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Eine naturwissenschaftliche Satire.

 

ii512

Läßliche Hypothese nenn’ ich eine solche, die man

gleichsam schalkhaft aufstellt, um sich von der

ernsthaften Natur widerlegen zu lassen.

Goethe.

 

Eine naturwissenschaftliche Satire! Fürwahr, etwas außerordentlich Seltenes, wenn nicht gar Einziges in unserer reichen deutschen Litteratur. Fast möchte man die Möglichkeit einer solchen Erscheinung bezweifeln, und doch steht sie in der (Verlag von Carl Rümpler, Hannover) von einem Ungenannten publicirten Schrift: »Ueber die Auflösung der Arten durch natürliche Zuchtwahl« leibhaftig vor uns. Sie wäre schon hochinteressant, wenn sie ein schwacher Versuch eines talentvollen Kopfes wäre; sie ist aber eine der geistvollsten Mystificationen, die ich kenne, und verdient die allgemeinste Würdigung.

Allerdings ist die Abhandlung schon im Jahre 1872 erschienen; sie hat aber meines Wissens nicht das geringste Geräusch erregt und ist deshalb so gut wie neu. Andererseits handelt es sich um ein litterarisches Ereigniß, das nicht unbeachtet bleiben darf.

Ehe wir auf ihren Inhalt näher eingehen, wollen wir einen kurzen Blick auf das Wesen der Satire überhaupt werfen.

Eine Satire ist die Darstellung irgend eines Theils des realen Lebens in allen seinen Gestaltungen und Aeußerungen – also auch geistiger Producte – im Gegensatz zu einem Ideal. Das Reale wird am Idealen gemessen, und zu kurz befunden. Die gewonnene Differenz, die Discrepanz, die, wenn sie richtig und echt ist, allemal zum Lachen zwingt, wird nun entweder aufgewiesen, indem der Schalk selbst sie offenbart, oder es wird dem Leser, bezw. Zuhörer, überlassen, sie zu ziehen. Das letztere Ver|fahren

ii513 ist das höhere, aber auch schwierigere für den Satiriker; sowie es andererseits einen sehr urtheilsfähigen Lesers oder Zuhörer) voraussetzt; denn da der Satiriker immer ernst ist, so lange er vergleicht, so liegt für jenen, bei einer feinen Satire, die Gefahr nahe, das Persiflirte für baare Münze zu nehmen und gar nicht zu merken, daß die wahre, echte, ideale Münze, der Maßstab, im Kopfe des Satirikers geblieben ist.

Es erhellt schon aus diesen wenigen Worten, daß das menschliche Leben mit seinen Widersprüchen und Verkehrtheiten der eigentliche Stoff des Satirikers ist. Es ist für einen beobachtenden Denker gar nicht nothwendig, daß er das absolute Ideal des Menschen besitze, um die Mehrzahl der Sterblichen lächerlich und thöricht zu finden. Man kann ein großer Optimist sein und Vieles vortrefflich finden, was Sanct Franciscus unbedingt verworfen haben würde, und doch noch Vieles für würdig halten, mit dem Zeichen des Lächerlichen behaftet zu werden. Der ideale Maßstab hat eben keine absolute Länge. Um z.B. die Einrichtungen eines despotisch regierten Staatswesens geißeln zu können, ist nicht erforderlich, sie an denen eines, in grauer Ferne liegenden idealen Volksstaates zu messen. Man kann schon eine Incongruenz hervorbringen, die zorniges Hohngelächter erweckt, wenn man den Maßstab einer unvollkommenen constitutionellen Monarchie an sie hält.



Verlassen wir aber die Menschen und ihre Lebensformen und treten in das Heiligthum der Natur im engeren Sinne, so werden wir so gut wie gar keinen Stoff für die Satire finden. Die Verkehrtheiten werden, so wie sie nur durch die vergleichende Vernunft zu entdecken sind, auch nur durch eine verkehrte Vernunft (oder mangelhafte Erkenntniß schlechthin) erzeugt. Das Thier nun reflectirt nicht; es giebt sich, wie es von Gnaden der Natur ist. Ebenso die Pflanzen und die anorganischen Stoffe. Die Natur im engeren Sinne will nicht scheinen; sie ist, und ist nach nothwendigen, unabänderlichen Gesetzen. Eine Discrepanz ist hier gar nicht zu erzeugen, und hierdurch wird allem Komischen der Boden unter den Füßen fortgezogen. Erst wenn ich von der Aehnlichkeit des Wesens der höheren Thiere mit dem Wesen des Menschen ausgehe, ihre Bewegungen mit denen des Menschen vergleiche, und den Menschen zum Ideal, zum Maßstab nehme, wird das Thier, resp. seine Bewegung komisch. Man stelle sich nur vor einen |

ii514 Affenkäfig, um sich hiervon zu überzeugen. Allem, was wir hier sehen, legen wir, oft unbewußt, Menschliches unter, und wir lachen herzlich darüber, daß sich Menschliches und Thierisches nicht decken wollen.

Ueber die Natur läßt sich also eine Satire nicht schreiben; dagegen ließe sich, beiläufig bemerkt, die ganze Natur humoristisch behandeln, wenn man, wie der Brahmanismus, sie für einen Fehltritt, für eine großartige Verirrung des in ihr lebenden und leidenden Wesens hält. Aber welcher Humorist würde dem Weltall gegenüber die Kraft haben, bis zuletzt den furchtbaren Ernst hinter lachendem Munde zu verbergen? Er würde gewiß bald in den ernsten Ton Schopenhauer’s fallen.

Das Gebiet der Natur schreckt mithin den Satiriker ab. Er flieht es und taucht dafür die Hand in den wirren Knäuel der zappelnden, sich – wie der Dichter sagt – »für ein Leichentuch« abmühenden Menschen. Er ist immer im Voraus versichert, daß an seinen Fingern etwas Belachenswerthes hängen bleiben wird.

Ist nun die Natur eine spröde Schöne für den Satiriker, so sind ihm die Naturforscher und ihre Hypothesen schon eher zu Willen. Jedoch muß diese Behauptung wesentlich eingeschränkt werden. Jeder, der sich mit der Natur beschäftigt, der das Streben hat, einen ihrer vielen Schleier zum Nutzen der Menschheit abzustreifen oder auch nur etwas zu lüften, ist an und für sich ehrwürdig und bietet nur selten einen Haken zur Anheftung eines Witzes dar, wie z.B. Derjenige, welcher sich Geld vom Munde abspart, um seltene Steine dafür zu kaufen, die er stundenlang selig betrachten, drehen und wenden kann. Ebenso wenig eignen sich die Hypothesen zur Verspottung. Zunächst haben die meisten kein großes Publikum; ist ferner eine Hypothese offenbar falsch, so rücken ihr die Gelehrten, wenn sie nicht vorziehen, sie mit stiller Verachtung todtzuschweigen, mit trockener Miene auf den Leib und blasen ihr, ohne den geringsten Gewissensbiß und ohne mit den Wimpern zu zucken, das Lebenslicht aus.

Hieraus schließen wir, daß eine Hypothese, soll sie Stoff für den Satiriker abgeben, erstens einem großen Publikum interessant und zweitens sehr wahrscheinlich sein müsse; und zwar letzteres in einer Weise, daß die entgegengesetzte Meinung noch hinreichenden Spielraum hat. Denn ist ein hypothetisches |

ii515 Urtheil so gut wie apodiktisch, so ist der Raum für den Satiriker so klein, daß seine Bemühungen, sich aufrecht zu erhalten, ihn selbst zum guten Stoff für eine Satire machen.

Eine solche mir bekannte Hypothese – vielleicht die erste und auch die letzte – ist der Darwinismus.

Zunächst ist er einem sehr großen Publikum bekannt; denn geht es ihm nicht geradeso wie der großartigen religiösen Hypothese über die Wesensgleichheit Gottes und Christi, die, wie Gregor von Nyssa erzählt, selbst das niedrigste Volk, männliche wie weibliche Sklaven, unaufhörlich quälte, so daß man kein Geld wechseln, kein Bad nehmen konnte, ohne zum Disputiren darüber gereizt zu werden? Lebt nicht im Munde des Volkes Carl Vogt als Affen-Vogt? Wird nicht von den Kanzeln herab die Hypothese bekämpft? Wer zählt die Vorlesungen, die jährlich von Berufenen und Unberufenen für Berufene und Unberufene darüber gehalten werden?

