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Literarische Übersetzung in der Ukraine

Bevor man über die Übersetzungstradition in der Ukraine spricht, müsste man einige Momente klären, ohne die der ganze Problemkreis wohl weniger verständlich wird. Die Tatsache, dass die Ukraine jahrhundertelang zum Teil zur Habsburger Monarchie (als Kronländer Galizien und Lodomerien und Bukowina, heute Westukraine), zum Teil zum Russischen Reich (als Kleinrussland, heute Zentral-, Süd- und Ostukraine) gehörte, konnte für das Land und insbesondere für seine Bevölkerung und deren Identität nicht folgenlos bleiben. Ich werde hier nicht auf die Gemeinsamkeiten und vor allem Unterschiede der zaristischen Kolonialpolitik und der Nationalitätenpolitik in Österreich-Ungarn eingehen. Ich nenne nur einen der wichtigsten Identitätsauslösern bei den Ukrainern des sogenannten Kleinrusslands: das war der 1876 in Bad Ems von Alexander III. unterschriebene Ukas (Erlass), nach dem Verlags-, Einfuhr- und Übersetzungsverbot für Bücher in ukrainischer Sprache legalisiert wurde.

Das heisst für 30 Jahre (bis zur Februarrevolution 1905 in Russland) wurde das ukrainische Kulturleben (mit der besonders strengen Beachtung des Kirchen-, Theater- und Schullebens) praktisch ausgetilgt.

Die Rolle des Aufbewahrers der ukrainischen Identität übernahm daher für jene Zeit der ukrainische Westen. Zum wichtigsten Organ der Übersetzertätigkeit wurde die 1898 in Lemberg (heutigem Lwiw) vom Dichter Iwan Franko gegründete und geleitete Zeitschrift „Literarisch-wissenschaftliche Nachrichten“. Eine ihrer Hauptaufgaben sah die Zeitschrift darin, der ukrainischen Leserschaft die „wichtigsten und interessantesten Werke der Weltliteratur“ zu präsentieren. Iwan Franko, der als grösste Intellektuellengestalt in der Westukraine gefeiert wird, machte einen grossen Teil der Übersetzungen für die Zeitschrift selbst. In ersten Bestehensjahren erschienen in der Zeitschrift rund 400 übersetzte lyrische Werke, Prosatexte und literaturkritische Artikel. Von 1907 bis 1914 hat man die Zeitschrift schon in Kyiv (Kiew) herausgegeben.

Nach dem Ende des 1. Weltkriegs als die Westukraine an Polen fiel, begann eine schwere Zeitperiode für die Ukrainer in diesem Landteil, weil die Polenpolitik damals ausgesprochen ukrainerfeindlich war. So verlegt sich das ukrainische Kulturleben wiederum nach Osten, wo nach dem Sieg der Oktoberrevolution 1917 die ukrainische Elite wahre Flügel bekommt in der Hoffnung, dass es jetzt, nach dem Ende der zaristischen Ära eine Wiedergeburt für die ukrainische Kultur beginnt. So war es auch die ersten 15 Jahre. Es explodierte beinahe mit Talenten in allen möglichen Kunstrichtungen, vor allem Dichtern, Theaterleuten und Künstlern gelang es in jener Zeit die Vollwertigkeit und das Europäertum - was die Ausdrucksmittel und -stärke der Kunstwerke anbetrifft - der ukrainischen Kultur zu behaupten. 1925 beginnt ihr literarisches Leben unter anderem die Zeitschrift „Vseswit“ (wie schon der Name sagt, war eine ihrer Aufgaben – und „Vseswit“ bedeutet „Universum“ – die Bekanntmachung der ukrainischen Leser mit der weltliterarischen Erscheinungen), die aber schon 1934 geschlossen wird. Das Jahr spricht für sich: die Stalinrepressalien wüten schon seit zwei Jahren im Land. Diese Zeit wird in der ukrainischen Kulturgeschichte die „erschossene Renaissance“ genannt und das Schrecklichste an dieser Bestimmung ist, dass sie wörtlich zu verstehen ist: praktisch alle ukrainischen Schriftsteller (und talentierte Übersetzer zugleich) wurden verhaftet und erschossen bzw. sie starben einen Martyrertod in Gefängnissen und Lagern.



Erst nach Stalins Tod (1953) fängt man an von der Notwendigkeit einer Literaturzeitschrift mit Schwerpunkt ausländische Literatur zu sprechen. Und so erscheint im Juli 1958 die erste erneuerte (ukrainischsprachige) Vseswit-Ausgabe mit der Auflage 7200 Exemplare.

