war, obgleich er in der Welt war; denn es ist eine unerläßliche Bedingung für die absolute Menschenkenntniß, daß man sich von den Menschen radical zurückziehe, nachdem man ihnen eine Weile bis in ihre verborgensten Schlupfwinkel gefolgt ist. Nur Derjenige kann die Menschheit lieben und mit treuem Herzen für sie kämpfen, der über ihr schwebt, nicht mehr in ihr steht.
Ueberall nun, wo Christus glaubte, daß von ihm gesprochene Worte machtvolle Motive für gute Thaten werden könnten, zögerte er nicht, zweideutige Ausdrücke zu wählen. Er wußte, daß dies so gut sei, als ob sie unzweideutig seien; denn allemale, wenn Furcht im Herzen sitzt, ist der Kopf unklar. Ich will nicht sagen, daß Christus gelogen habe; obgleich ich keine Scheu in dieser Hinsicht zu haben brauchte, denn es giebt Lügen, die nicht nur nicht schänden, sondern ehrenwerth sind: es sind Lügen im Dienste der Wahrheit, oder, wenn dies nicht allgemein genug ist, Lügen, welche dem tugendhaften Individuum absolut keinen Vortheil bringen. Durch das Prädikat »tugendhaft« wird hier die nöthige Schranke errichtet, die vor Mißbrauch schützt.
So sagte er denn z.B.:
Wahrlich, ich sage euch: es stehen etliche hier, die nicht schmecken werden den Tod, bis daß sie des Menschen Sohn kommen sehen in seinem Reich.
(Matth. 16, 28.)
Wahrlich, ich sage euch: dies Geschlecht wird nicht vergehen, bis daß dieses Alles geschehe:
(ib. 24, 34.)
ii217 was auf den Weltuntergang hindeutete, dessen Tag und Stunde er doch ausdrücklich nicht zu wissen erklärt hatte. Mit »Geschlecht« kann aber auch die ganze Menschheit gemeint sein und mit den »Etlichen« Jene, welchen er sich in seiner Verklärung zeigen wollte. Natürlich dachte sofort seine Umgebung nur an den Weltuntergang, und welch ein mächtiges Motiv mußte die als nahe aufgefaßte Katastrophe für Viele sein! Der schreckliche Gedanke mußte das Gemüth in jene eigenthümlich bange Stimmung versetzen, welche man den Zeugungsmoment der Wiedergeburt nennen kann. Christus handelte also auch hier eminent praktisch.
In gleicher Weise offenbarte er praktischen Sinn darin, daß er seine Person in Beziehung zu Prophezeihungen der Propheten des Alten Testaments setzte:
Oder meinest du, daß ich nicht könnte meinen Vater bitten, daß er mir zuschickte mehr denn zwölf Legionen Engel?
Wie würde aber die Schrift erfüllet? Es muß also gehen.
(Matth, 28, 53. 54.)
Denn wie gewaltig mußte Solches im Dienst der Wahrheit, d.h. für die Ausbreitung der genialen Lehre des größten Juden wirken! Uebrigens entschleiert auch diese Stelle den Grund der moralischen Begeisterung des Heilands, die ich später in’s rechte Licht stellen werde.
Die Wunder soll jeder Vernünftige ganz unbeachtet lassen; denn nicht bei allen ist eine rationelle Auslegung möglich. Es giebt nur Ein Wunder und das ist Christus selbst, d.h. die Entstehung der Welt. Am besten hält man sich an den Ausspruch Christi, daß er kein einziges Wunder bewirken werde:
Und er seufzte in seinem Geist und sprach: Was sucht doch dies Geschlecht Zeichen? Wahrlich, ich sage euch: Es wird diesem Geschlecht kein Zeichen gegeben.
(Marc. 8, 12.)
Wie Budha hatte auch Christus den höchsten moralischen Muth und war politisch-socialer Reformator. Er sprach sogar kühn das Gesetz aller politischen Revolutionen aus und heiligte dieselben.
Aber vergeblich dienen sie mir, dieweil sie lehren solche Lehren, die nichts denn Menschengebote sind.
