Es war ja Zeus nicht, welcher mir’s verkünden ließ,
Noch hat das Recht, das bei den Todesgöttern wohnt,
Solch eine Satzung für die Menschen aufgestellt.
Auch nicht so mächtig achtet’ ich, was du befahlst,
Daß dir der Götter ungeschrieb’nes ewiges
Gesetz sich beugen müßte, dir, dem Sterblichen.
Sophokles. Antigone.
Deutsche Arbeiter!
Ich habe lange geschwankt, deutsche Arbeiter, ob ich euch diesen Vortrag über das göttliche und menschliche Gesetz halten solle oder nicht. Es hat mir in den Ohren gegellt: nur ein Wahnsinniger giebt Kindern Feuer in die Hände. Ich wiederhole es, deutsche Arbeiter, ich habe lange, sehr lange geschwankt.
Aber endlich habe ich mich doch entschlossen, euch diesen Vortrag zu halten, welcher, in ähnlicher Weise wie Lassalle euch in seinem Arbeiterprogramm die Resultate der tiefsten Geschichtsforschung in leichtfaßlicher Form darreichte, euch mit den schwerwiegendsten Resultaten der Philosophie bekannt machen soll.
ii411 Den Ausschlag gab, daß ich mir sagen mußte: du hast lange Zeit als Soldat am Herzen des niederen deutschen Volks gelegen, und dort eine solche urkräftige Fülle von Treue und Güte, von Besonnenheit und Mäßigung gefunden, daß du keinen Feuerbrand in Kinderhände legst, sondern den gesunden Geist der deutschen Arbeiter in ein stärkendes Lichtbad tauchst.
Zeigt euch dieses hohen Vertrauens würdig, deutsche Arbeiter.
Wenn ihr die Agitation beginnt, welche ich euch in meiner zweiten Rede warm an’s Herz gelegt habe, so giebt sie in Verbindung mit ihren Resultaten so viel praktische Arbeit, daß nicht nur ihr, sondern auch euere Kinder und Enkel vollauf mit deren Erledigung zu thun haben werden. Ist es nun auch sehr wahrscheinlich, daß wir auf diese Weise eine friedliche Entwicklung der socialen Verhältnisse in Deutschland haben werden, – und das heißt doch in ganz Europa, – so muß man demungeachtet einen gewaltsamen oder wenigstens anderen Verlauf der Dinge für möglich halten, und weil, wenn diese Möglichkeit eintreten sollte, leicht ein Conflikt in euerer Brust zwischen Vaterlandsliebe und Menschheitsliebe entstehen könnte, so ist es nothwendig, daß ihr eine feste Norm besitzet, wonach ihr euer Verhalten regeln könnt.
Diese Norm will ich euch nun geben durch die wichtige Unterscheidung des göttlichen vom menschlichen Gesetz.
In der schönen Gedächtnißrede des edlen Volksfreundes Virchow am Grabe des unvergeßlichen Volksmannes, des Freiherrn von Hoverbeck – eines echten »Freiherrn«, deutsche Arbeiter! – sagte der geistvolle Redner:
Vincke, der westphälische Freiherr, war ein Mann des Rechts, d.h. des gegebenen Rechts; unser Freund war ein Mann der Freiheit, d.h. des werdenden Rechts. Er wußte, daß ein gutes Stück des gegebenen Rechts Unrecht ist, und er besann sich keinen Augenblick, die Art an solches unrechtes Recht zu legen, um neues und besseres Recht zu schaffen.
Diese Worte tragen durchweg das Gepräge der Wahrheit und wir wollen dieselben zum Ausgangspunkt nehmen. Der Zweck meiner Rede kann überhaupt nur der sein, diese hellen Worte durch die Philosophie durchsichtig zu machen: sie sind hell, aber ihr Kern ist verhüllt.
Ihr mögt, deutsche Arbeiter, eueren Blick in die Natur werfen |
ii412 wohin ihr wollt, so werdet ihr immer und immer das Individuum, das Einzelwesen finden. Es ist im unorganischen Reich noch keinem Chemiker gelungen, aus Gold Silber, aus Eisen Kupfer zu machen, und im organischen Reich findet ihr Pflanzen, Thiere, Menschen: immer und immer begegnen euch Individuen, d.h. streng auf einem besonderen Lebensgrund sich behauptende Einzelwesen.
Ihr möget aber auch den Blick in die Natur werfen, wohin ihr wollt, so werdet ihr immer und immer finden, daß diese Einzelwesen nicht selbständig sind, sondern in einem innigen Zusammenhang stehen. Wir können nicht existiren ohne Luft, Licht, Pflanzen und Thiere; die Thiere nicht ohne Luft, Licht, Pflanzen und theilweise ohne schwächere Thiere; die Pflanzen nicht ohne Luft, Licht und Erde; und jeder chemische Stoff wirkt unablässig und erfährt zugleich die Einwirkung aller anderen Stoffe: die Welt ist ein festes Ganzes von Einzelwesen.
Ihr könnt schließlich keinen Blick in die Natur werfen, ohne zu finden, daß jedes Einzelwesen sowohl als das Ganze in einer beständigen, continuirlichen, unablässigen Bewegung begriffen ist. Wohin ihr seht, da trifft euer Blick den Fluß des Werdens.
Deshalb hat auch ein geistreicher Mann einmal gesagt, daß in der Welt nur der Wechsel beharrlich sei, sonst Nichts.
Dies haltet fest.
Wir haben uns selbstverständlich jetzt nur mit der Menschheit zu befassen.