Andererseits ist der Darwinismus nur sehr wahrscheinlich: die Gelehrten sind noch nicht einig darüber. Ich nenne von seinen Gegnern nur Agassiz und den großen Schopenhauer, der den Vater des Darwinismus, den Lamarckismus, in den Staub getreten hat (»Ueber den Willen in der Natur«). Die Hypothese bietet also dem Satiriker noch ein weites Feld, um graziöse Sprünge zu machen.

Und dies hat nun in der That unser Ungenannter in der citirten Schrift gethan: er hat es meisterhaft gethan. Es wäre Schade, wenn die schöne Gelegenheit unbenutzt vorübergegangen wäre; denn es ist wohl keinem Zweifel unterworfen (und hierdurch bestimme ich meinen Standpunkt), daß die de Lamarck-Darwin’sche Descendenz- und Selections-Theorie in wenigen Jahrzehnten nur noch Widerstand auf der Kanzel und im Beichtstuhl finden wird. In unseren Tagen aber darf man sie noch bekämpfen, ohne sich lächerlich zu machen.

Wir haben jetzt noch die Grundzüge einer echten naturwissenschaftlichen Satire anzugeben.

1) Der Verfasser bekennt sich rückhaltslos zur Hypothese;

2) er zieht (nach seinem Belieben, aber streng logisch) ihre letzten Consequenzen;

3) diese Consequenzen sind absurd, sie widerstreiten dem gesunden Verstand, der hier das Ideal abgiebt, an dem die Hypothese mit ihren Consequenzen gemessen wird.

ii516 Entspricht die Satire des Unbekannten diesen Erfordernissen? Wir wollen sehen.

Der Verfasser beginnt mit der unbedingten Anerkennung der Grundprincipien der Darwin’schen Theorie. Er spricht seine Verachtung über die Scholastik und den Dogmatismus des Mittelalters aus und tadelt Linné und Cuvier, weil sie an das Dogma der unveränderlichen Species geglaubt haben, während er Darwin preist, dessen Werk: »die Entstehung der Arten«, er bahnbrechend und unsterblich nennt. Er erkennt ohne Einschränkung an: die Variabilität durch natürliche Zuchtwahl als das treibende, den Kampf um das Dasein als das regulirende und die Vererbung als das fixirende Princip der in unaufhörlichem, continuirlichem Flusse begriffenen Welt der Organismen. Aber er leugnet, daß diese Bewegung eine fortschreitende sei, daß die Organisation eine immer vollkommenere werde. Er sagt:

Es geht diese (Darwin’sche) Folgerung von zwei Voraussetzungen aus; zunächst als seien von drei individuellen Abänderungen gerade diejenigen, welche sich von dem ursprünglichen Charakter am weitesten einseitig nach links und rechts entfernen, eben wegen dieser Einseitigkeit im Vortheil vor der mehr die Mitte haltenden dritten Form, – – – während doch unzweifelhaft ein Organismus, welcher vermöge seines mittleren Charakters auch den äußeren Bedingungen mehrseitig angepaßt ist, darum vor anderen einseitig angepaßten Formen im entschiedenen Vortheil sein muß. Ebenso ist die andere Voraussetzung, daß ein höher, d.h. complicirter organisirtes Wesen eben dadurch einen Vortheil im Kampf um’s Dasein vor den niedriger, d.h. einfacher organisirten Wesen besitze, unrichtig, indem vielmehr umgekehrt der einfachere Organismus gerade dadurch von den äußeren Einflüssen verhältnißmäßig weniger abhängig, deshalb zu einer gesicherten Existenz und weiteren Verbreitung geeigneter sein muß, als ein Organismus mit möglichst differentiirten Organen und Functionen und mit potenzirten Ansprüchen.

(5. 6.)

Auf Grund dieser gewonnenen Sätze errichtet der Satiriker seine Reductions-Theorie, d.h. die Lehre: daß das organische Reich, von allen Seiten getrieben, auf immer tiefere Stufen herabsteige und die systematischen Unterschiede fallen lasse. Die einzige |

ii517 Concession, die er Darwin macht, ist die: daß die Divergenz das leitende Princip des Anfangs bis zu einem gewissen Zeitpunkt (er schlägt die Gegenwart als allgemeinen Wendepunkt vor) war. Für die Zukunft aber komme ohne Frage das Princip der Convergenz (der Rückbildung) zur Herrschaft,

wie bei einem emporgeworfenen Stein die treibende Wurfkraft, von der Schwerkraft gehemmt, allmälig abnimmt, bis endlich, nachdem die erstere consumirt ist, die letztere allein die Richtung des herabfallenden Steines bestimmt.

(70.)

Er bietet Darwin die Combination der beiden Theorien im beiderseitigen Interesse an, und stellt so dem großen Naturforscher auf die feinste und zugleich herzloseste Weise eine Falle.

Doch verfolgen wir jetzt die nähere Ausführung der Reductions-Theorie. Ich muß mich jedoch kurz fassen und verweise auf das Schriftchen selbst, das jeder Gebildete besitzen sollte.

Der Verfasser denkt sich zunächst eine Pflanzenspecies, die unter allen erdenklichen Abänderungen im Laufe der Zeit eine erzeugt, welche sich neben den übrigen Individuen durch eine, wenn auch noch so geringe Erweiterung ihrer Temperaturgrenzen auszeichnet und durch die auf diese Weise bedingte größere Unabhängigkeit vom Klima offenbar einen Vortheil vor den concurrirenden Individuen gewinnt. Diese Abänderung wird sich vererben, befestigen und allmälig so sehr steigern, daß die neue Form für die höchsten und niedrigsten Temperaturgrade der Erdoberfläche, soweit sie überhaupt Pflanzen trägt, angepaßt ist. Er denkt sich zweitens eine Wasserpflanze, die in ähnlicher Weise so abgeändert wird, daß sie ebenso gut auf dem Lande wie im Wasser leben kann.

Ferner kann eine Pflanze durch die natürliche Zuchtwahl allmälig gewöhnt werden, aus jeder Bodenart ihre Nahrung zu ziehen.

(7.)

Wiederum kann eine Pflanzenspecies in der Weise abändern, daß sie sich von der Beschränkung ihrer Befruchtung befreit.

(7.)

Nun können sich aber ohne Zweifel alle diese Abänderungen im Laufe unendlich vieler Generationen in einer einzigen Pflanzenart vereinigen, so daß wir in ihr eine wahre Universalpflanze, einen Kosmopolit im vollen Sinne des Wortes hätten.

(8.)

ii518 Das Bestreben dieser Universalpflanze würde nun sein: die Fortpflanzung mit einer Blüthe, einem Pollenkorn, einem Eichen zu erreichen und das ganze gesparte Material im Interesse ihrer individuellen Erstarkung zu verwenden.

Selbstverständlich würde mit dieser inneren Abänderung auch eine Abänderung der Structur und des äußeren Baues Hand in Hand gehen, und das nächste Ergebniß des Züchtungsprocesses würde eine Ausgleichung aller systematischen Unterschiede sein.

(10.)

Mit diesem Ausgleichungsproceß steht aber im unmittelbaren Zusammenhang eine Abänderung anderer Art, nämlich eine fortschreitende Vereinfachung der äußeren und inneren Organisation.

(11.)

Es werden Organe verkümmern (die Entstehung eines Organs aus der natürlichen Zuchtwahl zu erklären, ist schwierig oder geradezu unmöglich; dagegen das Verschwinden eines Organs zu erklären, sehr einfach und leicht) und der nächste Schritt ist die Beseitigung des Geschlechtsapparats.

In unserem Züchtungsproceß wird die Vermehrung durch Knollen, Ausläufer und weiterhin selbst durch einfache Theilung oder durch bloße Ablösung von Brutzellen, wie bei den Moosen, vollständigen Ersatz für Blüthe und Frucht liefern.

(20.)

Dann wird der Kosmopolit zur Schlingpflanze werden, die Blätter werden sich zu Ranken, die Haare zu Haken umbilden.

Da aber eine übermäßige Längenentwickelung offenbar für das Individuum keinen Nutzen hat, so läßt sich vorhersehen, daß sich der Stengel aller Pflanzen im Laufe der Zeit durch die natürliche Zuchtwahl immer mehr verkürzen wird.

(21. 22.)

