lag in der Luft, und meine erste Sorge war, die Pension zu finden, in der ich ein Zimmer bestellt hatte. Ich war damals noch sehr naiv, wußte nichts vom unaufhörlichen Wirken des Schicksals, und falls ich überhaupt eine Überzeugung hatte, dann nur die, daß sich die Dinge einzig und allein dank des guten oder weniger guten Gebrauchs meines Willens ereigneten. In dem Augenblick, in dem ich meine Füße und meinen Koffer auf
den Bahnsteig gestellt hatte, war mein Wille gleich Null gewesen, ich wollte nichts, oder besser gesagt, ich wollte nur eins: meine Ruhe haben.

Deinen Großvater habe ich gleich am ersten Abend getroffen, er aß zusammen mit noch jemandem im Speisesaal meiner Pension. Abgesehen von einem alten Herrn gab es keine weiteren Gäste. Er diskutierte gerade ziemlich hit-zig über Politik, und der Tonfall seiner Stimme störte mich sofort. Im Verlauf des Abendessens starrte ich ihn ein paarmal recht ungehalten an. Wie überrascht war ich, als ich am nächsten Tag feststellte, daß ausgerechnet er der Badearzt war! Etwa zehn Minuten lang hat er mir Fragen über meinen Gesundheitszustand gestellt, und während ich mich dann auszog, ist mir etwas sehr Unangenehmes passiert: Ich fing an zu schwitzen wie bei einer großen An-strengung. Als er mein Herz abhörte, rief er: »Oho, welch ein Schrecken!«, und begann eher abstoßend zu lachen. Kaum drückte er leicht auf die Pumpe des Blutdruckmessers, schnellte die Quecksilbersäule blitzartig in höchste Höhen. »Leiden Sie an Bluthochdruck?« fragte er mich daraufhin. Ich war wütend auf mich selbst, sagte mir, daß er doch nur ein Arzt sei, der seine Arbeit tue, es sei weder normal noch angemessen, daß ich mich so aufrege. Doch so oft ich es mir auch wiederholte, es gelang mir nicht, mich zu beruhigen. An der Tür, als er mir das Rezept gab, drückte er mir die Hand. »Ruhen Sie sich aus«, sagte er. »Entspannen Sie sich, sonst werden auch die Bäderkuren nichts helfen.«

Am selben Abend setzte er sich zum Abendessen an meinen Tisch. Am nächsten Tag gingen wir schon plau-dernd durch die Dorfstraßen spazieren. Die ungestüme Lebhaftigkeit, die mich am Anfang so irritiert hatte, begann mich nun neugierig zu machen. In allem, was er sagte, lag Leidenschaft, Begeisterung, es war unmöglich, in seiner Nähe zu sein und sich nicht von der Wärme angesteckt zu fühlen, die jeder Satz von ihm, sein ganzer Körper ausströmte.

Vor einer Weile habe ich in einer Zeitung gelesen, daß die Liebe nach den neuesten Theorien nicht im Herzen,
sondern in der Nase ihren Ausgang nimmt. Wenn sich zwei Menschen begegnen und sich gefallen, beginnen sie, sich gegenseitig kleine hormonelle Botschaften zu schikken; diese Hormone – an den Namen kann ich mich nicht
mehr erinnern – steigen durch die Nase bis ins Gehirn auf, und dort entfesseln sie in irgendeiner geheimen Windung den Sturm der Liebe. Die Gefühle, schloß der Artikel, seien also nichts weiter als unsichtbarer Gestank. Was für eine haarsträubende Dummheit! Wer im Leben je die wahre Liebe gefühlt hat, die große, die keine Worte hat, der weiß, daß diese Behauptungen nur eine weitere Niedertracht sind, mit der versucht wird, das Herz in die Verbannung zu schicken. Natürlich ist der Geruch des geliebten Menschen betörend. Doch damit er betörend wirken kann, muß vorher etwas anderes dasein, etwas ganz anderes, da bin ich sicher, als bloß ein Geruch.

Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich in den ersten Tagen, in denen ich mit Ernesto zusammen war, das Ge-fühl, mein Körper sei grenzenlos. Rund um mich fühlte ich eine Art unberührbare Aura, es war, als dehnten die
Umrisse sich aus, und als versetzte dieses Wachstum die Luft bei jeder Bewegung in Schwingungen. Weißt du, wie sich die Pflanzen benehmen, wenn du sie einige Tage lang nicht gießt? Die Blätter werden schlapp, anstatt sich dem Licht entgegenzustrecken, hängen sie herunter wie die Ohren eines depressiven Kaninchens. Nun, mein Leben in den Jahren vorher war genau wie das einer Pflanze ohne Wasser gewesen, der Tau der Nacht hatte mir die allernötigste Nahrung zugeführt, um zu überleben, aber weiter bekam ich nichts und hatte nur die Kraft, mich auf den Beinen zu halten und Schluß. Es genügt, die Pflanze ein einziges Mal zu gießen, damit sie sich erholt, ihre Blätter wieder aufrichtet. So ging es mir in der ersten Woche. Sechs Tage nach meiner Ankunft merkte ich, als ich mor-
gens in den Spiegel sah, daß ich eine andere geworden war: Die Haut war glatter, die Augen strahlender; während ich
mich ankleidete, begann ich zu singen, das hatte ich seit meiner Kindheit nicht mehr getan.

Wenn du die Geschichte so von außen hörst, wirst du vielleicht ganz automatisch denken, daß sich unter dieser Euphorie wohl Fragen, eine Unruhe, quälende Zweifel regen mußten. Im Grunde war ich doch eine verheiratete Frau, wie konnte ich da leichten Herzens die Gesellschaft eines anderen Mannes annehmen? Aber es gab keine Frage, keinen Verdacht, und zwar nicht deshalb, weil ich besonders vorurteilslos gewesen wäre, sondern weil das, was ich erlebte, den Körper betraf, nur den Körper. Ich war wie ein Welpe, der, nachdem er lange durch die winterlichen Straßen geirrt ist, einen warmen Unterschlupf findet: Er fragt sich nichts, sitzt nur da und genießt die Ge-
borgenheit. Darüber hinaus schätzte ich meine weiblichen Reize nicht sehr hoch ein, folglich kam es mir gar nicht in
den Sinn, daß ein Mann diese Art von Interesse für mich aufbringen könnte.

Am ersten Sonntag, als ich zu Fuß zur Messe ging, hielt Ernesto mit dem Auto neben mir. »Wohin gehen Sie?« fragte er, sich aus dem Fenster beugend, und kaum hatte ich es ihm gesagt, öffnete er die Tür mit den Worten: »Glauben Sie mir, Gott freut sich viel mehr, wenn Sie, anstatt in die Kirche zu gehen, einen schönen Spaziergang mit mir machen!« Nach langer Fahrerei und vielen Kurven kamen wir zum Beginn eines Waldwegs, der sich zwischen den Eßkastanien hinschlängelte. Ich trug nicht die richtigen Schuhe, um auf einem unebenen Weg zu gehen, und stolperte dauernd. Als Ernesto meine Hand nahm, hielt ich es für das Natürlichste von der Welt. Wir gingen lange schweigend. Die Luft roch schon herbstlich, die Erde war feucht, an den Bäumen hingen viele gelbe Blätter, das Eicht, das hindurchfiel, brach sich in verschiedenen gedämpften Farben. Irgendwann, mitten auf der Eichtung, begegnete uns ein riesiger Kastanienbaum. Da mir meine Eiche einfiel, ging ich auf ihn zu, streichelte ihn erst mit der Hand und lehnte dann meine Wange an den Stamm. Sofort legte Ernesto seinen Kopf neben meinen. Seit wir uns kennengelernt hatten, waren sich unsere Augen noch nie so nahe gewesen.

