Der kleine Grenzverkehr oder Das Salzburger Tagebuch des Georg Rentmeister
Die Vorgeschichte
Berlin, Ende Juli 1937
Karl hat mir aus London geschrieben und fragt, ob ich Mitte August nach Salzburg kommen will. Er ist von dem Leiter der Salzburger Festspiele eingeladen worden, sich einige Aufführungen anzusehen. Man hat ihm für jedes Stück zwei Karten versprochen. Ich war lange nicht im Theater und werde fahren. Da Salzburg in Österreich liegt, muß ich die Grenze überschreiten. Wer zur Zeit die Grenze überschreitet, darf pro Monat höchstens zehn Mark mitnehmen. Nun habe ich mathematisch einwandfrei festgestellt, daß ich in diesem Fall an jedem Tag genau 33,3333 Pfennig ausgeben kann, noch genauer 33,333333 Pfennig. Ein bißchen wenig! Ich muß noch heute ein Devisengesuch abschicken und um die Bewilligung einer größeren Summe bitten.
Berlin, Mitte August
Karl ist schon seit einigen Tagen in Salzburg und hat, da er ungeduldig ist, telegrafiert. Er will wissen, warum ich noch nicht da bin und wann ich wohl eintreffe.
Ich habe sofort die Devisenstelle angerufen und mich erkundigt, ob ich bald mit einer Antwort auf mein Gesuch rechnen könne. Man verzeihe meine Neugier, aber die Salzburger Festspiele gingen am 1. September zu Ende. Der Beamte hat mir wenig Hoffnung gemacht. Er meinte, es gäbe schließlich wichtigere Anträge als die von Vergnügungsreisenden!
Immerhin habe ich aber schon die Erlaubnis der Paßstelle: Ich darf für vier Wochen nach Österreich reisen!
Doch was nützt mir das, wenn ich nur zehn Mark mitnehmen kann?
Berlin, 19. August
Karl bombardiert mich mit Telegrammen. Ob ich glaubte, daß die Festspiele meinetwegen verlängert— würden! Er sei bereit, mit Toscanini wegen einer Verlängerung zu verhandeln. Ich müsse nur noch Bescheid geben, wann ich kommen wollte, im November oder erst im Dezember.
Was kann ich tun? Die Devisenstelle hat noch nicht geantwortet. Ich wage nicht, schon wieder anzurufen. Die Leute haben schließlich andere Dinge im Kopf als meine Ferien.
Mein Freund Erich hat mich auf eine Idee gebracht, die nicht schlecht ist: Ich werde mit dem Hotel Axelmannstein in Reichenhall telefonieren und ein Zimmer mit Bad bestellen. Ich kenne das Hotel von früher. Sehr komfortabel mit Golfplatz, Schwimmbad und Tennisplätzen. Alles im Hause!
Meine Sekretärin besorgt die Fahr- und Schlafwagenkarte. Sie soll mir auch die Antwort der Devisenstelle nachschicken.
Heute abend kann die Reise losgehen!
Der Plan
Im Schlafwagen, 19. August
Mir ist verschmitzt zumute. Es ist Nacht. Der Zug donnert durch Deutschland. Ich liege im Bett, trinke eine halbe Flasche Rotwein, rauche und \ freue mich auf Karls dummes Gesicht.
Er wird kein klügeres Gesicht machen als der alte Rechtsanwalt Scheinert, den ich am Bahnhof traf.
»Hallo, Doktor«, rief er, »wohin fahren Sie denn?«
»Nach Salzburg!« antwortete ich.
»Nach Salzburg? Sie Glücklicher! Wo werden Sie denn wohnen?«
»In Reichenhall!«
Der gute Mann hatte noch nie ein sehr kluges Gesicht, doch jetzt sah er wirklich wie ein Schaf aus.
In Österreich ins Theater gehen, in Deutschland essen und schlafen. Die Ferien versprechen lustig zu werden! In meinem alten Schulatlas habe ich gesehen, daß Reichenhall und Salzburg keine halbe Bahnstunde auseinanderliegen. Eisenbahnverbindungen sind vorhanden. Mein Paß ist in Ordnung. So werde ich denn im sogenannten kleinen Grenzverkehr hin- und herfahren.
In Reichenhall werde ich als Grandseigneur leben, in Salzburg als Habenichts. Jeden Tag werde ich der eine und der andere sein. Welch komödienhafte Situation! Und da haben die Leute Angst, die Welt könnte unromantisch werden!
Die Flasche ist leer. Darum mache ich meine Augen zu.
Im Speisewagen, 20. August
Das Frühstück ist die schönste Tageszeit. Der Schnellzug eilt durch die bayrischen Berge. Die Bauern arbeiten auf den Feldern. Die Sommerlandschaft dreht sich um uns wie eine Platte auf Gottes großem Grammophon.
Wir haben Freilassing passiert. Die nächste Station heißt Reichenhall.