Ferner werden nicht nur alle Organe allmälig die Kugel- und Kreisform, mit möglichst glatten Rändern, anzunehmen suchen, sondern es werden auch weiterhin alle Verzweigungen und Blätter eingezogen und die ganze Pflanze auf die reine Kugelform reducirt werden. Hiernach wird sich der Pflanzenstock in eine Colonie von Zellen und endlich in lauter vollkommen isolirte, gleichwerthige vegetative Zellen auflösen.

ii519 Denselben Proceß für das Thierreich zu deduciren, würde natürlich leicht sein. Das ganze Thier- und Pflanzenreich reducirt sich auf unzählige Protoplasmatropfen.

Auf diese Weise würde sich der Kampf um’s Dasein in die »reine Harmonie des friedlichen Nebeneinanders« auflösen und das Princip der natürlichen Zuchtwahl hätte sich selbst aufgezehrt,

wie eine Maschine, deren treibende Kraftsumme genau in dem Zeitpunkt, wo der Zweck erfüllt ist, vollständig consumirt ist.

(25.)

Und was hindert dann weiter noch die Elemente: Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff, die Bande, in welche sie wider Willen gefesselt sind, zu zerreißen?

(28.)

Als letztes Ziel folgt dann auf die Zersetzung des organischen Reichs in die chemischen Elemente, nach der Theorie der Physiker (Clausius) die Auflösung aller mechanischen und chemischen Kräfte, kurz des ganzen Kosmos in die allgemeine Wärme.

Nun kommt der Verfasser zu seinem eigentlichen Zweck, zum Brennpunkt der ganzen Schrift. Nach seiner Meinung hat der Reductionsproceß im Einzelnen hie und da schon stattgefunden und der Mensch stammt nicht vom Affen, sondern der Affe vom Menschen ab. Der Affe ist der im allgemeinen Umbildungsproceß vorausgeeilte Vetter des Menschen, und die jetzt noch lebenden Menschen verwandeln sich, nach einer unübersehbaren Reihe von Generationen, in Affen.

Der Verfasser läßt aber dieses überraschende Resultat nicht auf seiner klar entwickelten Theorie allein beruhen, sondern er giebt ihm auf die geistvollste Weise Stützen aus der Natur, aus dem Leben der Völker und aus dem Darwinismus selbst.

Zunächst berührt er den wichtigsten Unterschied zwischen dem Menschen und Affen: die Vernunft, bedingt durch die größere Gehirnmasse des Menschen. Da aber die meisten Menschen in ihrer sehr beschränkten oder einseitigen geistigen Arbeit nur einen unvollkommenen Gebrauch von ihrem Gehirn machen, so wird der überwiegende Theil der Gehirnsubstanz fast gänzlich außer Function sein. Da nun ferner, nach einem Hauptgesetz des Darwinismus, der dauernde Nichtgebrauch eines Organs dessen Verkümmerung herbeiführt, so folgt mit Nothwendigkeit, daß das menschliche Gehirn, im Verfließen zahlreicher Generationen, allmälig |

ii520 auf die Größe und Einfachheit des Affengehirns reducirt werden wird.

Der zweite Charakter des Menschen ist seine Zweihändigkeit gegenüber dem vierhändigen Affen.

(45.)

Die natürliche Zuchtwahl wird aber darauf bedacht sein, den Fuß des Menschen handartig auszubilden, weil Leichtigkeit der Bewegung dem Individuum einen der wichtigsten Vortheile gewährt, und der vernunftlos gewordene Mensch mit seinen zwei, zum aufrechten Gang eingerichteten Füßen mit dem kletternden Affen nicht concurriren könnte. Ebenso wird der Mensch durch natürliche Zuchtwahl die vorhandene Anlage zu einem Schwanze zu einem vollkommen freien Schwanze ausbilden, welcher beim Laufen als Steuerwerkzeug, beim Stehen als Stütze, beim Klettern als Greifwerkzeug gute Dienste leisten kann. Endlich wird sich beim Menschen die Anlage zur Behaarung als allgemeiner Charakter ausbilden, da der unverkennbare Vortheil dieser Eigenschaft für das Individuum, als Ersatz für die mühsam zu beschaffende Bekleidung, sich als wirksames Motiv für die natürliche Zuchtwahl geltend machen muß.

Der Culturgeschichte werden folgende Stützen entlehnt.

Zunächst betont der Satiriker, daß neben dem Gesetz der Verdrängung von Naturvölkern durch Culturvölker die Thatsache stehe, daß nicht selten Culturvölker vom Schauplatz abtreten, ohne daß jedesmal das an die Stelle tretende Volk eine relativ höhere Stufe einnimmt. (Ein sehr feines Sophisma!) Die tiefe Culturstufe unserer Vorfahren in der Steinzeit ist kein Beweis für einen Fortschritt in aufsteigender Linie.

Man kann annehmen, daß dieselben einem Zweige des gemeinschaftlichen Stammbaums angehören, welcher, während der durch uns vertretene Zweig den ursprünglichen Culturzustand festgehalten hat, im Laufe der Zeit verhältnißmäßig schnell auf jene tiefe Stufe hinabgesunken ist, und daß dieselben entweder erloschen oder wohl gar immer weiter herabsinkend, die Stammeltern derjenigen Vierfüßler geworden sind, mit welchen sie schon in der Steinperiode so nahe Berührungspunkte erkennen lassen. –

(49.)

Betrachten wir die specifisch menschlichen Qualitäten: Vernunft, Sprache, Willenskraft und das sittliche Vermögen, – läßt |

ii521 sich hierin ein Fortschritt im Laufe der Jahrtausende nachweisen? Hat gegenüber der Erfindung der Sprache und der Schrift durch unsere Vorfahren unser Geschlecht irgend eine Leistung von ähnlicher Bedeutsamkeit aufzuweisen? –

(50.)

Niemand kann bestreiten, daß die Religiosität, neben der Sprache, den bedeutsamsten Unterschied zwischen Mensch und Thier bildet. Die Religiosität des Menschengeschlechts ist aber im Großen und Ganzen im Abnehmen begriffen. –

(53. 54.)

Es zwingt uns also die Logik mit unwiderstehlicher Consequenz zu der Ansicht, daß das gesetzmäßige Verschwinden des religiösen Bewußtseins, als eines specifisch menschlichen Charakters, auf den entgegengesetzten Entwicklungsgang, vom Menschen zum Thiere hinweist. –

(57.)

Auch die Vernunft nimmt ab. Der Satiriker macht hierüber diese Bemerkungen:

Wenn bisher klares und consequentes Denken immer noch als ein specifischer Vorzug des Menschen gegolten hat, so kann man sich doch nicht gegen die Wahrnehmung verschließen, daß selbst wissenschaftlichen Schriftstellern unserer Tage häufig die Zwangsjacke der Logik lästig zu werden scheint, während in gewissen Kreisen der »Gebildeten« die Ansprüche an logische Correctheit schon längst geradezu als Spitzfindigkeiten perhorrescirt werden. –

Aber auch das moralische Princip, welches als das wahrhaft und in höherem Sinne Menschliche bezeichnet werden kann, nimmt ab. –

(58.)

Das Gesetz, welches wir von Darwin gelernt und unserer ganzen Betrachtung zu Grunde gelegt haben, ist das Gesetz der Erhaltung des bevorzugten Individuums, das Princip der natürlichen Zuchtwahl. Die Erfahrung bestätigt nun, daß diejenigen am sichersten den Kampf um’s Dasein bestehen, welche am rücksichtslosesten das eigene Interesse verfolgen und in der Wahl der Mittel am wenigsten wählerisch sind, während die Sonderlinge, welche sich durch Gewissen und Aufopferung Schranken auferlegen, bei Seite geschoben und unter dem Rade der Zeit zermalmt werden. Mit Unrecht bezeichnet man den Trieb der Selbsterhaltung mit dem gehässigen Namen des Egoismus. –

(60. 61.)

Hat man doch mit Recht den Satz aufgestellt, daß die In|teressen

ii522 der Gesammtheit am besten gedeihen werden, wenn der Einzelne am ungestörtesten für sich selbst sorgt.

(61.)

Wenn nun in der Thierwelt durchweg und ausschließlich der Trieb der Selbsterhaltung herrscht, und wenn man zugleich zugiebt, daß in der Geschichte der Menschheit der Fortschritt auf die Beseitigung des edlen, aber thörichten Aufopferungstriebes und auf die Ausbildung des Selbsterhaltungstriebes gerichtet ist, – so folgt hieraus mit logischer Schärfe, daß die Menschheit nach Ausgleichung des ursprünglich zwischen Thier und Mensch vorhandenen ethischen Unterschiedes strebt, – daß sich also auch in diesem Punkt unsere Theorie der Reduction bestätigt.