Am nächsten Tag wollte ich ihn nicht sehen. Die Freundschaft war dabei, sich in etwas anderes zu verwandeln, und ich hatte das Bedürfnis nachzudenken. Ich war ja kein kleines Mädchen mehr, sondern eine verheiratete Frau mit all ihrer Verantwortung, auch er war verheiratet und hatte noch dazu einen Sohn. Ich hatte längst mein ganzes Leben bis zum Alter vorhergesehen; daß plötzlich etwas, das ich nicht eingerechnet hatte, über mich hereinbrechen könnte, versetzte mich in große Angst. Ich wußte nicht, wie ich mich verhalten sollte. Das Neue erschreckt einen bei der ersten Berührung, um weiter vorwärtsgehen zu können, muß man dieses Gefühl von Beunruhigung überwinden. So dachte ich im einen Moment: »Das ist eine große Dummheit, die größte meines Lebens, ich muß einfach alles vergessen, das wenige, was gewesen ist, auslöschen.« Im nächsten sagte ich mir, daß die größte Dummheit die wäre, alles sein zu lassen, denn zum ersten Mal seit meiner Kindheit fühlte ich mich wieder lebendig, alles um mich herum und in mir vibrierte, es schien mir unmöglich, auf diesen neuen Zustand verzichten zu sollen. Außerdem hatte ich natürlich auch einen Verdacht, den Verdacht, den alle Frauen haben oder jedenfalls hatten: Daß er es nicht ernst meinte, daß er sich nur amüsieren wolle und Schluß. All diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, während
ich allein in dem traurigen Pensionszimmer saß.

In der Nacht konnte ich bis vier Uhr früh nicht einschlafen, ich war zu aufgeregt. Am nächsten Morgen jedoch fühlte ich mich überhaupt nicht müde, beim Ankleiden begann ich zu singen; in diesen wenigen Stunden war eine ungeheure Lebenslust in mir erwacht. Am zehnten Tag meines Kuraufenthalts schickte ich Augusto eine Karte: Luft hervorragend, Essen mittelmäßig. Hofjen wir das Beste, hatte ich darauf geschrieben und ihn mit einer herzlichen Umarmung gegrüßt. Die Nacht davor hatte ich mit Ernesto verbracht.

In jener Nacht war mir plötzlich etwas bewußt geworden, nämlich daß es zwischen unserer Seele und unserem Körper viele kleine Fenster gibt, durch die, wenn sie offen sind, die Gefühle hin und her strömen; sind sie nur ange-lehnt, dringt kaum etwas durch, und nur die Liebe kann sie alle auf einmal wie durch einen Windstoß schlagartig öffnen.

