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Das wahre Vertrauen.

 

ii243

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Befiehl dem Herrn deine Wege, und hoffe auf ihn: Er wird

es wohl machen.

37. Psalm, V. 5.

 

ii245 Ich bin einmal Zeuge davon gewesen, wie eine alte gute Frau eine Bekannte besuchte, welche ihren Gatten einige Tage vorher verloren hatte und in der bedrängtesten Lage war. Als das alte, vertrocknete, silberhaarige Mütterchen Abschied nahm, sagte sie: »Seien Sie ruhig. Gott verläßt die Wittwen und Waisen nicht.«

Nicht diese Worte an sich ergriffen und erschütterten mich: es war der Klang der Stimme, der Ton der größten Bestimmtheit, des unerschütterlichsten Glaubens, des unbedingten Vertrauens; es war der Glanz des blauen Auges, das ein Blitz durchfuhr und dann wieder ruhig, klar, mild, friedevoll leuchtete.

Was sie sagte, war der reine Ausdruck jenes felsenfesten Vertrauens, das Christus mit den Worten schilderte:

Wahrlich, ich sage euch, wer zu diesem Berge spräche: Hebe dich, und wirf dich in’s Meer, und zweifelte nicht in seinem Herzen, sondern glaubte, daß es geschehen würde, was er sagt: so wird es ihm geschehen, was er sagt.

(Marc. 11, 23.)

Diese Worte des Heilands drücken Das, was in Rede steht, in einem kühnen Bilde sehr gut aus; denn wer felsenfest auf dem echten Vertrauen ruht, das entstanden sein mag, wie es wolle, der will gar keine Berge versetzen, der sitzt entweder selig eingesponnen in seinem Glauben wie ein Kind in seiner Märchenwelt: träumend, ruhig, still, genügsam, bescheiden, oder er hat viel wichtigere Dinge zu thun als Berge zu versetzen, viel schwierigere Leistungen zu vollbringen und er vollbringt sie, so daß er mehr thut als einen Berg in die Luft heben und in’s Meer stürzen.

Wenn es eine Wahrheit giebt, welche der blödeste, dümmste und bornirteste Mensch so gut versteht wie der geistreichste und genialste, so ist es die:

ii246 daß ein göttlicher, mächtiger Hauch die Dinge dieser Welt verbindet und die einzelnen Wesen bald von außen, bald von innen wie ein Wirbelwind ergreift und fortreißt.

Als die Hülle des Thiermenschen gefallen und der erste Mensch, ein armes Wesen mit wildem Drange im Blute und mit einer ganz schwachen Urtheilskraft in’s Dasein getreten war, – da wurde schon dieser göttliche Hauch gespürt und der Schrecken vor etwas Unsichtbarem, Geheimnißvollen, Uebermächtigen trat in die Menschheit.

Wir haben in den ersten Essays Schritt für Schritt die Stellung des wachsenden Menschengeistes diesem unsichtbaren Geiste gegenüber verfolgt. Wir haben mit dem Polytheismus begonnen, haben dann jede Läuterung und Metamorphose desselben einzeln betrachtet; hierauf gelangten wir zum Judenthum David’s und Salomo’s, zum Monotheismus, und schließlich zum Pantheismus. Dann prüften wir die Lehre des Sankhya und den Budhaismus, ferner das reine Christenthum. Endlich legte ich den Kern meiner Lehre bloß.



In anderer Darstellung war unser Weg dieser: Wir gingen aus vom verzweiflungsvollen Schreck des Individuums vor dem unsichtbaren Geist, wann sich derselbe bethätigte, und vom geblähten Selbstgefühl des Individuums, wann sich der unsichtbare Geist nicht bethätigte. Dann haben wir Vertrauen zu einem Lichtgott und Furcht vor einem Gott der Finsterniß gefunden; dann fanden wir Vertrauen zu einem Einigen Lichtgott, wann das Individuum wußte, daß es den göttlichen Vertrag gehalten hatte, und maßlose Angst, wann es das göttliche Gesetz verletzt, gegen den offenbarten Willen der Gottheit gehandelt hatte. Hierauf betrachteten wir die Gelassenheit, Gleichgültigkeit und Willenslosigkeit des Individuums einer Einheit in der Welt gegenüber, denn das Individuum mußte sich nur für ein todtes, willenloses Werkzeug in der Hand einer allmächtigen Einheit, für eine Marionette, für eine bloße Form für die Eingießungen der Gottheit halten. Dann bemerkten wir die Reaction des Individuums gegen diese verkehrte Machtvertheilung. Im Individuum loderte der Prometheusfunke zu einer himmelstürmenden Flamme auf: in trotziger Verblendung leugnete das Individuum den göttlichen Hauch in der Welt.