Mit dem Verschwinden des ethischen Charakters steht eine andere Aeußerung des Ausgleichungsgesetzes im engsten Zusammenhang: die Erfahrung, daß Originale immer seltener werden, dagegen ein gewisser Durchschnittsbetrag an intellectueller und moralischer Bildung am meisten Anerkennung und Erfolg genießt, wie ja bekanntlich das Mittelmäßige im menschlichen Leben am besten fortkommt. –

(63.)

Ganz besonders mächtig erweist sich unser Gesetz der naturgemäßen Auflösung gegebener Formen auf dem socialen und politischen Gebiet. –

(63. 64.)

Und nun kritisirt der Satiriker scharf, sehr scharf, die Gestaltungen des modernen öffentlichen Lebens. Er weist auf den Zusammenbruch aller veralteten mittelalterlichen Formen, auf die Ausgleichung der schroffen Gegensätze der Nationen durch Eisenbahnen und Litteratur und auf den Einsturz der Schranken zwischen den Ständen hin.

Das Zunftwesen ist bereits der Gewerbefreiheit gewichen, und der Freihandel wird den Sieg über das Schutzzollsystem gewinnen. Es drängt Alles dahin, den Unterschied zwischen Arm und Reich durch Aufhebung des Eigenthums zu vernichten. – Der bisherige intellectuelle Unterschied zwischen den Geschlechtern entpuppt sich immer mehr als ein scheinbarer, so daß die Emancipation der Frauen demnächst nicht mehr wie bisher als ein Phantom gelten wird. – Der Uebergang vom Absolutismus zur Theilung der Gewalten in der constitutionellen Monarchie vollzieht sich vor unseren Augen im Verlaufe einer einzigen Generation. –

(65. 66.)

ii523 An die Stelle des ausgelebten Patriarchalismus tritt die gediegene Büreaukratie und der stramme Militarismus. Es entstehen Associationen und das kunstreiche Gefüge des Fabrikbetriebes. –

(67.)

Föderalismus und Kleinstaaterei, so gute Dienste sie der Cultur in vergangenen Zeiten gethan haben mögen, gehen auf in dem unaufhaltsamen Streben unserer Zeit nach der Bildung großer einheitlicher Staaten. –

(67.)

Anstatt des Particularismus und der Individualisation, ist Centralisation die Losung der Zukunft und aus dem engherzigen und kurzsichtigen Kirchthurm- Patriotismus haben wir uns zu einem Patriotismus höherer Art emporgeschwungen. Der Kosmopolitismus ist das Ziel, welchem die Menschheit unaufhaltsam zusteuert. –

(68.)

Es ist keine Frage: die sich vor unseren Augen vollziehenden socialen und politischen Veränderungen führen zu der Ansicht, daß das Menschengeschlecht als ein ursprünglich nach Rassen, Völkern, Sprachen, Ständen, Familien reich gegliederter Organismus im Laufe der Zeit nach einem unwiderstehlichen Naturgesetz zu einem gestaltlosen und nur mechanisch gegliederten Aggregat gleichwerthiger Individuen zusammenschmelzen wird. –

(68.)

Damit nun seine Arbeit eine vollkommene sei, erwägt der Satiriker in einem besonderen Capitel die Schwierigkeiten seiner Theorie. Er meint:

Es wird ohne Zweifel nicht an mancherlei Einwürfen gegen die hier dargelegte Ansicht fehlen. Vor Allem wird man derselben das Bedenken entgegenhalten, daß sich, wenn das organische Reich in einem solchen Reductionsproceß begriffen wäre, doch im Laufe der Zeit eine Veränderung in diesem Sinne direct wahrnehmen lassen müßte. Denselben Einwurf hat man gegen Darwin’s Fortschritts-Theorie erhoben; allein wie dieser mit Recht hiergegen erwidert hat, so dürfen auch wir auf die alle Vorstellung übertreffende Langsamkeit, womit sich der Proceß der Abänderung und der Sichtung und Befestigung der Abänderungen vollzieht, hinweisen, um es begreiflich zu machen, daß sich die Veränderung der directen Beobachtung entziehen muß. –

(33.)

ii524 Auch unser Satiriker fußt auf dem Satze: »an Zeit ist kein Mangel«, und ruft sogar die Paläontologie zum Schutze seiner Theorie an. Doch man lese das Nähere nach.

Besonders stützt er sich auf die oben skizzirten Resultate der Culturgeschichte und auf die Thatsache, daß die Organisation des menschlichen Denkvermögens sowohl auf die Ausgleichung, als auf die Reduction hinweise, da aus der regressiven, vom Vielen zum Einen, vom Zusammengesetzten zum Einfachen sich bewegenden Denkthätigkeit auf eine übereinstimmende Richtung in der Entwicklung der ganzen organischen Natur geschlossen werden dürfe.

Er schließt die Satire mit den Worten, die einen beißenden, infernalen Hohn enthalten:

Mag es nun Darwin gefallen, in diesem Compromiß die dargebotene Hand zu ergreifen, oder nicht, – in jedem Fall stehen wir als Bundesgenossen vereint einem gemeinschaftlichen Gegner gegenüber: jener kleinen, aber zähen Partei feudaler Geister, welche sich mit unbegreiflicher Verblendung eigensinnig gegen das neue Gesetz dieser großen Zeit verschließen, insbesondere gegen die von uns vertretene, wahrhaft lebendige Auffassung der organischen Natur als eines mit vollkommener Leichtflüssigkeit dahin gleitenden Stromes, in welchem das allein maßgebende und gestaltende Princip der Vortheil des Individuums ist. Indem sie sich hinter die »exacte Methode«, »Logik«, »historisches Recht«, »höhere Weltordnung« u. dergl. verschanzen, wähnen sie, wie ein Fels im Strome zu stehen und denselben zu dämmen. Aber der Strom geht unbekümmert über sie hinweg. Dennoch seien wir auf der Hut vor diesem Geschlecht, welches immerhin im Stande ist, den glatten Fortschritt zu stören! Gehen wir auch den Zunftgelehrten unter den Naturforschern und Philosophen aus dem Wege, welche, bewußt oder unbewußt, mit jenen an einem Joche ziehen, und stützen wir uns vielmehr, wie bisher, vor Allem auf die vorurtheilsfreie Menge der Gebildeten, welche von jeher die Träger aller wahrhaft großen und bahnbrechenden Ideen gewesen sind!

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ii525 Dies ist im Wesentlichen der Inhalt der merkwürdigen Schrift, auf deren Titelblatt sich das räthselhafte Motto: D. e. s. n. s. befindet. Die Buchstaben bedeuten: Difficile est, satiram non scribere, und erheben meine Ansicht, daß es sich um eine Satire handelt, über allen Zweifel. Die Satire ist, nach meiner Ueberzeugung, vollkommen, da ihre Sophismen und Widersprüche (die übrigens außerordentlich sorgfältig verdeckt sind) nur dann in’s Gewicht fallen würden, wenn es sich um eine ernsthafte Hypothese handelte.

Der Verfasser gehört selbstverständlich zu »jener kleinen, aber zähen Partei feudaler Geister«, die sich »hinter die exacte Methode, Logik, historisches Recht, höhere Weltordnung« und, füge ich hinzu, hinter die Unveränderlichkeit der Arten verschanzen. Es liegt die Vermuthung nahe, daß sich hinter der Schrift ein hoher Würdenträger der Kirche (vielleicht der streitbare Bischof von Mainz?) verbirgt, was ein Beweis dafür wäre, daß aus dem ultramontanen Lager noch nicht aller Geist entwichen ist und man dort, außer den unsäglich plumpen Streitäxten und Kolben, auch feinere Waffen vorfindet. Indessen macht mancherlei diese Ansicht unwahrscheinlich. Man ist auch versucht, auf Riehl, den edlen letzten Ritter und Beschützer der mittelalterlichen Formen, und auf Hartmann, den Verfasser der »Philosophie des Unbewußten« zu schließen. Der Stil der Schrift deutet auf Letzteren; doch wäre Hartmann ihr Urheber, so würde sie ihre Existenz einer übermüthigen Laune desselben verdanken.

Zum Schlusse gestatte man mir eine kurze Betrachtung.

Ob die von unserem »feudalen« Satiriker nicht ernstlich aufgestellte Reductionstheorie, trotz Allem und Allem, wenigstens für das Pflanzen- und Thierreich, Gnade vor den Naturforschern, welche auf Darwin’s Seite stehen, finden wird, d.h. ob sie den Darwinismus neu befruchten kann, – das wage ich nicht zu beurtheilen. Männer, wie der verdienstvolle Häckel, der sein ganzes Leben, so zu sagen, dem Darwinismus und Allem, was damit zusammenhängt, gewidmet hat, mögen entscheiden.