In der letzten Woche meines Aufenthalts in Porretta waren wir immer zusammen, machten lange Spaziergänge, redeten, bis wir einen trockenen Hals hatten. Wie sehr unterschieden sich Ernestos Äußerungen von denen Augustes! Alles an ihm war Leidenschaft, Begeisterung, er verstand es, die schwierigsten Themen mit vollkommener Leichtigkeit zu behandeln. Wir sprachen oft über Gott, über die Möglichkeit, daß es, außer der greifbaren Wirklichkeit, noch etwas anderes geben könnte. Er hatte im antifaschistischen Widerstand gekämpft und dem Tod mehr als einmal ins Auge gesehen. Damals war der Gedanke an etwas Höheres in ihm aufgekommen, nicht aus Furcht, sondern weil sich das Bewußtsein zu einem größeren Raum hin erweiterte. »Ich kann keinen Ritus einhal-ten«, sagte er zu mir, »ich werde nie in ein Gotteshaus gehen, werde nie an die Dogmen und die Geschichten glauben können, die Menschen wie ich erfunden haben.« Wir nahmen uns das Wort aus dem Mund, dachten die gleichen Dinge, sagten sie auf die gleiche Weise, es war, als kennten wir uns seit Jahren und nicht seit zwei Wochen. Uns blieb nur noch wenig Zeit, die letzten Nächte schliefen wir nicht mehr als eine Stunde, dämmerten nur kurz ein, um wieder zu Kräften zu kommen. Besonders begeisterte Ernesto sich für das Thema des vorbestimmten Schicksals. »Im Leben jedes Mannes«, sagte er, »gibt es nur eine einzige Frau, mit der er die vollkommene Einheit erreicht, und im Leben jeder Frau gibt es nur einen Mann, mit dem zusammen sie vollständig ist.« Einander zu begegnen sei jedoch wenigen, sehr wenigen vergönnt. Alle anderen seien gezwungen, in einem Zustand der Unzufriedenheit, der ständigen Sehnsucht zu leben. »Wie viele solche Begegnungen wird es geben«, fragte er in der Dunkelheit des Zimmers, »eine auf zehntausend, eine auf eine Million, auf zehn Millionen?« Eine auf zehn Millionen, ja. Alles andere sind Verlegenheitslösungen, oberflächliche, vergängliche Sympathie, körperliche Anziehung, gesell-schaftliche Konventionen. Und nach diesen Betrachtungen sagte er immer wieder: »Was für ein Glück wir haben, hm? Wer weiß, was dahintersteckt, wer weiß das?«

Am Tag meiner Abreise, als wir in dem winzigen Bahnhof auf den Zug warteten, umarmte er mich und flüsterte mir ins Ohr: »In welchem Leben haben wir uns schon getroffen?« – »In vielen«, erwiderte ich und begann zu wei-nen. In meiner Handtasche hatte ich seine Adresse aus Ferrara versteckt.

Es ist zwecklos, dir meine Gefühle auf der langen Reise zu beschreiben, sie waren zu heftig, zu sehr miteinander im Widerstreit. Ich wußte, daß ich in jenen Stunden eine Verwandlung durchmachen mußte, immer wieder ging ich auf die Toilette, um meinen Gesichtsausdruck zu überprüfen. Das Licht in den Augen, das Lächeln mußten ver-schwinden, verlöschen. Nur die Wangen mußten noch ein wenig Farbe zeigen zur Bestätigung, wie gut die Luft gewesen war. Sowohl mein Vater als auch Augusto fanden mich außerordentlich erholt. »Ich wußte ja, daß Quellen
Wunder wirken«, sagte mein Vater immer wieder, während Augusto, etwas für ihn fast Unglaubliches, mich mit
kleinen galanten Aufmerksamkeiten überhäufte.

Wenn du zum ersten Mal Liebe fühlen wirst, wirst du verstehen, wie unterschiedlich und komisch ihre Auswir-kungen sein können. Solange du nicht verliebt bist, solange dein Herz noch frei ist und dein Blick niemandem
gehört, schenkt dir keiner von all den Männern, die dich interessieren könnten, auch nur die geringste Beachtung; dann, in dem Augenblick, in dem du von einem einzigen Menschen eingenommen bist und die anderen dir voll- kommen gleichgültig sind, laufen dir alle nach, sagen dir Zärtlichkeiten, machen dir den Hof. Es ist die Wirkung der Fenster, von denen ich vorhin sprach, wenn sie offenstehen, gibt der Körper der Seele viel Licht und ebenso die Seele dem Körper, sie spiegeln und erleuchten sich gegenseitig. In kurzer Zeit bildet sich rund um dich eine Art goldene, warme Aura, und diese Aura zieht die anderen Männer an wie der Honig die Bären. Augusto war dieser Wirkung nicht entgangen, und auch ich fand es nicht schwierig, freundlich zu ihm zu sein, auch wenn dir das seltsam erscheinen mag. Sicher, wenn Augusto nur ein bißchen weniger weltfremd, ein bißchen mißtrauischer gewesen wäre, hätte er nicht lange gebraucht, um zu verstehen, was passiert war. Zum ersten Mal, seit wir verheiratet waren, dankte ich seinen grauenhaften Insekten.