Das Erste, was wir über die Menschheit aussagen müssen, ist:
1) daß sie die Summe aller einzelnen Menschen ist;
2) daß sie beständig fließt. Es giebt keinen Stillstand in diesem Fluß der Menschheit: sie fließt continuirlich.
Wie ich euch bereits in meiner zweiten Rede entwickelt habe, entsteht die Bewegung der Menschheit (wenn man die corporativen Formen, also Staaten und Vereine übersieht) aus der Bewegung aller Menschen. Ich betone »aller Menschen«, denn es kann gar keine Ausnahme geben. Diejenigen sowohl, welche an der Spitze der großen Staaten stehen, als auch jene, welche sich in Klostermauern vergraben, üben durch ihre bloße Existenz einen bestimmenden Einfluß auf den Gang der Menschheit aus.
Ich habe euch ferner auseinandergesetzt, wie sich der Gang der Menschheit im Großen aus dem Zusammen- und Gegeneinander|wirken
ii413 der mächtigen Staaten erzeugt, und schließlich bestimmte ich diesen Gang selbst als einen nothwendigen, unabänderlichen, eisernen Gang zum Reich der Zukunft, zum idealen Staat.
Kann dieser Gang, obgleich er in ein eminent Gutes, d.h. in ein Gut des höchsten Grades mündet, ein moralischer sein?
In keiner Weise, deutsche Arbeiter! Was erzeugt diesen Gang? Blickt um euch. Ihr seht Weise und Narren, Mörder und Gerechte, Grausame und Gute, Tyrannen und Menschenfreunde, Rohe und Gebildete, Schlemmer und Enthaltsame, Wollüstlinge und Heilige, Lügner und Wahrhaftige, mit einem Wort: Gute und Schlechte. Aus dem Zusammen- und Gegeneinanderwirken aller dieser verschiedenartigen Elemente entsteht eine Resultirende, eine Diagonale. Diese Diagonale ist, eben weil sie aus den Bestrebungen der Guten sowohl als der Schlechten erzeugt wird, vollkommen qualitätlos: sie hat gar keinen bestimmten Charakter, sie ist ein einfacher Verlauf wie der Verlauf eines Flusses.
Ueber dieser Bahn der Menschheit, die blutbefleckt, leichenbedeckt, thränenvoll, voll Geschreis und Kampfwuth ist, – jedoch auch Männer wie Winkelried, Wilhelm Tell, Huß, Luther enthält, – steht aber gleichsam hoch oben am Himmelszelt ein gerader goldener Strich, oder eine Schnur von Sternenblumen, und diese goldene, leuchtende, strahlende, unabänderliche Straße deckt die Straße unten auf der dunklen Erde vollkommen. Der Verlauf der Menschheit, ihr Gang, die Resultirende aus allen Einzelbestrebungen hat ganz genau die Richtung jener einfachen goldenen Straße: diese letztere ist gleichsam das Modell, wonach sich die blutige dornenvolle Straße der Menschheit richtet.
Dieser glänzende, unabänderliche, gerade, goldene Strich hoch oben am Sternenzelt ist – deutsche Arbeiter, – das göttliche Gesetz.
In so weit euch dieses göttliche Gesetz interessiren kann – und der praktische Philosoph darf euch eben als praktischer Mann nie mehr sagen, als was ihr begreifen und in’s Blut aufnehmen könnt, er darf euch nie eine geistige Nahrung reichen, die ihr nicht verdauen könnt, – insofern also dieses unabänderliche göttliche Gesetz euch interessiren kann, besteht es aus drei Perlen, die sich immer wieder zu einer Schnur aneinanderreihen, welche das Auge des Edlen trunken macht, nämlich aus der Vaterlandliebe, der Gerechtigkeit und der Menschenliebe.
ii414 Der Verlauf der Menschheit, deutsche Arbeiter, trägt, wie ich euch sagte und erklärte, kein moralisches Gepräge; ebenso wenig aber auch trägt der ideale goldene Strich über dem Wege der Menschheit ein moralisches Gepräge; denn er ist einfach ein Gesetz, ein unabänderliches Gesetz. Er ist die Norm für die Moralität, nicht die Moralität selbst. Die Moralität, die Sittlichkeit ist etwas ganz Anderes. Was ist sie nun?
Sie ist die Uebereinstimmung eueres Willens, eueres Einzelwillens, eueres Eigenwillens mit diesem göttlichen Gesetz, der Einklang eueres Willens mit dem göttlichen Willen, der in diesem Gesetz erschöpfend ausgeprägt ist.
Nehmt diese Worte, deutsche Arbeiter, mit durstiger Seele in euch auf; brennt sie in euere Herzen tief ein, denn euere Seligkeit hängt davon ab. Ihr seid so lange Thiere und ausgeschlossen vom Glück des Paradieses, so lange euer Wille mit dem göttlichen Willen nicht übereinstimmt; und je mehr ihr euerem Willen die Richtung des göttlichen Willens gebt, je mehr ihr euer Herz vom heiligen Geist dieses göttlichen Willens durchbrausen und durchsausen lasset, desto tiefer dringt ihr in das Glück des Paradieses ein, bis ihr in der vollen Unbeweglichkeit des tiefsten Herzensfriedens steht.