Da trat Budha reformirend auf: sein Geist verschlang die Welt und legte Gott, die ganze Macht, die Allmacht, in seine kleine, aber unabsehbar tiefe Brust: eine einzige reale Brust. Von hier |

ii247 aus, aus dieser einzigen kleinen Brust heraus, gestaltete der verleiblichte Gott das Schicksal des einzigen realen Individuums. Auf diese Weise trat an die Stelle des Selbstvertrauens, das mit der Furcht vor sinnlichen realen Individuen in der Welt abwechselte (Sankhyalehre, roher Atheismus), das unmittelbare Gottesbewußtsein: Ich bin Gott, wer soll mir Etwas thun können, was ich nicht in der Tiefe meiner Seele will? (Budha, philosophischer Atheismus).

Dann betrachteten wir das Christenthum, d.h. die Lehre in dogmatischer Hülle: daß Gott zu einer Welt der Vielheit geworden ist, deren Ursprung aus einer Einheit, aus einer Gottheit, eben der heilige Athem ist, der die Welt durchweht. Dieser Athem ist nichts Persönliches, nichts Greifbares:

Gott ist ein Geist.

Er ist die Conjunktur der Dinge, ihre Verbindung, ihre Verknüpfung und die damit gegebene Gesammtbewegung der Welt. Die Summe der Individuen als der einzigen Realen ist Christus. Das heilige Gesetz, wonach sich die Welt bewegt, oder auch die Resultirende aus allen einzelnen Bewegungen, oder auch die Richtung, der Weg der Welt, ist der Heilige Geist, die der Menschheit voranschwebende Taube der Erlösung.

Meine Philosophie hat die Hülle vom Dogma abgestreift und es ergab sich das Obige, sowie ferner das wichtige Resultat

der Selbstherrlichkeit und Allmacht des Individuums,

was Budha lehrte; aber ich habe gezeigt, daß dieses wichtige Resultat nicht in der Betrachtung der Welt allein gefunden werden kann, sondern nur dadurch, daß man den Gott vor der Welt an die Welt rückt und auf diese Weise das Individuum gleichsam mit dem einen Fuß auf das vorweltliche Gebiet, mit dem anderen Fuße auf die Welt stellt. Jetzt erst ist es selbstherrlich, nicht wie Budha wollte, in der Welt allein.

Alle Religionen ohne Ausnahme erkennen den göttlichen Athem an; dasselbe thun alle philosophischen Systeme mit Ausnahme der indischen Sankhyalehre und des Materialismus. Beide Systeme sind platt und unhaltbar, sind widerlicher, roher Atheismus, Uebrigens ist der Materialismus nur auf der Oberfläche Atheismus; denn kein Gott wird so inbrünstig verehrt als die allmächtige erträumte Materie von den »Barbiergesellen«, wie Schopenhauer die Materialisten nannte.

Die Sankhyalehre hat keine Anhänger mehr und so dürfen wir denn apodiktisch aussprechen:

ii248 daß jeder Mensch den Athem des Göttlichen mehr oder weniger spürt: weniger, je roher, mehr, je gebildeter er ist. Je höher der Mensch in der Erkenntniß steht, desto mehr beunruhigt ihn der gewaltige Athem Gottes: er wird oft melancholisch und tief entmuthigt.

Jetzt wollen wir auf Grund dieses allgemeinen, bald klaren bald dunklen Gottesbewußtseins die Grade des Vertrauens und der Furcht prüfen.

Der Mensch will das Leben schlechthin. Er will es bewußt und auf dämonischen (unbewußten) Antrieb. Erst in zweiter Linie witt er das Leben in einer bestimmten Form. Sehen wir nun von den Heiligen ab (von den heiligen indischen Brahmanen, Budhaisten, Christen und weisen Philosophen wie Spinoza einer war), so hofft Jeder, daß ihn der göttliche Athem, wie den Schmetterling seine Flügel, von einer Blume zur anderen trage: Das ist das gewöhnliche Vertrauen auf die Güte Gottes.

Da jedoch die Erfahrung auch den Blödesten lehrt, daß der göttliche Athem nicht nur ein leiser Zephyr ist, sondern auch ein kalter eisiger Nordwind oder ein furchtbarer Sturm sein kann, der Blume und Schmetterling vernichten mag, so tritt neben das Vertrauen die Gottesfurcht.