Ob ich an Ernesto dachte? Natürlich, ich tat gewissermaßen nichts anderes. Denken ist allerdings nicht das richtige Wort. Mehr denn an ihn zu denken lebte ich für ihn, er lebte in mir, bei jeder Handbewegung, bei jedem Gedanken waren wir eine einzige Person. Beim Abschied hatten wir ausgemacht, daß ich als erste schreiben würde; denn damit er antworten konnte, mußte ich erst die Adresse einer vertrauenswürdigen Freundin ausmachen, an die ich mir seine Briefe schicken lassen konnte. Den ersten Brief schickte ich ihm am Tag vor Allerheiligen. Die Zeit, die darauf folgte, war die schlimmste unserer ganzen Beziehung. Nicht einmal die größte, die absoluteste Liebe ist in der Ferne gegen Zweifel gefeit. Morgens öffnete ich plötzlich die Augen, wenn es draußen noch dunkel war, und lag stumm und unbeweglich neben Augusto. Es waren die einzigen Augenblicke, in denen ich meine Gefühle nicht verbergen mußte. Ich dachte zurück an die drei Wochen. Und wenn Ernesto, fragte ich mich, nur ein Verführer war, einer, der sich aus Langeweile in dem Thermalbad die Zeit mit den einsamen Frauen vertrieb? Je mehr Tage verstrichen, ohne daß ein Brief eintraf, um so mehr verfestigte sich diese Vermutung zu einer Gewißheit. Nun gut, sagte ich mir dann, auch wenn es so gewesen ist, auch wenn ich mich wie das ahnungsloseste Gänschen verhal-
ten habe, ist es weder eine schlechte noch eine nutzlose Erfahrung gewesen. Wenn ich mich nicht gehenlassen hätte,
wäre ich alt geworden und gestorben, ohne je zu wissen, was eine Frau empfinden kann. Irgendwie, verstehst du, versuchte ich, mich zu schützen, um den Schlag abzuschwächen.

Sowohl mein Vater als auch Augusto bemerkten, wie sich meine Laune zunehmend verschlechterte: Wegen nichts und wieder nichts brauste ich auf, kaum trat einer von ihnen ins Zimmer, ging ich hinaus, dauernd hatte ich das Bedürfnis, allein zu sein. Wieder und wieder ging ich im Geist die mit Ernesto verbrachten Wochen durch, prüfte sie zwanghaft Minute für Minute, um einen Hinweis zu finden, ein Indiz, das mich endgültig in die eine oder andere Richtung lenken würde. Wie lange diese Qual dauerte? Eineinhalb Monate, beinahe zwei. In der Woche vor Weihnachten traf endlich bei der Freundin, die mir als Vermittlerin diente, der Brief ein, fünf mit einer großen, luftigen Handschrift beschriebene Seiten.

Plötzlich war ich wieder guter Laune. Zwischen Schreiben und Auf-Antwort-Warten verging der Winter wie im
Flug und ebenso der Frühling. Der ständige Gedanke an Ernesto veränderte meine Zeitwahrnehmung, alle meine Energien waren auf eine nicht näher bestimmte Zukunft gerichtet, auf den Augenblick, in dem ich ihn wiedersehen
könnte.