Euer Leben, wie ich euch schon sagte, muß ein fortwährender Gottesdienst sein; euer Blick muß immerdar, immerdar, deutsche Arbeiter, auf die Sterne Gottes: auf Vaterlandsliebe, Gerechtigkeit und Menschenliebe gerichtet sein. Wenn euer Auge immer und immer an diesen Blumen Gottes hängt, wenn ihr Licht immer und immer eueren Geist erfüllt, so wird auch der göttliche Wille immer gewaltiger in euch werden, so werdet ihr Ruhe finden für euere müden Seelen.
Es ist ein feierlicher Augenblick für mich, es ist der schönste Augenblick meines Lebens, der mir jetzt zu Theil wird, deutsche Arbeiter, jetzt, wo mir vergönnt ist, die Frucht eines fünfzehnjährigen Denkens in der lichten Einsamkeit der Wüste euch darzureichen. In tiefem Glück ruht meine Seele!
Ihr erseht auch hieraus, deutsche Arbeiter, daß es der reine Wahnsinn ist, eine Moral predigen zu wollen ohne Androhung von Strafe und ohne Verheißung. Der Mensch kann so wenig gegen seinen Vortheil handeln, wie das Wasser von selbst bergauf fließen kann. Die Strafe der echten philosophischen Moral ist die Oede |
ii415 und Kälte des menschlichen Herzens und ihre Verheißung ist das Himmelreich des Herzensfriedens, was schon Christus (Luc. 17, 21.) mit den Worten aussprach:
»Seht, das Himmelreich ist inwendig in euch.«
Wer nur ein einziges Mal die Seligkeit dieses Himmelreichs durch eine moralische Handlung in sich empfunden hat, der läßt auch nicht mehr vom göttlichen Gesetz, auf dem alles echte Glück beruht. Nicht auf »dem Magen und den Schamtheilen«, d.h. auf der Genußsucht, oder concreter ausgedrückt, nicht auf Champagner, Leckerbissen und Weibern beruht das echte Glück. Das echte Glück beruht auf den Sternenblumen Gottes: auf Vaterlandsliebe, Gerechtigkeit und Menschenliebe, und das echte Glück ist Seelenfriede.
Wenden wir uns jetzt zur Menschensatzung, zum menschlichen Gesetz.
Was sind Menschensatzungen, deutsche Arbeiter? Berücksichtigen wir lediglich den sehr verächtlichen Ausspruch des Heilands über Menschensatzung, welcher lautet:
Aber vergeblich dienen sie mir, dieweil sie lehren solche Lehre, die nichts denn Menschengebote sind,
(Matth. 15, 9.)
so dürfen wir wohl nur eine sehr dürftige und kahle Antwort erwarten. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß Christus der begeisterte Prediger des reinen, unwandelbaren, göttlichen Gesetzes war, daß er deshalb in seinen Gedanken immer das göttliche Gesetz trug, neben welchem sich jede Menschensatzung, auch die heiligste und ehrwürdigste, wie ein Talglicht neben der Sonne ausnahm. Wollen wir mithin die Frage richtig beantworten, so müssen wir das unwandelbare göttliche Gesetz vorläufig ganz aus Augen und Sinn verlieren.
Was ist eine Menschensatzung, oder einfacher: was ist ein Gesetz?
Diese Frage hat euch Lassalle in seiner Rede über Verfassungswesen in unübertrefflicher Weise beantwortet. Ein Gesetz ist der Ausdruck bestehender thatsächlicher Machtverhältnisse.
Das schönste und prachtvollste Gesetz wäre nichts Anderes als eine Aneinanderreihung von Buchstaben, wenn die thatsächliche Macht nicht jedem Buchstaben die Kraft von tausend Kanonen gäbe. Nehmt diese Macht hinter dem Gesetze fort, so ist es weniger als ein Schatten, es ist gar Nichts.
ii416 Diese Erklärung ist so unumstößlich richtig, daß sie sogar Anwendung auf das göttliche Gesetz findet. Das göttliche Gesetz ist nur deshalb ein Gesetz, weil die Perlen, aus denen es zusammengesetzt ist, vom unüberwindlichen allmächtigen Athem Gottes durchweht werden. Der Athem Gottes, der heilige Geist, der Gang der Welt, das allmächtige eiserne Schicksal macht das Gesetz erst zu einem Gesetze.
Also jede Menschensatzung, deutsche Arbeiter, ist der Ausdruck thatsächlicher Machtverhältnisse, was ihr recht fest halten wollt.
Nun wißt ihr aber, daß die Menschheit nichts Festes, Unwandelbares, sondern etwas durchaus Flüssiges ist. Die Menschheit ist ein Theil des unaufhörlich fließenden Stroms, ein Theil des Werdens der ganzen Natur und aus diesem Satz allein, ohne irgend welchen anderen Stützpunkt zu haben, läßt sich schon schließen, daß die Machtverhältnisse innerhalb der Menschheit dem Wechsel unterworfen sind.
Nehmen wir aber die Geschichte zu Hülfe, welche ein sehr großer deutscher Philosoph sehr treffend das Selbstbewußtsein der Menschheit genannt hat, so finden wir diese allgemeine Wahrheit bis in’s Kleinste herab bestätigt. Nicht nur blicken wir auf eine Masse untergegangener Reiche, die einst sehr kräftig waren und deren Gesetze für die ganze Dauer der Zeit oder, um mich populär auszudrücken, für die Ewigkeit gegründet zu sein schienen, sondern wir blicken auch auf eine beständige Abänderung der Gesetze, auf ein unaufhörliches Ummodeln des Grundes aller Gesetze, der Staatsverfassungen.