Vom Standpunkte der Philosophie aus muß dagegen ausgesprochen werden: daß der Gedanke der Reduction ein bestechendes aperçu und berechtigt ist, sich geltend zu machen.

ii526 Ganz allgemein läßt sich sagen, daß die in der Natur verkörperte Kraftsumme (man nenne sie wie man wolle!) den Menschen sofort gebildet, d.h. sofort sich so objektivirt haben würde, daß sie vom Selbstbewußtsein beleuchtet worden wäre, wenn sie diesen kurzen Weg hätte einschlagen können. Die Naturwissenschaft lehrt, daß sie es factisch nicht konnte, daß sie mit allen möglichen Formen rang, sich gleichsam wie ein Fieberkranker ruhelos hin- und herwälzte, unaufhörlich Versuche machte, bald Formen bildete, bald solche zerbrach, wieder neue gestaltete, gelungene weiterbildete, und so, durch Fische, Amphibien, Vögel u.s.w. hindurch, endlich das Selbstbewußtsein errang. Vom Augenblicke an, wo sie diesen großartigen Triumph feierte, können ihr sämmtliche Zwischenstufen gleichgültig geworden sein. Sie würde es genau gemacht haben und noch immer machen wie der Ehrgeizige, der, auf dem Gipfel der Macht angelangt, die Sprossen, welche ihn hinauftrugen, verachtet.

Die Frage ist also immerhin berechtigt: was kann der Natur noch an Schlangen, Löwen, Affen u.s.w. liegen, nachdem sie den Menschen geboren hat? Sie vernachlässigt jetzt diese Gebilde und läßt sie allmälig verkümmern: sie reducirt sie allmälig auf die Grundstoffe.

Jedenfalls liegt ihr (bildlich geredet) offenbar nichts mehr an allen Organismen, mit Ausnahme der Menschen. Sie hat gleichsam beschlossen, das ganze Pflanzen- und Thierreich in die Hand des Menschen zu geben. Die Zeit wird kommen, wo kein Fleckchen der Erde mehr unbebaut, wo Alles dem Menschen unterthan sein wird. Dann gestattet der große Sohn des Prometheus nur noch denjenigen Pflanzen und Thieren das Dasein, welchen er wohl will.

Dagegen beruhen die kühnen und kecken Schlüsse, welche der Satiriker aus der Menschheit und ihrem Entwicklungsgang zieht, ohne Ausnahme auf Sophismen. Zwei derselben, die feinsten, will ich aufdecken.

Der Satiriker billigt den Egoismus als ethisches Princip, d.h. er verwirft ihn. Der arme, arme Egoismus! Wer zählt die Keulenschläge, die er in fast allen Moralsystemen erhalten hat? Jeder, der die Welt mit einer neuen Ethik beglückte, hielt sich für verpflichtet, eine Steinigung, ein auto da fé des Egoismus in Scene zu setzen. Es ist geradezu ein Wunder, daß der »geschun|dene

ii527 Raubritter« noch immer lebt und dabei strotzend von unverwüstlicher Gesundheit ist. Ich schlage mich fast immer, ohne lange zu fragen, auf die Seite des Unterdrückten. So habe ich auch nie recht daran glauben wollen, daß der Schelm wirklich so schlecht ist, wie die entrüsteten Philosophen ihn gewöhnlich schildern. Nach langem Nachdenken bin ich auch zu der Ueberzeugung gelangt, daß der Egoismus, d.h. der individuelle Glückseligkeitstrieb, in der That der Eckstein der Moral ist, über deren Fundament allein bekanntlich gestritten wird, nicht über sie selbst.

Jede Handlung, die niederträchtigste wie die heiligste, beruht auf Egoismus; nur muß man den natürlichen (rohen) vom geläuterten Egoismus unterscheiden. Jeder Mensch ist eine abgeschlossene Individualität und kann nicht aus seiner Haut heraus. Jede Handlung entspringt immer einem bestimmten Ich, das sein Glück allein im Auge hat. Der Held, welcher für die Menschheit in den Tod geht, sucht doch nur sein Glück, seine Befriedigung, denn wäre er glücklich, wäre er befriedigt, wenn er gegen seine Natur, sein Ich, das die Menschheit glühend liebt, handeln müßte? Es ist grundfalsch, den Egoismus mit dem Selbsterhaltungstrieb zu identificiren, was auch unser Satiriker thut. Es gab und giebt noch immer Menschen, welche, ihr Glück suchend, in den Tod gehen. (Christliche Märtyrer der ersten drei Jahrhunderte; indische Büßer.) Der Egoismus ist identisch mit dem Glückseligkeitstrieb.

Das zweite Sophisma, welches ich aufdecken will, ist die Reduction des menschlichen Gehirns auf die Größe und Einfachheit des Affengehirns. (Uebrigens sei hier bemerkt, daß auch Fichte in seinen »Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters« eine Art Rückbildung in der Menschheit gelehrt hat, da er ein Urgeschlecht reiner, vollkommener Menschen annahm. Im Zusammenhang damit mußte er natürlich die Abstammung des Menschen vom Affen als absurd verwerfen.)

Es findet allerdings in der Menschheit eine Ausgleichung statt, aber in der Weise, daß die genialen Geister durch ihre Lehren allmälig Alle zu sich heraufziehen und nach sich bilden. So wird die Zeit ganz bestimmt kommen, wo alle Menschen, oder doch die meisten, in höchster Bildung auf gleicher Stufe stehen; denn es ist ein Gesetz der Fortschrittstheorie, daß der Geist auf Kosten |

ii528 des Thiers in uns ausgebildet wird, wenn auch zunächst bei den meisten, nur der Potenz nach: die vermehrte Denkkraft bleibt einstweilen latent, vererbt sich aber. Fließt dann, bei geänderten socialen Verhältnissen, der Strom der Bildung auf diese gebundene geistige Kraft, so wird sie frei und wirkt. Das Organ verkümmert nur in Einzelnen; denn Sinne, Verstand, Urtheilskraft, Phantasie und Vernunft werden durch die alltäglichsten Vorfälle der unbedeutendsten Art immer beschäftigt und regsam erhalten.

Siehst Du, satirical rogue, wie wunderlich (um mit Plato zu reden) Du bist?

Aber ich habe dem vortrefflichen Satiriker gegenüber, wie ich mit Schreck bemerke, den richtigen Stand verloren. Ich gewinne diesen wieder. Nach Art der höflichen Chinesen, die sich bei Demjenigen, welchen sie besuchen, vor allen Dingen erkundigen, zu welcher Religion er sich bekenne, damit sie ihr Gespräch der Antwort gemäß einrichten können, – erkenne ich den Standpunkt des geistreichen Ungenannten vorübergehend bereitwilligst an. Und so erübrigt mir jetzt nur noch, dem Verfasser nochmals meine Anerkennung für seine brillante Satire darzubringen. Auch Professor Häckel und Darwin werden ihm gewiß verzeihen, daß er ihnen eine Falle gestellt hat. Ich danke ihm ferner von Herzen für die drei köstlichen Stunden, die mir durch seine Schrift geschenkt wurden; denn in unserer Welt assai più trista che serena (Ariosto) soll man alle Diejenigen segnen, welche uns auf Augenblicke über das Elend des Daseins erheben und in den lichten Aether reiner Freude tragen.

 

November, 1875.

 

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Zwölfter Essay.
Kritik
der
Hartmann’schen Philosophie des Unbewußten.

 

ii529

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Das ist doch nur der alte Dreck;

Werdet doch gescheidter!

Tretet nicht immer denselben Fleck,

So geht doch weiter!

Goethe.

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Vorwort.

I. Einleitung.

II. Psychologie.

III. Physik.

IV. Metaphysik.

Schlußwort.

—————

 

Vorwort.

 

ii531

Wer den Philosophenmantel anlegt, hat zur Fahne der

Wahrheit geschworen, und nun ist, wo es ihren Dienst gilt,

jede andere Rücksicht, auf was immer es auch

sei, schmählicher Verrath.

Schopenhauer.

