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II. Der exoterische Theil der Christuslehre.

 

ii205u

Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen bin, das Gesetz

oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen

aufzulösen, sondern zu erfüllen.

Matth. 5, 17.

 

Der exoterische Theil der Christuslehre ist die verklärte Religion David’s und Salomo’s, d.h. die Vernichtung des starren jüdischen Monotheismus, des glühenden Molochs mit seiner todtgequälten Creatur im Arme.

Ich nannte im Essay »Realismus« die Religion des Isaischen Königshauses die geläuterte Wahrheit im Vergleich mit dem Polytheismus, den ich für die rohe (naive) Wahrheit erklärte. Christus nun als Religionsstifter steht fest auf der Religion David’s, |

ii206 welche er zur absoluten Wahrheit im Gewand des Dogmas oder auch zur absoluten Religion weiterbildete.

Die Religion David’s habe ich, wie folgt, charakterisirt:

David faßte sein Verhältniß zu Jehovah nicht als das der durchaus ohnmächtigen Creatur zu ihrem Schöpfer, sondern als das patriarchalische des beschränkten Knechts zum Herrn, zum mächtigen Fürsten auf.

Hierauf baute Christus weiter.

Auch im exoterischen Christenthum haben wir nichts weiter als im esoterischen, nämlich:

Gott – Christus – Heiliger Geist,

aber diese drei Personen werden erstens anders charakterisirt, ferner werden sie von verschiedenen Seiten aufgefaßt, wodurch eine Menge von Unklarheiten und Widersprüchen erzeugt werden, welche ich jetzt besprechen will.

Vor allen Dingen begründete Christus wie Budha, als er aus der Wüste zurückkehrte und Lehrer der Menschheit wurde, eine Ethik, welche, woran ich erinnere, im esoterischen Theil einer Religion gar nicht vorkommen kann. Die Welt hat einen nothwendigen Verlauf, der, ehe sie in’s Dasein trat, im Voraus vollständig festgestellt wurde. Gute, wie schlechte, erkenntnißlose und vernünftige Individuen, der Sauerstoff so gut wie ein Heiliger und ein Mörder erzeugen diesen Weltlauf, der mithin in keiner Weise ein moralisches Gepräge tragen kann. Er ist nothwendige Ausführung eines logischen Entschlusses Gottes, natürlich bildlich geredet.

Aehnlich nun wie Budha die bloße Existenz Karma’s, seiner Kraft, welche ja an und für sich weder gut noch böse genannt werden kann, zur Quelle alles Bösen machen mußte, als er zu lehren anfing, so stempelte Christus das Wesen aller Menschen als adamisch sündhaft. Diesem sündhaften Wesen, welches seine dogmatische Begründung in der Erbsünde fand, setzte er die Wiedergeburt aus dem Geist entgegen, die volle Hingabe an den Heiligen Geist durch absolute Ausübung der Tugenden Vaterlandsliebe, Gerechtigkeit, Menschenliebe, Keuschheit. Der Mensch kann nur erlöst werden, wenn er seinen natürlichen Egoismus, Adam, ganz verliert und nur noch ein Gefäß für den Heiligen Geist wird: sämmtliche Thaten des seligen Menschen müssen übereinstimmen mit der Richtung der Weltbewegung, mit dem Heiligen Geiste.



ii207 Hierin ist die Ethik des Christenthums beschlossen. Ein wilder Apfelbaum kann nur sauere Früchte tragen. Ebenso kann nur ein schlechter Mensch schlechte Thaten vollbringen. Vollbringt er trotzdem hie und da eine gute durch legalen Zwang, so sind sie vollkommen werthlos: es ist dasselbe, als ob man an einen wilden Apfelbaum hie und da einen edlen Apfel neben den wilden Aepfeln mechanisch befestige: er ist nicht aus dem Saft geboren worden und nicht mit dem Zweige verwachsen. Soll ein Mensch moralische, d.h. werthvolle Thaten, welche belohnt werden, bringen, so muß seine Natur eine totale Veränderung erleiden: der wilde Apfelbaum muß edle Pfropfreiser erhalten, welche beim Menschen die in sein Blut übergegangenen, von der christlichen Ethik gelehrten Tugenden sind.