Warum? Weil sich die Machtverhältnisse in einem Staate wegen des beständigen Wechsels immer verschieben. Bald fällt der Schwerpunkt der Macht in die Krone, bald in den Adel, bald in die Geistlichkeit, bald in das Bürgerthum, bald in die unteren Classen, bald in das ganze Volk.
Auf der Oberfläche hatte also Herr Virchow ganz Recht, wenn er in der beregten Rede über Hoverbeck das gegebene Recht vom werdenden Recht unterschied; im Grunde jedoch haben wir in der Menschheit nur werdendes Recht, als Gegensatz des göttlichen Rechts, das allein unwandelbar ist.
Ich will euch, deutsche Arbeiter, in einem Bilde den Sachverhalt recht deutlich machen. Ihr Alle habt gewiß schon an der Einbiegung eines Flusses, wo das Wasser am Ufer langsamer fließt und schmutziger ist als in der Mitte, auf einem weißlichen trüben |
ii417 Streifen Blasen gesehen. Diese Blasen sind Gebilde des Fließens und sie sehen aus wie feste Formen. Bald platzt jedoch eine solche Blase, bald entsteht wieder eine neue. Sowohl das Platzen als das Entstehen geschieht nicht urplötzlich, obgleich dies der Fall zu sein scheint: es ist vielmehr das letzte Glied einer ganzen Reihe von Ursachen und ich bitte euch dies wohl zu merken, denn man kann sich gar nicht oft genug wiederholen, daß in der Natur, mithin auch in der Menschheit, eine sprunghafte Entwicklung ganz unmöglich ist. Das einzig richtige Bild für das Leben der ganzen Natur ist das Fließen. Wir können uns nur völlig willkürlich dieses unaufhörliche Fließen vermittelst der Zeit in Momente auflösen: es ist ein beständiges Hervorquellen, ein unaufhörliches Ineinanderübergehen, ein rastloses Werden ohne Pause, so klein wir uns auch eine solche Pause denken mögen.
Ganz in der gleichen Weise werfen die continuirlich fließenden Machtverhältnisse eines Staates Gesetze aus und vernichten sie wieder: dem Anscheine nach allerdings urplötzlich, aber dem Wesen nach ganz innerhalb der Natur des Fließens, d.i. allmälig. Was also Herr Virchow gegebenes Recht nannte, das trägt schon den Todeskeim seit seiner Geburt in sich, und wenn ferner ein solches gegebenes Recht zusammenstürzt, so ist sein Zusammensturz nur das Endglied einer großen Causalkette.
Wie aber alle Bäche und alle Flüsse ein in jedem gegebenen Augenblicke ganz bestimmtes Bett und eine ganz bestimmte Richtung haben, so bewegt sich auch jeder Theil der Menschheit in der ganz bestimmten Form des Staates und hat, allgemein ausgedrückt, die bestimmte Richtung nach der Freiheit.
Wir nähern uns jetzt wieder dem göttlichen Gesetze.
Der Staat und die Richtung des von ihm umschlossenen Menschenstromes können von diesem Standpunkte aus als das Beharrliche im Wechsel angesehen werden, oder mit anderen Worten: der Staat und die Richtung seiner Gesellschaft sind der Abglanz des göttlichen Gesetzes auf Erden.
Es kann dies auch gar nicht anders sein; denn die Bahn der Menschheit weicht, wie ich euch bereits sattsam sagte, nicht um die Breite eines Haares von der goldenen Straße dort oben in den Sternen ab, die Jeder, der ein »entsiegeltes Auge« hat, deutlich sieht. Der Weg der Menschheit ist das Nachbild des göttlichen Vor|bilds
ii418 und deshalb ist Gottesdienst, heiliger, glühender, ausschließlicher Gottesdienst das Selbe, was volle Hingabe an den Staat ist. Jener Gottesdienst und diese volle Hingabe decken sich.
An den Staat hat sich also Jeder zu halten, der das göttliche Gesetz verwirklichen will; denn ich wiederhole: der Staat ist der Reflex des göttlichen Gesetzes, sein Wiederschein auf Erden, eine unwandelbare Form, mit welcher die Menschheit steht und fällt.
Worauf beruht nun der Staat?
Merkt euch genau meine Antwort, deutsche Arbeiter. So einfach sie klingen mag, so bedeutungsvoll ist sie wegen der Folgerungen, die aus ihr fließen.
Der Staat beruht auf dem Staatsvertrag.
Wer hat diesen Vertrag abgeschlossen?
Die Bürger unter einander, und sein ganzer Inhalt ist: Wir verpflichten uns, nicht zu morden, nicht zu stehlen und den Staat zu erhalten; dafür haben wir das Recht auf Schutz vor Mord, Diebstahl und Vergewaltigung durch fremde Macht.
Mit den Rechten und Pflichten dieses Vertrags werden wir geboren, deutsche Arbeiter. Diese Rechte und Pflichten ferner stehen und fallen mit dem Staatsvertrag, und überhaupt, – merkt euch das ganz genau, – nur in Bezug auf einen Vertrag haben die Worte Pflicht und Recht eine Bedeutung. In der echten Moral giebt es keine Pflicht und kein Recht, da giebt es nur Hingabe an das göttliche Gesetz und Lohn dafür: den Herzensfrieden.
Die Gesetze gegen Mord und Diebstahl sind Urgesetze, nicht Gesetze schlechthin, auch nicht Grundgesetze. Diese beiden Gesetze allein sind Urgesetze und weil der Staat mit ihnen steht und fällt, so sind es die einzigen Gesetze, welche heilig sind. Das göttliche Gesetz heiligt sie, wie den Staat selbst.