 

Indem ich mich der mühsamen Arbeit unterziehe, den Hartmann’schen Pantheismus gründlich und erschöpfend zu kritisiren, leitet mich der Gedanke, daß ich nicht nur gegen das philosophische System dieses Herrn, sondern auch zugleich gegen verschiedene verderblichen Strömungen auf dem Gebiete der modernen Naturwissenschaften kämpfe, welche Strömungen, wenn sie nicht zum Stillstand gebracht werden, den Geist einer ganzen Generation verdunkeln und desorganisiren können. Gegen Herrn von Hartmann allein würde ich nicht aufgetreten sein. Ihn und sein System auf die Seite zu drängen, hätte ich getrost der Kraft des gesunden Menschenverstandes überlassen können, denn Goethe sagt sehr richtig:

Das Unvernünft’ge zu verbreiten

Bemüht man sich nach allen Seiten;

Es täuschet eine kleine Frist,

Man sieht doch bald, wie schlecht es ist.

Der Pantheismus der alten Brahmanen war nothwendig für die Entwicklung des Menschengeschlechts und kein Vernünftiger möchte ihn in der Geschichte vermissen; ebenso fiel es mir nicht schwer, mich vom geschichtsphilosophischen Standpunkte aus mit dem Pantheismus des Mittelalters (christliche Mystiker, Scotus Erigena, Giordano Bruno, Vanini, Spinoza) zu versöhnen; der Pantheismus des Herrn von Hartmann aber steht in unserer Zeit |

ii532 da, wie ein Kinderschuh in der Garderobe eines Mannes, d.h. in romantischer Weise, wie David Strauß außerordentlich treffend die Verquickung des Alten mit dem Neuen nennt:

Wir kennen diese Verquickung des Alten und Neuen zum Behuf der Wiederherstellung oder besseren Conservirung, vorzugsweise auf religiösem, doch auch auf anderen Gebieten, aus unserer nächsten Nähe gar wohl, und sind gewohnt, sie Romantik zu nennen. So hat man romantische Dichter jüngst diejenigen genannt, welche die verblichene Märchenwelt des mittelalterlichen Glaubens als tiefste Weisheit poetisch zu erneuern strebten; philosophische Romantiker sind uns jene, welche der kritisch entleerten Philosophie den Inhalt, den sie denkend nicht zu produciren wissen, durch phantastisches Einmengen religiösen Stoffes zu verschaffen suchen; der romantische Theolog müht sich, durch philosophische und ästhetische Zuthaten den abgestandenen theologischen Kohl wieder genießbar und verdaulich zu machen; romantische Politiker sehen in der Wiedererweckung des mittelalterlichen Feudal- und Ständewesens das einzige Hülfsmittel für den modernen Staat; ein romantischer Fürst endlich wäre Der, der, wie Julian der Abtrünnige, in den Vorstellungen und Bestrebungen der Romantik aufgenährt, dieselben durch Regierungsmaßregeln in die Wirklichkeit überzusehen den Versuch machte.

Auf Herrn von Hartmann paßt vollständig die obige geistvolle Charakteristik eines philosophischen Romantikers: Er gab »der kritisch entleerten Philosophie den Inhalt, den er denkend nicht zu produciren wußte, durch phantastisches Einmengen religiösen Stoffs.« Aber zugleich stützte er diesen Stoff, bald in feiner, bald in plumper sophistischer Weise, auf die richtigen und falschen Resultate der Schopenhauer’schen Philosophie und der modernen Naturwissenschaften, und brachte dadurch ein System zu Wege, das ich für eminent gemeinschädlich halte, so gemeinschädlich wie reißende Thiere, und das ich deshalb angreifen muß. Es ist mir selbstverständlich nur um die Sache zu thun. Ich kenne Herrn von Hartmann nicht und er mich nicht; auch hat er von mir noch Nichts gelesen, Nichts von mir beurtheilt, und kann deshalb zwischen uns Beiden keine persönliche Rancüne bestehen; denn während ich Dieses schreibe, befindet sich mein Hauptwerk: »Die Philosophie der Erlösung«, noch unter der Presse.

ii533 Meine Stellung zu Schopenhauer und die dadurch bedingte zu Herrn von Hartmann ergeben sich klar und hell aus folgender Stelle eines Briefes, welchen ich mit meinem Hauptwerk an meinen Verleger sandte:

»Auf philosophischem Gebiete beherrschen zwei Systeme die Geister unserer Zeit: der Materialismus und der Pantheismus.

Der Materialismus ist ein ganz unhaltbares philosophisches System. Er geht von einer realen unterschiedslosen Materie aus, die noch Niemand gesehen hat und auch Niemand je sehen wird. Er wirft, obgleich es noch keinem Menschen gelungen ist, aus Sauerstoff Wasserstoff, aus Chlor Jod u.s.w. zu machen, alle einfachen chemischen Stoffe in einen Topf und nennt diesen Brei: Materie. Dies ist sein erstes, geradezu mit Gewalt hervorgerufenes Grundgebrechen. Da indessen diese erschlichene Einheit, eben als unterschiedslose Einheit, aus sich selbst keinerlei Veränderung bewirken kann, so ist der Materialismus genöthigt, zum zweiten Male die Erfahrung zu überfliegen und Naturkräfte (metaphysische Wesenheiten) zu postuliren, welche dieser unterschiedslosen, qualitätslosen Materie inhäriren und in ihrem Kampfe miteinander die Qualitäten der Dinge hervorbringen sollen. Dies ist sein zweites Grundgebrechen, und sagte ich deshalb in meinem Werke, daß der Materialismus transscendenter dogmatischer Dualismus sei.

Der Pantheismus ist gleichfalls ein ganz unhaltbares System. Nachdem Kant das Ding an sich für vollständig unerkennbar erklärt und alle Hypostasen aus der Scholastischen Philosophie zerstört hatte, bemächtigte sich aller Derjenigen, welche ein metaphysisches Bedürfniß hatten, für dessen Befriedigung gesorgt werden mußte, das Gefühl einer peinigenden Leere, Da es nun nach Kant’s entschiedenem und erfolgreichem Auftreten unmöglich war, noch an ein außerweltliches Wesen zu glauben, so kam Spinoza zu hohen Ehren, und man klammerte sich, um nicht allen Halt zu verlieren, an eine einfache Einheit in der Welt. Alle bedeutenden Nachfolger Kant’s: Fichte, Schelling, Hegel und Schopenhauer, kreisten um diese innerweltliche mystische Einheit, die man nur verschiedenartig benannte, wie: absolutes Ich, absolutes Subjekt-Objekt, Idee, Wille. Was überhaupt zu einer solchen Einheit |

ii534 führt, ist der nicht abzuleugnende dynamische Zusammenhang der Dinge und ihre einheitliche Bewegung, welche, wie ich vorläufig bemerken will, nicht aus den empirischen Individuen allein zu erklären sind.

Von den Systemen aller Genannten hat sich nur das Schopenhauer’sche erhalten, aus zwei Gründen: erstens wegen seines vollendet klaren Stils, zweitens – so paradox dies auch klingen mag – wegen seines größten Widerspruchs in sich selbst. Schopenhauer schwankt nämlich unaufhörlich zwischen der mystischen, unerkennbaren, unbegreiflichen Einheit in der Welt und den mit ihr unverträglichen realen Individuen. Auf diese Weise üben seine Werke sowohl auf transscendent (metaphysische), als auch auf immanente (empirische) Geister den größten Zauber aus, indem Jeder aus denselben herausliest, was ihm eben behagt.

Hieraus ergiebt sich, daß die Schopenhauer’sche Philosophie nach zwei Richtungen weiterzubilden ist und, da der Widerspruch nicht bestehen bleiben darf, auch weitergebildet werden muß: einmal nach der Seite der All-Einheit in der Welt, dann nach der Seite der realen Individualität.

Die Weiterbildung in der ersten Richtung hat Herr von Hartmann in seiner »Philosophie des Unbewußten« unternommen. Das Goethe’sche Wort:

Eine eklektische Philosophie kann es nicht geben, wohl aber eklektische Philosophen,

findet auf ihn und sein Werk volle Anwendung, d.h. Herr von Hartmann ist eklektischer Philosoph und seine Philosophie kann, eben weil sie eine eklektische ist, keinen Bestand haben. Dieser talentvolle, aber compilatorische Geist hat mit der größten Gewaltthätigkeit aus den Lehren Hegel’s und Schopenhauer’s sich so viel herausgenommen als er brauchte, um Schelling’s absolute Identität von Willen und Idee, den Pantheismus des Geistes, zu einem neuen System zurechtzustutzen.