Die Innigkeit seines Briefes hatte mich von dem Gefühl, das uns verband, überzeugt. Es war eine große, eine sehr große Liebe, und wie alle wahrhaft großen Lieben war sie auch ziemlich weit entfernt von dem im engeren Sinne menschlichen Geschehen. Es wird dir vielleicht seltsam erscheinen, daß die lange Trennung uns kein großes Leiden verursachte, und zu behaupten, daß wir überhaupt nicht litten, ist auch nicht ganz richtig. Sowohl ich als auch Er-nesto litten unter der erzwungenen Ferne, aber es war ein Leiden, in das sich andere Gefühle mischten, die aufre-gende Erwartung ließ den Schmerz in den Hintergrund treten. Wir waren zwei erwachsene, verheiratete Menschen, wir wußten, daß die Dinge nicht anders gehen konnten. Wenn all das heute geschehen wäre, hätte ich wahrscheinlich nach nicht einmal einem Monat die Scheidung eingereicht, Ernesto hätte sich von seiner Frau getrennt, und wir wären noch vor Weihnachten zusammengezogen. Ob das besser gewesen wäre? Ich weiß es nicht. Im Grunde kann ich die Vorstellung nicht loswerden, daß die Liebe durch die Leichtigkeit der Beziehungen verflacht wird, daß sich die Tiefe der Leidenschaft dadurch in vorübergehende Schwärmerei verwandelt. Weißt du, was passiert, wenn du beim Kuchenbacken Hefe und Mehl nicht richtig vermischst? Anstatt gleichmäßig aufzugehen, hebt sich der Kuchen nur auf einer Seite, er explodiert geradezu, die Kruste platzt auf und der Teig quillt wie Lava über den Rand der Form. So ist die Leidenschaft in ihrer Einzigartigkeit. Sie läßt sich nicht eindämmen.

Einen Geliebten zu haben und ihn auch sehen zu können, war damals nicht leicht. Für Ernesto war es schon etwas einfacher, denn da er Arzt war, konnte er immer einen Kongreß, eine Stellenausschreibung, einen dringenden Fall erfinden, aber für mich, die ich außer meinen häuslichen Aufgaben keinerlei andere Tätigkeit hatte, war es fast unmöglich. Ich mußte mir eine Verpflichtung einfallen lassen, etwas, das mir Abwesenheiten von wenigen Stunden oder auch Tagen gestatten würde, ohne im geringsten Verdacht zu erregen. Daher wurde ich kurz vor Ostern Mitglied bei einer Gesellschaft für Lateinliebhaber. Sie trafen sich einmal pro Woche und unternahmen häufig Bildungsausflüge. Da Augusto meine Leidenschaft für alte Sprachen kannte, schöpfte er keinerlei Verdacht und hatte auch nichts einzuwenden, im Gegenteil, er freute sich, daß ich meine früheren Interessen wiederaufnahm.

In jenem Jahr wurde es rasend schnell Sommer. Ende Juni fuhr Ernesto wie jedes Jahr zur Kursaison, und ich
zusammen mit meinem Vater und Augusto ans Meer. In diesem Monat gelang es mir, Augusto davon zu überzeu-gen, daß ich nicht aufgehört hatte, mir ein Kind zu wünschen. Am frühen Morgen des 31. August begleitete er mich zum Zug nach Porretta, mit demselben Koffer und demselben Kleid des Vorjahres. Während der Reise konnte ich vor Aufregung keinen Augenblick still sitzen, durchs Fenster sah ich dieselbe Landschaft, die ich im Jahr davor gesehen hatte, und doch kam mir alles ganz anders vor.