Ohne das gesetzlich garantirte Leben jedes Einzelnen wäre ein Staat nicht denkbar. Aber auch ohne das gesetzlich geschützte Eigenthum wäre ein Staat nicht denkbar. Ueber die Form des Eigenthums läßt sich streiten, nie über das Eigenthum; denn es ist nicht aus der Welt zu schaffen, es ist als verkörperte Thätigkeit da, wie die Menschen selbst da sind, wie die Sonne, die Erde, die Luft da sind. Nehmt an, daß heute der absolute Communismus, d.h. die vollständige Concentration alles Eigenthums in den Händen des Staates in die Erscheinung träte, so bestände nach wie vor das |
ii419 Gesetz gegen Diebstahl in voller Kraft; denn nur durch dieses Gesetz bliebe das Eigenthum in den Händen des Staates geschützt.
Unwandelbar ist also das göttliche Gesetz einerseits, und der Staat, seine Urgesetze und die Menschheitsentwicklung andererseits.
Was aber immer wechselt und deshalb gar nicht göttlich ist und an der Stirne das Brandmal der Vergänglichkeit trägt, das sind die Tropfen des Menschenstroms, die einzelnen Individuen und die Blasen auf dem Strome, die Gesetze.
Merkt euch genau, deutsche Arbeiter, was ich euch sage: Heilig ist auf Erden nur der Staat, seine Urgesetze und die Richtung seines Volksgeistes; heilig ist aber weder ein menschliches Gesetz noch ein Grundgesetz, d.h. eine Staatsverfassung.
Welche Eigenschaften haben aber dann die Gesetze und Grundgesetze? Sie haben eine sehr solide Eigenschaft, eine Eigenschaft, die euch Arme und Beine zerbrechen und eueren Kopf abschlagen kann, sie haben die Kraft der thatsächlichen in einem Staate vorhandenen Machtverhältnisse.
Seht ihr, deutsche Arbeiter, nun ist die Sache mit einem Male klar. Heilig ist das göttliche Gesetz und sein Abglanz auf Erden: der Staat, dessen Urgesetze und die Richtung des Volksgeistes, weil sie neben der Macht die Unvergänglichkeit und Naturnothwendigkeit haben; die Gesetze und Grundgesetze im Staate dagegen sind nicht heilig, sondern nur mächtig. Man darf an sie herantreten, man darf den Kampf mit ihnen aufnehmen, man darf versuchen, sie umzumodeln. Die Erlaubniß hierzu haben wir uns, deutsche Arbeiter, von Niemand in der Welt zu erbitten. Die Erlaubniß zur Ummodelung ist geradezu ein Gebot, denn im tiefsten Grunde beruht sie auf dem göttlichen Gesetze, das in jeder Menschenbrust gebietet, es im Staate zu verwirklichen.
Das göttliche Gesetz steht über allen Gesetzen, oder wie es die herrliche Antigone des griechischen Dichters Sophokles so schön aussprach:
So mächtig achtete ich nicht, was du befahlst,
Daß dir der Götter ungeschrieb’nes ewiges
Gesetz sich beugen müßte, dir, dem Sterblichen.
Die Frage ist jetzt: Welche Ummodelung der Gesetze mit Absicht auf das Einzelwesen ist moralisch, d.h. heilig, welche Ummodelung ist unmoralisch, d.h. verrucht.
Die Antwort ist sehr einfach. Jede Ummodelung ist heilig, |
ii420 welche mit dem göttlichen Gesetze übereinstimmt; jede Ummodelung dagegen, welche dem göttlichen Gesetze widerspricht, ist verrucht.
Muß ich euch erst sagen, deutsche Arbeiter, was mit dem göttlichen Gesetze übereinstimmt? Das göttliche Gesetz lautet in seiner Anwendung auf die vom Staate umschlossene Gesellschaft:
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.
Jede Handlung mithin, welche die Absicht hat, eine solche Ordnung der Dinge im Staate herbeizuführen, daß jeder Bürger das Seine erhält und an die Summe der im Staate aufgehäuften Schätze der Cultur gleichen Anspruch wie alle Anderen hat, ist moralisch. Jede Handlung dagegen, welche die Absicht hat, Staatsbürger zu Gunsten Anderer zu benachtheiligen, zu schädigen, zu enterben, – ist unmoralisch, ist verrucht.
Ihr entnehmet hieraus mit Leichtigkeit, daß euere Principien, deren Ausdruck der Satz des Erlösers ist: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, heilig sind und daß euer Bestreben im höchsten Grade moralisch ist. Ihr wollt doch nicht, daß Einer von euch mehr Recht habe als der Andere; ihr wollt doch nicht, daß der Eine schwelge und der Andere entbehre und darbe; ihr wollt doch nicht das Knie auf die Brust eueres Nächsten setzen, ihn würgen, peinigen, schlagen und ausbeuten: nicht wahr, das Alles wollt ihr nicht? Seht, und weil ihr dieses nicht wollt und dagegen höchste Gerechtigkeit für Jeden wollt, stimmt euer Wille mit dem göttlichen Willen überein und deshalb müßt ihr siegen, werdet ihr siegen.