Zu jener Zeit existierte schon seit drei Jahren die zentrale massgebende russische Zeitschrift „Inostrannaja literatura“ (Ausländische Literatur), so beschloss die Vseswit-Redaktion, um die unnötige Konkurrenz zu vermeiden, nur die Werke herauszugeben, die auf Russisch noch nicht publiziert worden sind. Am Anfang bestand das Hauptproblem im Fehlen der qualifizierten Übersetzer: die Älteren haben die Stalinzeit und den Krieg nicht überlebt, die Jüngeren waren oft noch zu jung. Um viele Defizite zu decken, hat man damals, in der Anfangsphase, oft zu Doppelübersetzungen gegriffen: die endgültige ukrainische Fassung wurde nach der russischsprachigen Rohübersetzung gefertigt (übrigens standen unter der Übersetzung beide Übersetzernamen).

Was wurde damals herausgegeben. In erster Linie und vor allem natürlich Werke jener Autoren, die mit der kommunistischen Ideologie sympathisiert hatten und sich als loyal gegenüber dem Sowjetstaat erwiesen. Dabei waren nicht einmal Vertreter der „brüderlichen“ sozialistischen Länder immer „ideologierein“ genug. Trotzdem haben sich auf die Seiten der Zeitschrift einige für die sozialistischen Realitäten unerhörte Namen eingeschleicht. Wie es 1963 mit Franz Kafka war. Zu einer wahrhaft sensationellen Publikation (der ersten in der Sowjetunion übrigens) ist die Übersetzung von seinen fünf Erzählungen, darunter auch „Die Verwandlung“, und einiger Fragmente aus „Amerika“ und „Prozess“ geworden. Damit die strenge ideologische Zensur keine Bedenken hatte, wurde die Übersetzung durch einen kritischen, im Sinne des sozialistischen Realismus natürlich, Artikel begleitet und geschützt, wo es ungefähr darum ging, dass Kafkas Weltanschauung der optimistischen und zukunftssicheren Lebenshaltung des sowjetischen Lesers durchaus fremd sei. Damals war es die einzig mögliche Praktik von der Publikation solcherart Übersetzungen: der Begleitartikel der in der Zeitschrift publizierten Auszüge aus James Joyces „Ulysses“ trug den vielsagenden Titel „Die Auswegslosigkeit von James Joyce“. Manchmal ging es jedoch weit über fragmentarische Publikationen hinaus, und dann erschienen in der Zeitschrift solche bahnbrechenden Übersetzungen wie „Der Steppenwolf“ von Hermann Hesse (übersetzt von Jewhen Popowytsch), „Das Gruppenbild mit Dame“ (übersetzt von Jewhen Popowytsch und Jurij Lisnjak im Jahr der Nobelpreisauszeichnung von Heinrich Böll!) , „Die linkshändige Frau“ von Peter Handke (übersetzt von Oleksa Lohwynenko) oder auch „Zipper und sein Vater“ von Joseph Roth (übersetzt von Jewhen Popowytsch).

Das waren die 70-er Jahre, die Tauwetterperiode der Chruschtschow-Politik war längst vorbei, die Dissidenten in ganz Sowjetunion mussten ihre schwersten Zeiten erleben.

Man versteht sehr wohl, dass man endlich Schluss machen wollte mit diesen erfolgreichen Übersetzungserscheinungen auf Ukrainisch (was für die sowjetische ideologie als „nationalistisch“ galt), und nun bietet sich die Gelegenheit von selbst: 1972 erscheint im Ausland ein wahrhaft revolutionärer Artikel vom ukrainischen Literaturkritiker Iwan Dziuba unter dem sprechenden Titel „Internationalismus oder Russifizierung?“ (der Artikel findet ähnliche Resonanz wie seinerzeit, Anfang der 30-er Jahre, berüchtigte und danach streng verbotene Artikel vom grossen ukrainischen Dichter, der sich 1933 das Leben nahm, Mykola Chwylowyj unter dem Titel „Ukraine oder Kleinrussland?“). Iwan Dziuba wird zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, worauf einer der Mitarbeiter der Zeitschrift „Vseswit“, der geniale Übersetzer aus über 15 Sprachen Mykola Lukasch sich an die sowjetische Regierung öffentlich mit der Bitte wendet, die Strafe für den vermeintlichen Täter abzusitzen, was er damit motivierte, dass, im Unterschied zum Familienvater Dziuba; er, Mykola Lukasch, alleistehend sei. Schliesslich kam es doch nicht zur Verhaftung, der Name von Mykola Lukasch („Faust“-, „Dekameron“-, „Don Quichote“ und vieles mehr-Übersetzer!) wurde aber für mehrere Jahre einfach getilgt.