(Matth. 15, 9.)
ii218 Es giebt nämlich nur Ein unwandelbares, heiliges, unantastbares Gesetz und das ist das göttliche Gesetz (die vier christlichen Tugenden), welches die beiden Grundgesetze des Staats gegen Mord und Diebstahl (Gerechtigkeit) in sich faßt. Alles andere Gesetz ist Menschengebot, das, wenn es dem göttlichen Gesetz widerspricht, eben vom Grund des göttlichen Gesetzes aus angegriffen und gestürzt werden darf; ja, wer dies thut, handelt eo ipso eminent moralisch. Alle gewesenen politischen und socialen Revolutionen nun lassen sich aus dem Theil des göttlichen Gebots ableiten, der heißt: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«; und alle kommenden werden sich daraus ableiten lassen, bis zum Tage, wo die Menschheit Eine Heerde sein und Einen Hirten haben wird.
Christus hat über den Selbstmord Nichts gesagt. Daraus jedoch, daß bei Anführung des Bösen, das aus dem Herzen der Menschen kommt (Marc. 7, 21. 22), der Selbstmord nicht erscheint, darf man schließen, daß er nicht fähig gewesen wäre, einem Selbstmörder das exoterisch gelehrte Himmelreich zu entziehen; ja, wie ich in meinem Hauptwerk gezeigt habe, ist die Moral Christi gar nichts Anderes als Anbefehlung langsamen Selbstmords und man wird deshalb, wenn man noch den prophezeiten Untergang der Welt zu Hülfe nimmt, geradezu aussprechen können, daß Christus, wie Budha, den Selbstmord anempfohlen hat. Ich bestehe deshalb so sehr auf diesem Punkt, weil, wie ich offen gestehen muß, das herzlose Urtheil der meisten Menschen, namentlich der Pfaffen, über den Selbstmörder das Einzige ist, was mich noch tief empören kann. Ich möchte ferner alle windigen Motive zerstören, welche den Menschen abhalten können, die stille Nacht des Todes zu suchen, und wenn mein Bekenntniß, daß ich ruhig das Dasein abschütteln werde, wenn die Todessehnsucht in mir nur um ein Weniges noch zunimmt, die Kraft haben kann, Einen oder den Anderen meiner Nächsten im Kampfe mit dem Leben zu unterstützen, so mache ich es hiermit.
Wer den Philosophenmantel anlegt, hat zur Fahne der Wahrheit geschworen, und nun ist, wo es ihren Dienst gilt, jede andere Rücksicht, auf was immer es auch sei, schmählicher Verrath.
Schopenhauer.
Geht ohne Zittern, meine Brüder, aus diesem Leben hinaus, wenn es zu schwer auf euch liegt: ihr werdet weder ein Himmelreich, noch eine Hölle im Grabe finden.
ii219 Ueber die Mildigkeit und Güte der christlichen Lehre will ich kein Wort verlieren: sie ist zu bekannt. Dagegen will ich zum Schlusse noch auf den schon vom unvergeßlichen Fichte hervorgehobenen Unterschied zwischen dem Johanneischen und Paulinischen Christenthum aufmerksam machen.
Das Evangelium des Johannes ist das tiefste und schönste der vier und zugleich der reinste Spiegel der exoterischen Lehre. Es ist das Evangelium der Liebe, und wie es die heiße Stirne des wildesten Weltkindes kühlt, so ist es auch ein herzstärkendes Buch zu jeder Zeit für Den, welcher den klarsten Gipfel der Philosophie einnimmt und hoch über der Religion steht.
Dagegen ist das Paulinische Christenthum geradezu Fälschung der Lehre des milden Heilands. Im Brief an die Römer verwischte Paulus mit verwegener Hand die Grundlinien der hohen Lehre und warf die Menschen auf Jehovah zurück, als ob Christus gar nicht dagewesen wäre. Paulus hat die größten Verdienste um die Ausbreitung des Christenthums, aber seinen Meister hat er nicht begriffen. Daß er ein energischer tüchtiger Mann, ein unerschrockener Mann der That war – darüber läßt sich nicht streiten; wohl aber darüber, ob er ein genialer Jünger, oder bloß ein subtiler, haarspaltender, talentvoller Rabbiner war. Ich muß ihm Genie entschieden absprechen.