Denken wir uns einen Menschen vom gewöhnlichen Schlage, der eben, erbaut von einem tüchtigen Priester, aus der Kirche käme und sagte: »Ich vertraue auf Gott, ich stehe in seiner Hand, er wird es wohl machen.« Könnten wir in seinem Herzen die verborgenste Falte öffnen, so würden wir finden, daß er mit diesem zuversichtlichen Ausspruch eigentlich ausdrücken wollte:

»Mein Gott wird mich vor Verderben und Untergang retten.« Er fürchtet Unglück und Tod, am meisten einen plötzlichen Tod.

Vertraut dieser Mensch auf Gott? Er vertraut in Furcht: sein Vertrauen ist nichts Anderes als Gottesfurcht im zerfetzten Gewand des Vertrauens: die Furcht blickt aus tausend Löchern und Rissen heraus.

Man kann nun füglich annehmen, daß zwischen diesem Gottvertrauen, resp. dieser Gottesfurcht und dem Vertrauen des echten Gläubigen gar kein anderer Grad von Vertrauen mehr liege. Unterschiede ergeben sich nur in der Art und Weise, wie der Gläubige die Schläge und Wohlthaten des Schicksals hinnimmt: ob in den Polen absolute Verzagtheit und absolute Ruhe einerseits, absolute Freude |

ii249 und absolute Ruhe andererseits herrsche oder auf irgend einem Punkt innerhalb dieser Grenzen vorhanden sei; denn er spricht immer:

Was Gott thut, das ist wohlgethan.

Es ist nur das Fleisch, wie die Theologen sagen, das zittert oder jubelt: die Seele ist immer vertrauensvoll.

Aus diesem Gläubigen wird sofort ein Heiliger, ebenso wie aus einem Zweifler sofort ein echter Weiser wird, wenn der Tod verachtet, resp. geliebt wird.

Gottesfurcht ist Todesfurcht, Gottvertrauen ist Todesverachtung.

Wer die Furcht vor dem Tode überwunden hat, Der und nur Der allein kann die köstlichste, duftreichste Blume in seinem Gemüth erzeugen: Unanfechtbarkeit, Unbeweglichkeit, unbedingtes Vertrauen; denn was in der Welt könnte einen solchen Menschen noch irgendwie bekümmern? Noth? Er hat keine Furcht, zu verhungern. Feinde? Sie können ihn höchstens ermorden und der Tod hat ja keine Schrecken mehr für ihn. Körperlicher Schmerz? Wird dieser unerträglich, so wirft er, der »Fremdling auf Erden,« ihn in einer Minute sammt seinem Körper ab.

Darum ist die Todesverachtung Grundlage und Bedingung sine qua non des echten Vertrauens.

Aber wie kann man sie erlangen? Durch die Religion und durch die Philosophie.

Giebt die Religion dem Individuum das herrliche Vertrauen, so schenkt sie es ihm in der Hülle eines schönen Wahns. Sie gaukelt dem Menschen ein süßes Bild vor, das glutvolles Verlangen in ihm erweckt und in der Umarmung des herrlichen Trugbildes erdrückt er die Todesfurcht in seinem Busen. Er verachtet das irdische Leben, um ein schöneres himmlisches Leben dafür zu erhalten.

Der Glaube ist mithin Bedingung des religiösen Vertrauens und je mehr die Fähigkeit zum Glauben in der Menschheit abnimmt, desto seltener wird deshalb das echte Gottvertrauen oder, was dasselbe ist, desto furchtsamer, haltloser, schwankender, zerfahrener, unglücklicher werden die Menschen.

Wir leben nun in einer Periode, wo die selige Verinnerlichung durch die continuirliche Abnahme des Glaubens immer seltener, die unglückselige Zerfahrenheit und Friedelosigkeit immer häufiger wird: es ist die Periode des trostlosen Unglaubens.

Es bleibt die Philosophie. Kann sie helfen? Kann sie ohne |

ii250 einen persönlichen Gott und ohne ein Himmelreich jenseit des Grabes ein Motiv geben, das verinnerlicht, concentrirt und dadurch aus einem gesammelten Gemüth die Blüthe des echten Vertrauens, des unerschütterlichen Seelenfriedens treibt? Ja, sie kann es; gewiß, sie kann es. Sie begründet das Vertrauen auf dem reinen Wissen, wie die Religion es auf dem Glauben begründet hat.