Kein Werk durfte bis in die Mitte der 80er Jahre unter seinem Namen erscheinen. So hat man einen Übersetzer, wenn auch nicht körperlich, so doch psychisch vernichtet.

Wenn 1991 die Parteizensur schliesslich schwindet, bietet sich endlich eine vorher nie gekannte Möglichkeit all die „entarteten“, „verfallenen“, „modernistischen“, „katholischen“, „antisowjetischen“, „bourgeoisen“, „existentialistischen“, „mystischen“, „erotischen“ und was auch noch für „schädlichen“ Werke der Weltliteraur, Weltphilosophie und Weltsoziologie zu publizieren (und das waren – ich nenne hier nur einige der „Vseswit“-Publikationen - Jean Cocteau, Jorge Louis Borjes, Albert Camus, George Orwell, Witold Gombrowicz, Vladimir Nabokov, Friedrich Nietzsche, Umberto Eco, Robert Konquest und viele, viele andere). Nun verzichtet die Zeitschrift auf das Prinzip des Nicht-Publizierens der Werke, die es schon in russischer Übersetzung gibt. In den Bedingungen, in denen der ukrainische Büchermarkt von allen möglichen russischen Büchern überflutet wird, erwiesen sich die Konkurrenzbedenken als überflüssig. So erblickten viele weltbekannte Werke der Weltliteratur (wie etwa „Das Parfum“ von Süsskind oder „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ von Kundera) die Welt auf Ukrainisch erst nach ihrem Erscheinen auf Russisch. Trotz der durchaus positiven Veränderungen bei der Autorenwahl und in der Vielzahl der Sprachen, aus denen übersetzt wurde, ist die Auflage der Zeitschrift von 76 Tsd. 1990 auf 1,5 Tsd. 2005 gestürzt.

Die Gründe sind vor allem ökonomisch und kulturpolitisch. Zum einen gibt es permanente Wirtschaftskrise in einem Land, das 70 bzw. 40 Jahre (Ost- bzw. Westukraine) zentralisiert regiert wurde. Was einen permanenten Geldmangel für Kulturbetrieb bedeutet. Die Autorengagen wurden zu rein symbolischen Summen minimalisiert. Die Mehrheit von Autoren (auch Übersetzern) bevorzugt daher kommerzielle, hauptsächlich russische Verlagsstrukturen.

Zum anderen hat die ukrainische Regierung in all den Unabhängigkeitsjahren keine selbständige Kulturpolitik herausgearbeitet. Man demonstriert bewundernswerte Naivität, indem man meint, mit der Verbesserung der sozialen Lebensverhältnisse verbessere sich das Niveau der Kultur im Land von selbst (etwa nach dem beliebten sowjetischen Motto „Haben wir Brot, dann haben wir Lieder“). Das heisst, es fehlt eine Kulturpolitik als solche. Was die östlichen Nachbarn natürlich aufs Beste zu eigenem Gunsten zu wenden vermögen. Den Bücher- und Kinomarkt in der Ukraine besitzt fast vollständig Russland (über 80 Prozent aller verkauften Bücher ist billige russische Bücherproduktion, die ukrainische Synchronisierung der ausländischen Filme macht ihre ersten Schritte). Die Situation, bei der man in einem Kyiver Zeitungskiosk von 42 vorhandenen Zeitschriftentiteln lediglich eine (sic!) ukrainischsprachige Zeitschrift erwerben kann, kann nur als kulturelle Katastrophe bezeichnet werden.

Nach den statistischen Angaben wird in der Ukraine ein halbes Buch pro Einwohner herausgegeben, dabei bilden mehr als die Hälfte davon die in der Ukraine erscheinenden russischsprachigen Druckwerke. Es gibt im Staat Millionen Ukrainer, die jahrzehntelang kein Buch auf Ukrainisch in den Händen gehalten haben. Mitschuldig daran ist der mangelhafte Büchervertrieb, der unter jeder Kritik ist. Erstens: was im Westen der Ukraine erscheint, das kommt selten oder nie östlicher der Hauptstadt der Ukraine. Zweitens: es gibt eine ganze Reihe der Buchhandlungen, die sich weigern, Bücher auf Ukrainisch zu verkaufen, schon gar nicht die ukrainischen Übersetzungen, die es parallel zu den gleichen russischen Übersetzungen gibt. Drittens: Bibliotheken haben die Erwerbungen der literarischen Neuerwerbungen so gut wie eingestellt, da die Staatsgelder dazu fehlen. Viertens: in kleineren Städten, geschweige Dörfern, gibt es seit einiger Zeit weder Buchhandlungen noch (nicht selten) Bibliotheken. Fünftens, sechstens und so weiter könnte man anführen, doch die Schlussfolgerung bleibt gleich: die Situation in der Kultur ist erschreckend.