Denjenigen Theil des exoterischen Christenthums, welcher die Ethik umfaßt, habe ich erschöpfend in meinem Hauptwerk abgehandelt, worauf ich, um mich nicht zu wiederholen, verweise. Wir wollen jetzt den anderen Theil, welcher daselbst nicht erörtert wurde, kritisch beleuchten.

Von den drei göttlichen Wesen veränderte Christus zunächst Gott für das Volk.

Gott erscheint im exoterischen Christenthum unter drei Formen.

Zunächst als verklärter Gott David’s, d.h. als ein mächtiger, liebevoller, treuer Vater und Helfer, nicht als allmächtiger, bald guter, bald zorniger Gott. Das Individuum steht Gott als eine halbselbständige Kraftquelle gegenüber, über dessen ganzes Herz Gott nicht Gewalt hat.

Aber Gott lenkt das trotzige Herz beständig durch gute Motive, bis es zuletzt nur noch für diese empfänglich ist und Erlösung findet. Zu diesem Zweck, d.h. zur Vermehrung und Stärkung der guten Motive hat eben dieser gute, barmherzige Vater seinen Sohn in die Welt gesandt.

Denn Gott hat seinen Sohn nicht gesandt in die Welt, daß er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn selig werde.

(Joh. 3, 17.)

Und ich, wenn ich erhöhet werde von der Erde, so will ich sie Alle zu mir ziehen.

(ib. 12, 32.)

Es kann Niemand zu mir kommen, es sei denn, daß ihn ziehe der Vater, der mich gesandt hat.

(ib. 6, 44.)

ii208 In dieser halben Selbständigkeit des Individuums und der väterlichen Liebe Gottes ist der persische Dualismus, den Christus so gut gekannt hat wie die indischen Religionen, ebenso klar und rein gespiegelt, wie im Dogma der Erbsünde, das gleichfalls der Zend-Religion entlehnt ist. Die Frage, warum sich Christus mehr an diesen Dualismus als an die indischen Religionen anlehnte, findet ihre genügende Antwort darin, daß die Juden nach ihrer Gefangenschaft ganz andere religiöse Anschauungen hatten als vorher. Die persische Lichtreligion hatte den Monotheismus des jüdischen Volkes wesentlich modificirt. Schon hieraus kann man entnehmen, daß das erste Buch Mose jüngeren Datums ist als die Bücher Samuelis. In letzteren, wie ich erinnere, wird noch gelehrt, daß ein böser Geist vom Ewigen Gott ausgegangen und Saul ergriffen habe, in ersterem dagegen tritt Satan als das böse Princip auf.

Christus fand nun im Volk die persische dualistische Vorstellung vor und als Religionsstifter, d.h. als eminent praktischer Mann benutzte er das feste Vorhandene als Stützpunkt seiner glühenden reformatorischen Gedanken. In jedem Religionsstifter muß der Philosoph zurücktreten, und je mehr er zurücktritt, je energischer die weise Selbstbeschränkung ist, desto größere praktische Erfolge wird der erstere haben.

Aus demselben Grunde lehrte er nicht das budhaistische Nichtsein, sondern eine Fortsetzung des Lebens im Himmelreich, sowie einen lebendigen Gott neben einer lebendigen Welt (Christus): ersteres, weil die Juden noch von Lebenskraft und Energie strotzten, während Budha bereits ein durch den Brahmanismus und seinen Pessimismus zermürbtes Volk vorfand; letzteres, weil in den Juden die Vorstellung eines persönlichen kraftvollen Gottes unausrottbar war, während in den Indern zur Zeit Budha’s der Gottesbegriff bereits so verschwommen war, daß Budha die unklaren leichten Contouren vollständig auslöschen konnte, ohne den geringsten Widerstand zu finden. Christus kannte eben seine Leute, das dünkelhafte auserwählte Volk Jehovahs und machte Concessionen, weil er wie jede freie glutvolle Seele vor Allem den Durchbruch der Wahrheit ersehnte:

Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer anzünde auf Erden; was wollte ich lieber, denn es brennete schon?