So wenig als die Religion der Erlösung, das Christenthum, weitergeführt werden kann, so wenig ist meine Philosophie der Erlösung weiterzuführen: sie kann nur vervollkommnet, d.h. im Detail, namentlich in der Physik, ausgebaut werden; denn in der Welt giebt es weder ein Wunder noch ein unergründliches Geheimniß. Die Natur ist vollkommen zu ergründen. Nur die Entstehung der Welt ist ein Wunder und ein unergründliches Geheimniß. Ich habe jedoch gezeigt, daß uns der göttliche Act, d.h. eben die Entstehung der Welt, im Bilde erklärlich ist, wenn wir uns nämlich der weltlichen Principien Wille und Geist als regulativer (nicht constitutiver) Principien mit Absicht auf die vorweltliche Gottheit bedienen. Damit ist, meiner Ueberzeugung nach, der speculative Trieb der Menschen am Ende seines Weges angekommen; denn ich darf mit der größten apodiktischen Bestimmtheit aussprechen, daß über das Wesen der vorweltlichen Gottheit nie ein menschlicher Geist sich Rechenschaft wird ablegen können. Auf der anderen Seite muß auch die von mir im Bilde gespiegelte Entstehung des göttlichen Entschlusses, sich in einer Welt der Vielheit zu verkörpern, um vom Dasein schlechthin befreit zu werden, jeden Vernünftigen völlig befriedigen.

Was hat sich nun aus meiner Metaphysik ergeben? Eben eine wissenschaftliche Grundlage, d.h. ein Wissen (kein Glaube), worauf das unerschütterlichste Gottvertrauen, die absolute Todesverachtung, ja Todesliebe erbaut werden kann.

Ich habe nämlich zunächst gezeigt, daß jedes Ding in der Welt unbewußter Wille zum Tode sei. Dieser Wille zum Tode ist namentlich im Menschen ganz und gar verhüllt vom Willen zum Leben, weil das Leben Mittel zum Tode ist, als welches es sich ja auch dem Blödesten klar darstellt: wir sterben unaufhörlich, unser Leben ist langsamer Todeskampf, täglich gewinnt der Tod, jedem Menschen gegenüber, an Macht, bis er zuletzt Jedem das Lebenslicht ausbläst.

Wäre denn eine solche Ordnung der Dinge überhaupt möglich, wenn der Mensch im Grunde, im Urkern seines Wesens, nicht den |

ii251 Tod wollte? Der Rohe will das Leben als ein vorzügliches Mittel zum Tode, der Weise will den Tod direkt.

Man hat sich also nur klar zu machen, daß wir im innersten Kern unseres Wesens den Tod wollen, d.h. man hat nur die Hülle von unserem Wesen abzustreifen und alsbald ist die bewußte Todesliebe da, d.h. die volle Unanfechtbarkeit im Leben oder das seligste herrlichste Gottvertrauen.

Unterstützt wird diese Enthüllung unseres Wesens durch einen klaren Blick in die Welt, welcher überall die große Wahrheit findet:

daß das Leben wesentlich glücklos und das Nichtsein ihm vorzuziehen ist;

dann durch das Resultat der Speculation:

daß Alles, was ist, vor der Welt in Gott war und, bildlich geredet, am Entschluß Gottes, nicht zu sein, und an der Wahl der Mittel zu diesem Zwecke, Theil genommen hat.

Hieraus fließt:

daß mich im Leben gar nichts treffen kann, weder Gutes noch Böses, was ich mir nicht, in voller Freiheit, vor der Welt gewählt habe.

Also eine fremde Hand fügt mir direkt gar Nichts im Leben zu, sondern nur indirekt, d.h. die fremde Hand führt nur aus, was ich selbst, als ersprießlich für mich, gewählt habe.

Wende ich nun dieses Princip auf Alles an, was mich im Leben trifft, auf Glück und Unglück, Schmerz und Wollust, Lust und Unlust, Krankheit und Gesundheit, Leben oder Tod, so muß ich, habe ich mir nur die Sache recht deutlich und klar gemacht, und hat mein Herz den Erlösungsgedanken glutvoll erfaßt, alle Vorkommnisse des Lebens mit lächelnder Miene hinnehmen und allen möglichen kommenden Vorfällen mit absoluter Ruhe und Gelassenheit entgegengehen.

Philosopher, c’est apprendre à mourir: Das ist der Weisheit »letzter Schluß.«

Wer den Tod nicht fürchtet, Der stürzt sich in brennende Häuser; wer den Tod nicht fürchtet, Der springt ohne Zaudern in tobende Wasserfluthen; wer den Tod nicht fürchtet, Der wirft sich in den dichtesten Kugelregen; wer den Tod nicht fürchtet, Der nimmt unbewaffnet den Kampf mit tausend gerüsteten Riesen auf – mit einem Worte, wer den Tod nicht fürchtet, Der allein kann für Andere |

ii252 Etwas thun, für Andere bluten und hat zugleich das einzige Glück, das einzige begehrenswerthe Gut in dieser Welt: den echten Herzensfrieden.