Ich kann mich selbstverständlich in einem Briefe nicht darauf einlassen, die Fehler, die schreienden Widersprüche, die handgreiflichen Absurditäten der Hartmann’schen Philosophie zu beleuchten. Ich werde dies später thun, wenn meine Philo|sophie

ii535 erschienen sein wird; denn obgleich es eine sehr unangenehme Arbeit sein wird, so muß sie doch von mir gethan werden, da Derjenige, welcher zur Fahne der Wahrheit geschworen hat, nicht nur verpflichtet ist, die Wahrheit zu verkündigen, sondern auch die Lüge zu bekämpfen, wo immer und in welcher Form auch sie sich zeigen mag. Nur Das will ich hier bemerken, daß in der Hartmann’schen Philosophie der Pantheismus auf die Spitze getrieben worden ist. Der mystischen transscendenten Einheit, die immer das menschliche Herz kalt lassen wird, werden überschwängliche Hymnen gesungen, während das reale Individuum zur todten Marionette, zum völlig bedeutungslosen Werkzeug oder (der flunkernden Sprache des Herrn von Hartmann gemäß) zum »aufgehobenen Moment«, zur »objektiv (göttlich) gesetzten Erscheinung« gemacht wird.

Der Pantheismus ist halbe Wahrheit, denn ihm widerspricht die Thatsache der inneren und äußeren Erfahrung: die reale Individualität, während es unleugbar ist, daß der einheitliche Entwicklungsgang des Weltalls nur aus einer einfachen Einheit abgeleitet werden kann.

Nach der zweiten Richtung nun, nach der Seite des realen Individuums, ist Schopenhauer’s Philosophie seither in ganz oberflächlicher und unhaltbarer Weise weitergebildet worden. Mehrere haben es versucht, aber ohne den geringsten Erfolg: sie brachten nur platte Systeme zu Wege. Indessen, selbst wenn sie mit Geist und Geschicklichkeit die unzerstörbaren Rechte des Individuums vertheidigt hätten, so würden sie doch nichts Ersprießliches geleistet haben, da jede Philosophie, welche auf dem Individuum allein aufgebaut ist, nur halbe Wahrheit wie der Pantheismus sein kann, indem, wie schon bemerkt, mit dem Individuum allein die Welt nicht zu erklären ist. Die ganze Wahrheit kann nur in der Aussöhnung des Individuums mit der Einheit liegen. Diese Aussöhnung habe ich in meinem Werke bewerkstelligt und zwar, nach meiner festen Ueberzeugung, endgültig bewerkstelligt.

Alle Philosophen nämlich scheiterten seither daran, daß sie kein reines immanentes und kein reines transscendentes Gebiet zu schaffen wußten. Beide Gebiete wurden beständig |

ii536 vermengt, und es wurde deshalb die Welt (das immanente Gebiet) verworren, unklar, geheimnißvoll.

Ich habe nun zunächst das menschliche Erkenntnißvermögen sorgfältig untersucht und dabei gefunden, daß der wichtige Schnitt durch das Ideale und Reale, welcher der Trennung des immanenten vom transscendenten Gebiete vorhergehen muß, weder von Kant noch von Schopenhauer gemacht worden ist. Beide zogen die ganze Welt auf die ideale Seite und ließen auf der realen ein unerkennbares x stehen. (Ding an sich; ausdehnungsloser, ewiger Wille.)

Ich habe dann gezeigt, daß Raum und Zeit zwar ideal, aber nicht apriorisch, sondern Verbindungen a posteriori der Vernunft auf Grund des apriorischen Punkt-Raums und der apriorischen Gegenwart sind; daß mithin Individualität und Entwicklung real, d.h. unabhängig von einem erkennenden Subjekt sind. Die Materie allein trennt das Ideale vom Realen, denn der Grund der Erscheinung ist, wie ich nachgewiesen habe, nur Kraft.

Hierauf und auf sämmtliche anderen Resultate der Analytik des Erkenntnißvermögens gestützt, zeigte ich ferner, daß wir nie an der Hand der Causalität in die Vergangenheit der Dinge gelangen können, was vor mir alle Philosophen versuchten, sondern nur an der Hand der Zeit. Auf diese Weise fand ich ein transscendentes Gebiet, d.h. eine einfache Einheit: vorweltlich und untergegangen. Die einfache Einheit zerfiel in eine Welt der Vielheit, starb also, als diese geboren wurde.

Hierdurch gewann ich zwei Gebiete, welche auf einander folgten, von denen immer das Eine das Andere ausschließt, und welche deshalb, da sie nicht coexistiren, sich nicht wechselseitig verwirren und verdunkeln können. Ich habe mir nicht das vorweltliche transscendente Gebiet erschlichen, sondern ich habe mit logischer Strenge bewiesen, daß vor der Welt eine für uns unerkennbare Einheit existirte.

Nun erst durfte ich die Philosophie auf dem realen Individuum allein errichten; denn jetzt war zwar das Individuum das einzig Reale in der Welt, aber sämmtliche Individuen umschlang der Ursprung aus einer einfachen Einheit |

ii537 wie mit einem unzerreißbaren Band; oder mit anderen Worten: der dynamische Zusammenhang und die einheitliche Bewegung des Weltalls waren begründet ohne eine einfache Einheit in oder über der Welt und obgleich es nur Individuen in der Welt giebt.

Wie fruchtbar diese Trennung des immanenten vom transscendenten Gebiete sich erweist, werden Sie aus dem Werke selbst ersehen: die schwersten philosophischen Probleme, von denen ich nur das Zusammenbestehen von Freiheit und Nothwendigkeit, das wahre Wesen des Schicksals und die Autonomie des Individuums nennen will, lösen sich leicht und völlig ungezwungen.

Sie werden auch finden, daß die Philosophie der Erlösung nichts Anderes ist, als die Bestätigung des reinen und echten Christenthums: der Religion der Erlösung. Jene begründet den unzerstörbaren Kern dieser auf dem Wissen, und sagte ich deshalb auch in meinem Werke, daß das reine Wissen nicht der Gegensatz, sondern die Metamorphose des Glaubens sei.« – – –

 

Meine Stellung Schopenhauer gegenüber ist also die, daß ich mich an den individuellen Willen zum Leben hielt, den er in sich gefunden hatte, aber gegen alle Gesetze der Logik zu einer All-Einheit in der Welt machte; und meine Stellung Herrn von Hartmann gegenüber ist die, daß ich die Weiterbildung dieses All-Einen Willens mit aller geistigen Kraft, die mir zu Gebote steht, bekämpfen werde.

Mein Hauptangriff wird sich ferner gegen eine Abänderung richten, welche Herr von Hartmann am genialen System Schopenhauer’s machte, wodurch dessen Grundlage zerstört wurde, Schopenhauer sagt sehr richtig:

Der Grundzug meiner Lehre, welcher sie zu allen je dagewesenen in Gegensatz stellt, ist die gänzliche Sonderung des Willens von der Erkenntniß, welche beide alle mir vorhergegangenen Philosophen als unzertrennlich, ja, den Willen als durch die Erkenntniß, die der Grundstoff unseres geistigen Wesens sei, bedingt und sogar meistens als eine bloße Funktion derselben ansahen.

(W. i. d. N. 19.)

ii538 Herr von Hartmann hatte nun nichts Eiligeres zu thun, als diese großartige bedeutende Unterscheidung: Das, was der echten Philosophie einen Felsen aus dem Wege geräumt hatte, zu vernichten und den Willen wieder zu einem psychischen Princip zu machen. Warum? Weil Herr von Hartmann ein romantischer Philosoph ist.

Das einzige Bestechende an der Philosophie des Herrn von Hartmann ist das Unbewußte. Aber hat er dasselbe tiefer als Schopenhauer erfaßt? In keiner Weise. Schopenhauer hat das Unbewußte überall, wo es überhaupt vorgefunden wird: im menschlichen Geiste, in den menschlichen Trieben, im thierischen Instinkt, in den Pflanzen, im unorganischen Reich, theils skizzirt, theils unübertrefflich beleuchtet und geschildert. Herr von Hartmann bemächtigte sich der Schopenhauer’schen Gedanken und kleidete sie in neue Gewänder; diese aber sind Producte wie die eines Flickschneiders. Man kann auch sagen: Das, was Schopenhauer in concentrirtester Lösung gab, verwässerte Herr von Hartmann. Der Vernünftige, welcher das Unbewußte kennen lernen will, möge das fade Zuckerwasser des Herrn von Hartmann ruhig stehen lassen und sich an den köstlichen süßen Tropfen des großen Geistes Schopenhauer’s erquicken. Er erspart sich dadurch Zeit und hat einen unvergleichlich intensiveren Genuß.