Ihr erseht aber auch daraus wieder, daß Mord und Diebstahl nicht bloß Vertragsbruch, nicht bloß ungesetzliche Handlungen, sondern auch unmoralische Handlungen des höchsten Grades sind; denn indem ihr mordet, nehmt ihr euerem Nächsten das Seine, und indem ihr stehlt, thut ihr das Gleiche. Das Privat- Eigenthum oder genauer: die juristische Kategorie Eigenthum ist keine göttliche Einrichtung, sondern Menschensatzung und deshalb darf sie angegriffen und bekämpft werden; aber das Privateigenthum darf, so lange es besteht, von einem Individuum nicht verletzt werden. Ihr werdet also, deutsche Arbeiter, nie stehlen und morden, auch nicht stehlen, wenn ihr am Verhungern seid: Das gelobt euch feierlich.
Gehen wir weiter. Ich bitte euch, deutsche Arbeiter, sehr aufmerksam zu sein.
Was ist eine Revolution, eine echte Revolution?
ii421 Möge wieder Lassalle für mich sprechen:
Man kann nie eine Revolution machen; man kann immer nur einer Revolution, die schon in den thatsächlichen Verhältnissen einer Gesellschaft eingetreten ist, auch äußere rechtliche Anerkennung und consequente Durchführung geben.
(Arbeiterprogramm, 15.)
Es ist wie mit den Blasen auf dem Wasser, von denen ich vorhin gesprochen habe. Sie entstehen und platzen nicht urplötzlich, sondern ihr Entstehen und ihr Platzen sind Schlußglieder einer ganzen Kette von Ursachen und Wirkungen. Wenn sich die Machtverhältnisse eines Staates derartig verschoben haben, daß die alte Form zu eng wird, so bricht diese Form und eine neue entsteht. Dieses Zerbrechen kann sehr harmlos vor sich gehen; es kann sich gerade so geräuschlos vollziehen wie der Zerfall in Asche bei einem conservirten Leichnam, der nach hundert Jahren in die Berührung mit der frischen Luft kommt, oder es kann sich unter Donner und Blitz vollziehen. Lassalle drückte dies in folgenden glänzenden Sätzen aus:
Eine Revolution wird entweder eintreten in voller Gesetzlichkeit und mit allen Segnungen des Friedens, oder aber sie wird hereinbrechen unter allen Convulsionen der Gewalt, mit wildwehendem Lockenhaar, erzene Sandalen an ihren Sohlen.
(Indirekte Steuer, 131.)
Hieraus sind zwei Wahrheiten zu entnehmen: erstens, daß zum Wesen einer Revolution Donner und Blitz nicht gehören, zweitens, daß nur diejenige Revolution gelingen kann, die auf einer realen thatsächlichen Uebermacht beruht.
Das merkt euch, deutsche Arbeiter, für den Fall, daß gewissenlose Menschen euch zu Putschen verführen möchten. Eine Revolution kann nie gemacht werden.
Gehen wir wieder einen kleinen Schritt weiter.
Ist eine Revolution unmoralisch oder moralisch?
Die Antwort ist: sie ist weder moralisch noch unmoralisch, denn sie gehört zum Verlauf der Menschheit, dem kein anderes Prädicat als das der Nothwendigkeit zukommt.
Nur der einzelne Mensch kann dem in einer Revolution zum Ausdruck kommenden, göttlichen Gesetz gegenüber, moralisch oder unmoralisch handeln.
Denkt euch einen Bürger zur Zeit der großen französischen |
ii422 Revolution. Diese Revolution beruhte auf dem göttlichen Gesetz, denn sie beabsichtigte die rechtliche Anerkennung des dritten Standes, was damals so viel bedeutete als Freiheit für Alle. Unser völlig unabhängiger Bürger soll nun gegen die Revolution gekämpft haben. Wie handelte er? Er handelte unmoralisch; denn er stellte sich feindlich dem göttlichen Gesetze gegenüber. Nun wollen wir annehmen, daß er sich in die große Bewegung eingestellt und ihren Verlauf in glutvoller Begeisterung beschleunigt habe. Wie handelte er? Er handelte im höchsten Grade moralisch, denn sein persönlicher Wille fiel mit dem göttlichen Willen zusammen.
Mordete er, wenn er in diesem Kampfe einen Menschen tödtete? In keiner Weise, denn er vertheidigte nur das göttliche Gesetz gegen solche, welche es übertreten hatten. Er mordete so wenig wie die französischen oder deutschen Soldaten im Kriege von 1870 gemordet haben; denn jene wie diese kämpften für ihren Staat, der heilig ist, weil er der Abglanz des göttlichen Gesetzes ist.
Hätte dagegen der von uns gedachte Bürger die Wirren der Revolution benutzt, um einen persönlichen Feind aus Rache und Haß aus der Welt zu schaffen, so würde er gemordet haben; denn er würde dem göttlichen Gesetze zuwider gehandelt haben, das absolute Menschenliebe, also auch Feindesliebe, gebietet.
Diese feinen sittlichen Unterschiede, welche die Vernunft der Menschen feststellt, finden ihren Wiederhall im menschlichen Gefühl. Ich tödte z.B. einen Menschen im Staate – sofort zerfleischen die Furien mein Herz, ob ich auch ganz bestimmt wisse, nicht entdeckt zu werden. Ich tödte dagegen im Kriege einen Menschen und da bleibt mein Gewissen ganz ruhig.
Christus hat ganz genau gewußt, daß seine Lehre Menschen auf Menschen hetzen und Ströme von Menschenblut fließen lassen werde. Er sagte:
Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer anzünde auf Erden,
Meint ihr, daß ich hergekommen bin, Friede zu bringen auf Erden?
Ich sage: nein, sondern Zwietracht.
(Luc. 12, 49-51.)