Man setzte mit Recht den höchsten Ruhm des Heilands darin:

daß er die Schrecknisse der Hölle und die Schrecken des Todes überwunden habe,

d.h. die Leiden des Lebens und den Tod.

Darum sehe ich meine Philosophie, welche nichts Anderes ist als die gereinigte Philosophie des genialen Schopenhauer, für ein Motiv an, das dieselbe Verinnerlichung, Vertiefung und Concentration in den Menschen unserer gegenwärtigen Geschichtsperiode hervorbringen wird, welche das Motiv des Heilands in den ersten Jahrhunderten nach seinem Tode hervorbrachte. Die nächste Zukunft wird ganz bestimmt Erscheinungen enthalten, die den herzerhebenden in jener Zeit ähneln: Wir werden Männer haben wie Johannes, Paulus, Chrysostomus und Augustin, und Weiber wie die Macrina, Emmelia, Monica und Anthusa.

Wie aber der Tag nur Tag ist, weil ihm die Nacht vorangeht und folgt, so ist auch das felsenfeste Vertrauen, der tiefe Herzensfrieden nicht zu erlangen ohne die dunkle schreckliche Nacht der Verzweiflung. Sie muß den Einzelnen würgen und ängstigen, schnüren und peitschen, sie muß ihn zerbrechen, gewissermaßen tödten: Adam muß sterben, wenn Christus auferstehen soll.

Man glaube aber nicht, daß diese Nacht nur auf harten Schicksalsschlägen beruhe: auf Krankheiten, Hunger, zerbrochener Existenz, Todesfällen geliebter Angehörigen, schweren Sorgen um die Existenz. Am meisten rüttelt und schüttelt den Menschen der Zweifel und die Oede des Herzens. Noch keinem Verklärten sind die Dornen erspart geblieben. Ehe er verklärt wurde, blickte er in seine zerfressene stürmische Brust oder in sein kahles wüstes Herz: da war nur Kälte, Erstarrung, Oede: kein Hauch des Enthusiasmus war zu spüren, keine sprudelnde Quelle plätscherte im Schatten blühender Bäume, auf deren Zweigen fröhliche Vögelein sangen.

Ich habe schon mehrmals auf den hohen Rang hingewiesen, den die germanischen Völker unter den Nationen der Menschheit einnehmen. Wahrlich, wir würden ihn behaupten können, wenn unser Volk in seinem ganzen bisherigen Entwicklungsgange nur den Wolfram von Eschenbach erzeugt hätte. Er ist nicht der größte Dichter der Deutschen; aber kann es denn Jemand geben, der im Ernste be|haupten

ii253 wollte, er stünde mehr als eine kleine Linie unter Goethe? Vom rein philosophischen Standpunkte gar wird der Faust zu einem blassen Schatten neben dem Parzival, und Wolfram überragt Goethe um einen vollen Kopf; denn was ist der Parzival Anderes als die dichterische Gestaltung des echten weisen Helden, die glutvolle Verherrlichung Budha’s oder Christi?

Der Parzival ist eine Dichtung, welche allerdings die Evangelien zur Bedingung hatte, aber die Evangelien entbehrlich macht. Würden diese untergehen, ingleichen würden alle budhaistischen Schriften untergehen und bliebe einzig und allein der Parzival, so hätte die Menschheit nach wie vor der »Weisheit höchsten Schluß.« Sie dürfte getrost sein: ihrer ferneren Entwicklung würde nicht der Sauerteig fehlen, nicht »die Wolke am Tag und die Feuersäule bei Nacht,« nicht die duftige Blüthe des menschlichen Geistes.

Vertieft man sich in die Dichtung des genialen Franken, so wird man in lichteren Hüllen als irgendwo die Kämpfe erblicken, welche der Einzelne durchmachen muß, bis er den klaren Gipfel im goldenen Scheine der Erlösung erreicht.

Weh, was ist Gott?

Ich war mit Dienst ihm unterthan,

So lang ich bin und beten kann.

Ich will ihm künftig Dienst versagen.

Hat er Haß, den will ich tragen.*[1]

Das Individuum stützt sich trotzig und verbissen auf seinen unmittelbar gefühlten und erkannten Lebensgrund und wirft von dieser felsenfesten Stelle aus Blitze und zorniges Feuer gegen den göttlichen Athem in der Welt.


Date: 2015-01-02; view: 917


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