Und trotzdem wird es nach Möglichkeiten viel und sehr gut in der Ukraine übersetzt. Man kann heute von zwei Schulen der Übersetzung sprechen: Übersetzungsschule in Kyiv und die in Lwiw. In beiden Städten gibt es Verlage, die Übersetzung zu einem wichtigen Teil ihrer Verlagspolitik gemacht gaben. In Kyiv sind es vor allem Verlag „Osnowy“; von Literaturkritikerin und Übersetzerin Solomija Pawlytschko gegründet (hier werden neben Literaturwerken mehrere geisteswissenschaftliche Texte ediert) , und Verlag „Univers“, als Tochterunternehmen der Zeitschrift „Vsesvit“ gegründet, zur Zeit selbständig. Dieser Verlag arbeitet besonders intensiv mit Institut Francaise zusammen und hat bereits Dutzende hochwertige „Klassiker“ der französischen Literatur herausgegeben (darunter die sehr geglückte 7-bändige Marcel-Proust-Ausgabe, aber auch vieles anderes mehr, wie z.B. Bücherreihe „Nobelpreisträger“, die erst im Entstehen ist.)

In Lwiw sind es Verlag „Klasyka“, der unter anderem mit Unterstützung von Kultur-Kontakt in Österreich einige wichtige Werke der österreichischen Literatur (wie „Malina“ von Ingeborg Bachmann oder Werke von Joseph Roth) herausgab. Der andere Lwiwer Verlag „Litopys“ setzt besonders erfolgreich gemeinsame Projekte mit International Renaissance Foundation von George Soros um.

Nur das bei recht hohen Produktionskosten und Mehrwertsteuern sowie der relativ niedrigen Kaufkraft der wirklich lesenden Leserschaft sind die gezwungenen Auflagen in der Höhe 2 Tsd. Exemplare sogar von Literaturrennern viel zu niedrig für ein Land mit etwa 45 Millionen Einwohnern.

Zusammenfassend möchte ich noch Folgendes zum Ausdruck bringen:

In der Ukraine gibt es ein grosses Potential an Übersetzerkräften, die aus einer reichen, wenn auch teilweise gebrochenen, teilweise totgeschwiegenen Tradition schöpfen können. Es fehlt aber einzig und allein, wie es scheint, an der staatlichen Unterstützung. Die Publikation der neuen Übersetzungen ist auf die Finanzierung von aussen angewiesen. Nur dadurch lässt sich die sichtlich einseitige Präsentation der Weltliteratur im ukrainischen Sprachraum erklären. Wer nicht bezahlen kann (und das sind vor allem jene Länder, die noch vor 20-30 Jahren beim Übersetzen absoluten Vorrang genossen hatten, da die entsprechenden Übersetzungen ja von entsprechenden sozialistischen Ländern grosszügig gefördert wurden), dessen neue Literatur in der Ukraine kaum bekannt wird. Kein Wunder übrigens in der Situation, wo die Zielsprache selbst, also Ukrainisch, wie noch nie zuvor Unterstützung braucht.

Gespräche über die Konkurrenzunfähigkeit der ukrainischen Übersetzungen im Vergleich zu russischen Übersetzungen sind lächerlich, da die Leser meistens gar nicht vor die Wahl gestellt werden: im Osten der Ukraine kann man die ukrainischsprachigen Bücher in einer Buchhandlung nur mit Mühe finden. Es kommt zu recht kuriosen Situationen, wie z.B. folgende: einer Bekannten aus der ostukrainischen Stadt Charkiw habe ich über das Erscheinen des Romans „Parfum“ auf Ukrainisch gesagt. Da es sich herausgestellt hat, dass die Übersetzerin des Buches ihre gute Freundin aus einer westlicheren ukrainischen Stadt ist, wollte sie sich unbedingt das Buch kaufen. In keiner der Charkiwer Buchhandlungen konnte sie aber das Buch finden, und die Verkäufer versicherten sie, dass es nur die russische Übersetzung gebe, und dass sie vergeblich nach dem Buch suche. Die Parodoxie der Situation besteht aber nicht in der vergeblichen Suche, sondern darin, dass diese ukrainische Übersetzung in einem Charkiwer Bücherverlag erschien.

 

 


Date: 2016-01-05; view: 1168


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