Er war von einer Sanftmuth, die ihm unmöglich machte, einem Menschen ein Haar zu krümmen. Er wußte ferner, daß wenn er schwiege, kein Blutstropfen seinetwegen vergossen werde – und dennoch hat er das göttliche Gesetz verkündigt. Glaubt ihr, deutsche |
ii423 Arbeiter, sein Gewissen sei auch nur durch einen einzigen Tropfen des Blutes, das sein trauervoller Geist in der Zukunft sah, belästigt worden? Durch keinen einzigen!
Arnold von Brescia, Savonarola, Wycliffe, Huß, Luther, Zwingli, Calvin – alle diese Männer wußten, daß der Apfel der Zwietracht, den sie unter die Menschen warfen, zu den blutigsten Kriegen führen würde. Ja, das Stöhnen und Gewimmer der Verwundeten und Sterbenden drang bis zu den Ohren der meisten derselben und zerriß ihr Herz. Glaubt ihr aber, daß ihr Gewissen sie belästigt habe? In keiner Weise war dies der Fall, denn sie handelten in Uebereinstimmung mit dem göttlichen Gesetz.
Montesquieu, Rousseau, Helvetius, Holbach, Danton, Robespierre, die Girondisten – alle wußten, daß entsetzlich viel Blut fließen werde, wenn sie die Wahrheit verkündigten. Haben sie gezaudert, erlösende Worte zu sprechen? Nein! Sie haben die Gefühle ausgesprochen, die der gewaltige göttliche Athem in ihrem Busen erregte. Glaubt ihr, daß der von Natur weiche, sanfte Robespierre mit leichtem Herzen die Todesurtheile unterschrieben habe? Es ist geschichtliche Thatsache, daß er voll Barmherzigkeit und Menschenliebe war und dennoch unterschrieb er. Glaubt mir: sein Herz wollte brechen, aber sein Gewissen war lautlos. Nur Blut, das vom Einzelnen im Widerspruch mit dem göttlichen Gesetz vergossen wird, schreit zu Gott und findet Erhörung in Form von wilden qualvollen Gewissensbissen.
Aus allen diesen Untersuchungen haben wir jetzt die Norm, die Richtschnur zu bilden, welche in etwaigen Kämpfen der Zukunft euer Verhalten regeln soll.
Ich habe euch in meinem zweiten Vortrag entwickelt, daß Deutschland während einer Geschichtsperiode, deren Dauer nicht bestimmt werden kann, berufen ist, an der Spitze der europäischen Staatenfamilie zu stehen. Ich habe euch ferner auf Grund dieser Thatsache erläutert, daß nicht die Franzosen euch, sondern ihr den Franzosen die Lösung des socialen Problems bringen werdet. Ich habe euch auch den Weg angegeben, auf dem ihr an der Hand einer praktischen Agitation zum Ziele gelangen könnt. Ich habe schließlich der Erreichung des Zieles, also einer sehr bedeutsamen Revolution, den Beisatz »friedlich« aus tausend Gründen gegeben.
Sollte nun während dieser Agitation Deutschland nochmals |
ii424 gegen Frankreich Krieg führen, d.h. einen neuen Religionskrieg auskämpfen müssen, so ergiebt sich euere Stellung von selbst. Ihr habt in moralischer Begeisterung zu erglühen und mit verzehnfachter Kraft in diesen heiligen Krieg zu ziehen; denn es handelt sich um Vernichtung von Pfaffenlug und Pfaffentrug, um Ausbrennung eines furchtbaren Krebsgeschwüres am Leibe der Völker.
Jetzt setze ich aber den Fall, das außerordentlich Unwahrscheinliche, aber immerhin Mögliche trete ein. Es trete der Fall ein, daß in Frankreich trotz Allem und Allem, die sociale Frage gelöst und das französische Volk mit dieser Lösung auf der Fahne gegen Deutschland marschiere.
Wie müßt ihr in diesem Falle handeln? Sollt ihr fahnenflüchtig werden oder reichstreu bleiben?
Es ist nur eine Antwort möglich: ihr müßt unter allen Umständen reichstreu bleiben; denn das Vaterland darf nie, nie verrathen werden; das würde dem göttlichen Gesetze, das Vaterlandsliebe gebietet, widersprechen und zugleich wäre es Vertragsbruch.
Nun könntet ihr aber erwiedern: in diesem Falle würde das göttliche Gesetz im Widerspruch mit sich selbst sein: es gebietet Vaterlandsliebe einerseits und Gerechtigkeit und Menschenliebe andererseits. Ich würde von der einen Tugend zum deutschen Vaterland, von der anderen zu den Franzosen gezogen und die Gerechtigkeit ist eine größere Tugend als der Patriotismus.
Dieser Widerspruch ist jedoch nur ein scheinbarer.
Wer zum göttlichen Gesetz geschworen hat, muß sich an seinem irdischen Abglanz, an den Staat halten. Hingabe an den Staat und Hingabe an das göttliche Gesetz decken sich. Und seid getrost, weil dies der Fall ist, könnte auch die höhere Tugend gar nicht unterliegen.
Ich erinnere euch daran, daß der Gang der Menschheit aus dem Streben aller einzelnen Menschen entsteht und ein durchaus nothwendiger, d.h. mit dem goldenen unwandelbaren Strich am Himmel übereinstimmender ist.