Ich blieb drei Wochen zur Kur, und in diesen drei Wochen lebte ich mehr und tiefer als mein ganzes restliches Leben. Eines Tages, während Ernesto bei der Arbeit war, ging ich im Park spazieren und dachte, daß das Schönste in diesem Augenblick wäre zu sterben. Es mag seltsam erscheinen, aber größtes Glück, genau wie größtes Unglück, bringt immer diesen widersprüchlichen Wunsch mit sich. Mir war, als sei ich schon so lange unterwegs, als sei ich Jahr um Jahr auf ungepflasterten Straßen durchs Unterholz marschiert: Um voranzukommen, hatte ich mir mit der Axt einen Durchlaß freigehauen, dann war ich weitergegangen, und von dem, was mich umgab – außer dem, was direkt vor meinen Füßen war –, hatte ich nichts gesehen; ich wußte nicht, wohin ich ging, vor mir konnte ein Abgrund sein, eine Schlucht, eine Großstadt oder die Wüste; dann hatte sich das Unterholz plötzlich gelichtet, ohne es zu merken, war ich aufwärts gestiegen. Unvermutet fand ich mich auf dem Gipfel eines Berges wieder, gerade war die Sonne aufgegangen, und vor mir erstreckten sich im Dunst weitere Berge bis hin zum Horizont; alles war in ein blaues Licht getaucht, ein leichter Wind strich um den Gipfel, den Gipfel und meinen Kopf, meinen Kopf und die Gedanken darin. Ab und zu drang von unten ein Geräusch herauf, das Bellen eines Hundes, das Läuten von Kirchenglocken. Alles war seltsam leicht und eindringlich zugleich. In mir und außerhalb von mir war alles hell geworden, nichts schob sich mehr übereinander, nichts warf Schatten, ich hatte keine Lust mehr hinunterzusteigen, wieder ins Unterholz zurückzukehren. Ich wollte in jene Bläue eintauchen und für immer darinnen bleiben, das Leben im höchsten Augenblick verlassen. Ich trug den Gedanken bis zum Abend mit mir herum, bis ich Ernesto wiedersah. Während des Abendessens hatte ich allerdings nicht den Mut, ihn ihm zu sagen, ich fürchtete, er würde anfangen zu lachen. Erst spät am Abend, als er zu mir ins Zimmer kam und mich umarmte, legte ich mei-
nen Mund an sein Ohr, um zu sprechen. »Ich will sterben«, wollte ich zu ihm sagen. Und weißt du, was ich statt
dessen sagte: »Ich will ein Kind.«

Als ich aus Porretta abfuhr, wußte ich, daß ich schwanger war. Ich glaube, Ernesto wußte es auch, denn in den
letzten Tagen war er sehr verstört, verwirrt, und schwieg oft. Ich war nicht verstört. Mein Körper hatte schon am Morgen nach der Empfängnis begonnen, sich zu verändern, der Busen war plötzlich größer, fester, die Haut des Gesichts strahlender. Es ist wirklich unglaublich, wie wenig Zeit der Körper braucht, um sich dem neuen Zustand anzupassen. Deshalb kann ich dir sagen, daß ich, obgleich ich mich noch nicht hatte untersuchen lassen und der Bauch noch flach war, genau wußte, was passiert war. Plötzlich fühlte ich mich von einer großen Helligkeit
durchströmt, mein Körper veränderte sich, begann, sich auszudehnen, mächtig zu werden. Nie vorher hatte ich ähnliches empfunden.

Bedenken kamen mir erst, als ich allein im Zug saß. Solange ich Ernesto nahe gewesen war, hatte ich keinerlei
Zweifel daran gehabt, daß ich das Kind behalten würde: Augusto, mein Leben in Triest, das Gerede der Leute, alles
war weit, weit weg. Nun aber näherte sich diese ganze Welt wieder, die Schnelligkeit, mit der die Schwangerschaft fortschreiten würde, zwang mich, möglichst rasche Entscheidungen zu treffen und sie – waren sie einmal getroffen – für immer durchzuhalten. Ich verstand sofort, daß es paradoxerweise viel schwieriger sein würde abzutreiben, als das Kind zu behalten. Eine Abtreibung wäre Augusto nicht entgangen. Wie hätte ich sie vor seinen Augen rechtfertigen können, nachdem ich so viele Jahre lang immer wieder geäußert hatte, ich wünschte mir ein Kind? Und außerdem wollte ich nicht abtreiben, das Wesen, das in mir wuchs, war kein Fehler gewesen, etwas, das man so schnell wie möglich beseitigen mußte. Es war die Erfüllung eines Schicksals, vielleicht der größte und heftigste Wunsch meines ganzen Lebens.


Date: 2016-01-14; view: 426


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