 

—————

 

I. Einleitung.

 

ii539

Sie beginnen, Herr von Hartmann, Ihr Werk: »Die Philosophie des Unbewußten« (Berlin 1871, 3. Aufl.), mit den Worten Kant’s:

Vorstellungen zu haben und sich ihrer doch nicht bewußt zu sein, darin scheint ein Widerspruch zu liegen; denn wie können wir wissen, daß wir sie haben, wenn wir uns ihrer nicht bewußt sind? – Allein wir können uns doch mittelbar bewußt sein, eine Vorstellung zu haben, ob wir gleich unmittelbar uns ihrer nicht bewußt sind.

(Anthropologie. §. 5.)

Kant spricht hier eine Wahrheit aus, welche nicht zu leugnen ist. Sie ist aber nur eine Wahrheit im Zusammenhang mit dem ganzen §. 5 der Anthropologie. Welche Art unbewußter Vorstellungen hatte Kant im Auge?

Wenn ich weit von mir auf einer Wiese einen Menschen zu sehen mir bewußt bin, ob ich gleich seine Augen, Nase, Mund u.s.w. zu sehen mir nicht bewußt bin, so schließe ich eigentlich nur, daß dies Ding ein Mensch sei; denn wollte ich darum, weil ich mir nicht bewußt bin, diese Theile des Kopfs (und so auch die übrigen Theile dieses Menschen) wahrzunehmen, die Vorstellung derselben in meiner Anschauung gar nicht zu haben behaupten, so würde ich auch nicht sagen können, daß ich einen Menschen sehe; denn aus diesen Theilvorstellungen ist die ganze (des Kopfs oder des Menschen) zusammengesetzt.

(ib.)

Kant nennt solche Vorstellungen undeutliche, dunkle und sagt,

daß die dunklen Vorstellungen im Menschen (und so auch in Thieren) unermeßlich seien, die klaren dagegen nur unendlich wenige Punkte unserer Sinnenanschauung und Empfindung enthalten, die dem Bewußtsein offen liegen.

(ib.)

ii540 War es, Herr von Hartmann, philosophische Redlichkeit, diese Ausführungen Kant’s nur oberflächlich zu berühren?

Was ist überhaupt eine »unbewußte Vorstellung«? In der philosophischen Kunstsprache stellen die beiden Wörter eine contradictio in adjecto dar; das Volk dagegen würde sagen: eine unbewußte Vorstellung ist dasselbe, was silbernes Gold wäre. Mit Einem Wort: wir stehen vor einem Ausdruck, welcher vielleicht der Schlußstein einer Pyramide sein könnte, aber niemals ihre Grundlage sein darf. Doch Sie scheinen sehr beherzt zu sein. Gestützt auf den herausgerissenen obigen Satz Kant’s sagen Sie schon auf der vierten Seite Ihres Buchs:

Ich bezeichne den unbewußten Willen und die unbewußte Vorstellung in Eins gefaßt mit dem Ausdruck: »das Unbewußte«.

War das philosophische Redlichkeit, Herr von Hartmann? Verstehen Sie mich übrigens, ich bitte sehr darum, nicht falsch. Ich unterscheide philosophische Redlichkeit auf das Schärfste von der bürgerlichen Redlichkeit. Ich bin fest davon überzeugt, daß Sie nicht im Stande wären, einen Ihrer Nebenmenschen weder um eine Mark, noch um eine Million Mark zu benachtheiligen. Ich halte Sie für einen Guten und Gerechten im bürgerlichen Verkehr: schon deshalb, weil Sie ein Pessimist sind, d.h. ein Schüler Zoroaster’s, der alten Brahmanen, Budha’s, Christi, Salomo’s, Schopenhauer’s, deren Ethik auf dem Pessimismus beruht; aber auf philosophischem Gebiete liegt eine Binde vor Ihren Augen und Sie können nicht das Redliche vom Unredlichen unterscheiden. Zu Ihrer Entschuldigung will ich annehmen, daß ein »unbewußter Wille« (keine »unbewußte Vorstellung«, welche ich unbedingt verwerfen muß) Ihr Verfahren erzeugt hat, obgleich es mir sehr schwer gefallen ist, dies anzunehmen, denn Christus sagte sehr richtig:

Wenn ich nicht gekommen wäre und hätte es ihnen gesagt, so hätten sie keine Sünde; nun aber können sie nichts vorwenden, ihre Sünde zu entschuldigen.

(Ev. Joh. 15, 22.)

Was aber Christus für die Juden war, das waren Kant und Schopenhauer für Sie, Herr von Hartmann. Sie kennen die Kritik der reinen Vernunft und haben auch Schopenhauer’s Ausdruck gewiß mehrmals gelesen, daß es unredlich sei, ein |

ii541 philosophisches System nicht mit der Untersuchung des Erkenntnißvermögens zu beginnen. Sie waren also aus verehrungswürdigem Munde gewarnt; es waren zwei große Männer vor Sie getreten und hatten Ihnen zugerufen: »Beginnst du dein Werk mit der für real genommenen Welt, so bist du ein unredlicher Philosoph, den wir nicht in unsere redliche Gemeinschaft aufnehmen können und werden.«

Sie können mithin Nichts vorwenden, Ihre Sünde zu entschuldigen.

Trotzdem will ich, wie gesagt, annehmen, Sie hätten »unbewußt« gesündigt. –

Es ist Ihnen bekannt, daß Herbart’s Psychologie (seine beste Schrift) in der Hauptsache die Ausführung des von Ihnen citirten Ausspruchs Kant’s ist. Herbart theilte gleichsam den menschlichen Geist in ein kleines helles Cabinet und einen großen dunklen Vorsaal ein. Das erleuchtete Cabinet ist das Bewußtsein, der dunkle Vorsaal das Bewußtlose. Unsere Vorstellungen, Gedanken etc. fluthen nun beständig aus dem Cabinet in den Vorsaal und aus diesem in das Cabinet. An der Schwelle des Bewußtseins herrscht immer Gedränge und Kampf (Herbart hat diesen Kampf sehr hübsch geschildert). Sobald eine Vorstellung die Schwelle übertritt und in’s Cabinet fliegt, wird sie eine bewußte, im umgekehrten Falle eine dunkle unsichtbare Vorstellung.

Bei diesem Hinweis auf Herbart dürfte ich mich schon beruhigen. Ich will es aber nicht, weil durch Schopenhauer’s unbewußten Willen das Problem ein viel tieferes geworden ist. Es handelt sich beim jetzigen Stande der kritischen Philosophie nicht mehr um Vorstellungen, welche im Bewußtsein erzeugt und dann in die geistige Fluthung aufgenommen wurden, wo sie bald oben, bald unten sind, sondern hauptsächlich um solche Producte der Geistesthätigkeit, welche urplötzlich im Lichte des Bewußtseins stehen, ohne daß man weiß, wie sie entstanden sind: sie sind für das Bewußtsein ganz neue Vorstellungen, Gedanken, Gefühle.

Ich werde deshalb eine kleine psychologische Excursion mit Ihnen machen, und zwar von der Mitte Ihres Buches ausgehend, wo Sie das Erkenntnißvermögen abgehandelt haben, nachdem Sie bereits durch eine Fülle bestechender Resultate der Naturwissenschaften Ihre Leser narkotisirt hatten. Auch Das, Herr von Hartmann, |

ii542 war nicht redlich; doch ich bitte auch hier: Zürnen Sie mir nicht, daß ich, erst auf der vierten Seite Ihres Buches stehend, Sie schon dreier »unbewußten« Unredlichkeiten habe zeihen müssen. –

Der Schopenhauer’schen Lehre gemäß ist der Mensch eine Verbindung eines metaphysischen unbewußten Willens mit einem sekundären bewußten Intellekt. Ich habe schon in der Einleitung hervorgehoben, daß die Trennung des Geistes, resp. des Bewußtseins vom Willen, dem Primären, dem Urprincip, eine unsterbliche That Schopenhauer’s war, die Sie, Herr von Hartmann, ganz gewiß nicht mit Ihren Sophismen und Verworrenheiten wieder aus der Welt schaffen können. Der Wille ist seit Schopenhauer kein psychisches Princip mehr, und für jeden Vernünftigen sind die Acten darüber, ob der Wille eine Function des Geistes sei oder nicht, definitiv geschlossen. Sie


Date: 2015-01-02; view: 868


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