Würdet ihr als deutsche Socialdemokraten gegen Frankreich, das in dem gedachten Kriege die Interessen der Socialdemokraten aller Länder verträte, ziehen müssen, wie würde es da wohl in euerer Brust aussehen? Ihr würdet traurig und niedergeschlagen sein. Und wie würde es in der Brust der Franzosen aussehen? Es würde flammen, sausen, brausen; die Lohe der Begeisterung würde aus allen Poren brechen, kurz ihre Kraft wäre verzehnfacht, während die euere durch |
ii425 Trauer und Niedergeschlagenheit auf die Hälfte reducirt wäre. Könnte da ein guter Ausgang für Deutschland möglich sein? Durchaus nicht.
Seht ihr, deutsche Arbeiter: so würde euere Sache doch siegen, obgleich ihr nicht das göttliche Gesetz verleugnet und den Staatsvertrag zerrissen hättet.
In ähnlicher Weise müßte das Verhalten derjenigen von euch sein, welche beim Ausbruch einer socialen Revolution, die wir per impossibile annehmen wollen, gerade Soldaten wären. Dürften sie dem Befehl, auf euch, ihre Väter, Brüder und Freunde zu schießen, nicht gehorchen? Sie müßten Feuer geben. Warum? Erstens, weil Elternliebe, Kindesliebe, Geschwisterliebe u.s.w. als solche gar nicht zum göttlichen Gesetz gehören; sie gehören nur insofern dazu, als sie in der Menschenliebe schlechthin enthalten sind. Dann sind sie Wächter des Staates schlechthin, dem sie schon bei der Geburt, durch ihre bloße Erscheinung, verpflichtet wurden und dem sie dann beim Eintritt in’s Heer unbedingte Treue geschworen haben. Brächen sie, die Hüter des Staatsvertrags, den Vertrag, so wären sie zwiefach als Verbrecher und Verräther gebrandmarkt, ein Schandmal, das nie von ihrer Stirne verschwände. Aber – und das ist der Brennpunkt der Frage – sie würden lau sein; denn wie könnten sie begeistert sein? Begeisterung kann von keinem König und von keinem Kaiser commandirt werden; die kann nur durch ein hohes Ziel erzeugt werden, das nothwendigerweise im göttlichen Gesetz wurzeln muß, was der echte Staatsmann vor Allem zu beachten hat und nie aus den Augen verlieren darf. Die echte Politik folgt der unwandelbaren Richtung der Menschheitsentwickelung oder mit anderen Worten, die echte Politik ist Volkspolitik. Und weil euere Kameraden im Rock des Reichs lau wären, deshalb würdet ihr in euerer Begeisterung siegen; natürlich vorausgesetzt, daß ihr thatsächlich die Uebermacht habt; denn das Gelingen einer Revolution ist gleichbedeutend mit der Herausstellung dessen an die Oberfläche, was in der Tiefe schon vorhanden ist.
Allgemeiner gefaßt, lautet also die unumstößliche Norm, die unerschütterliche Richtschnur für euere Handlungsweise:
In allen Actionen des Staats nach außen muß makellose Pflichterfüllung, makellose Vertragstreue bethätigt werden.
Im Innern des Staates ist die glühendste Hingabe an das göttliche Gesetz zu üben, damit dasselbe seine volle Verwirklichung |
ii426 in der Gesellschaft finde. Wer unter der Fahne steht, muß makellos vertragstreu sein. Wer nicht unter der Fahne steht, hat das göttliche Gesetz über das menschliche zu stellen, und darf vor keinem Conflikt, der hieraus entstehen mag, zurückschrecken. »Du sollst Gott mehr gehorchen als den Menschen.«
Zugleich mache ich nochmals darauf aufmerksam, daß die Gesetze gegen Mord und Diebstahl Urgesetze sind, die als Ausfluß der Naturnothwendigkeit ebenso heilig wie das göttliche Gesetz selbst sind.
Möge sich das, was ich euch sagte, tief in euere Seelen eingraben.
Jetzt habe ich noch meine Stellung zu euerer Partei anzugeben, wie ich am Anfang dieser Reden versprochen habe.
Ich wiederhole vor Allem, daß ich als ein freier und unabhängiger Mann zu euch gesprochen habe: das werdet ihr auch erkannt und gefühlt haben; denn hätte ich etwas von euch gewollt, oder diente ich Anderen, so würde ich euch den Bart gestrichen und mich gehütet haben, schonungslos in eueren Wunden herumzuwühlen.
Meine Hauptstellung zu euch ergiebt sich aber aus Folgendem.
Alles was die sociale Bewegung an ihrem fernen Ende den Menschen bringen wird, das habe ich bereits. Ich verlange von der Welt nichts mehr.
Ich bin abgelöst von Personen und Sachen.
Ich nehme keine Ehre von Menschen.
Der Ehrgeiz und die Ruhmsucht sind in mir erloschen: kein Motiv, das eine Menschenbrust bewegt, kann mich bewegen.
Nur Eines verlangte ich noch: das Bewußtsein, dem Volke gedient zu haben. Ich habe es mir errungen.
Ich kann niemals euerer Partei angehören, weil die sociale Frage für mich keine Klassenfrage, sondern eine Bildungsfrage ist, welche die ganze Menschheit umfaßt. Ich kann deshalb überhaupt keiner Partei angehören: ich stehe über den Parteien.
Aber insofern euere Sache zur Sache der Menschheit gehört, gehöre ich euch ganz, obgleich ich kein Glied euerer Partei sein kann.
Ich bin euer Wilhelm Tell, der auch kein Parteimann war, und einen einsamen Weg ging.
Ihr habt, deutsche Arbeiter, keinen treueren Freund als mich.