(Luc. 12, 49.)

ii209 Im engsten Zusammenhang hiermit lehrte er eine zweite Form Gottes, eben den allmächtigen Judengott Jehovah. Hatte er seine Zuhörer durchschaut und gefunden, daß er es mit Juden des alten Glaubens zu thun hatte, so bequemte er sich sofort als praktischer Mann dem Hinderniß an. Jetzt war auf einmal Gott ein eifriger, rächender, zorniger, allmächtiger Gott, der die armen Creaturen, die doch ihr Wesen von ihm erhalten hatten, also gar nicht anders handeln konnten als sie handelten, unbarmherzig in die Hölle stieß, »da wo ist Heulen und Zähneklappern und keine Rettung,« wenn sie ihn durch Uebertretung des Gesetzes reizten.

Da war auf einmal auch wieder der Sohn selbst gar Nichts gegen Gott.

Was heißest du mich gut? Niemand ist gut denn der einige Gott.

(Matth. 19, 17.)

Das Sitzen zu meiner Rechten und Linken zu geben, stehet mir nicht zu, sondern denen es bereitet ist von meinem Vater.

(Matth. 20, 23.)

Himmel und Erde werden vergehen. Von dem Tag aber und der Stunde weiß Niemand, ... auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater.

(Marc. 13, 32.)

Die dritte Form endlich ist der hypostasirte Herzensfrieden oder auch die personificirte (als Contrast durch die Reflexion empfundene) Seligkeit des Nichtseins. Von diesem Gott sprach der liebevolle Meister gewöhnlich nur en petit comité, wann er mit seinen zwölf Auserlesenen allein war, oder wann er allein betete.

Hättet ihr mich lieb, so würdet ihr euch freuen, daß ich gesagt habe: ich gehe zum Vater.

(Joh. 14, 28.)

Ich bin vom Vater ausgegangen, und gekommen in die Welt; wiederum verlasse ich die Welt und gehe zum Vater.

(Joh. 16, 28.)

Und nun verkläre mich, du Vater, bei dir selbst mit der Klarheit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war.

(Joh. 17, 5.)

Die letztere Stelle besonders ist sehr bezeichnend: sie deutet klar auf den Frieden des einzigen, einfachen, in sich beschlossenen Urseins |

ii210 vor der Welt, an welchem Frieden Christus, weil er in dieser Einheit gewesen war, auch Antheil gehabt hatte. Natürlich handelte es sich hier, wie gesagt, um einen durch Reflexion gefundenen und dann mit dem Herzen empfundenen Zustand, der, weil bewußtlos, eben gar kein Zustand, keine Seligkeit gewesen sein kann.

In ähnlicher Weise zeigt das exoterische Christenthum Christus, die zweite Person der Dreieinigkeit, in verschiedenen Formen.

Die erste ist die esoterische Urform:

Ich und der Vater sind eins.

Die zweite ist die schon beim Vater erörterte kleinere Person. In dieser Form spricht nämlich Christus von dem verkörperten Gott, von dem Gott, der Menschen- und Knechtsgestalt angenommen hat. Im Glaubensbekenntniß des Athanasius werden auch alle Stellen des Neuen Testaments, wo Christus vom Vater als einem höheren, größeren Wesen sprach, durch Bezug auf die Menschheit Christi widerspruchslos gemacht. So heißt es daselbst:

Gott ist Christus aus des Vaters Natur vor der Welt geboren: Mensch ist er aus der Mutter Natur in der Welt geboren.

Ein vollkommener Gott: ein vollkommener Mensch mit vernünftiger Seele und menschlichem Leibe.

Gleich ist er dem Vater, nach der Gottheit: kleiner ist er denn der Vater, nach der Menschheit.

Und wiewohl er Gott und Mensch ist, so ist er doch nicht zwei, sondern Ein Christus.

Christus faßte sich in dieser zweiten Form als Individuum unter unzähligen anderen Individuen in der Welt auf; jedoch als ein vollkommen reines, in dem nur noch der Heilige Geist wirkt.

Meine Speise ist die, daß ich thue den Willen deß, der mich gesandt hat, und vollende sein Werk.

(Joh. 4, 34.)

Mein Vater wirket bisher, und ich wirke auch.

(ib. 5, 17.)

Der Sohn kann nichts von sich selbst thun, denn was er siehet den Vater thun: denn was derselbe thut, das thut gleich auch der Sohn.

(ib. 5, 19.)

Welcher unter euch kann mich einer Sünde zeihen?

(ib. 8, 46.)

ii211 Durch diese zweite Form wird auch die esoterische Urform ganz zerbrochen. Wie wir uns erinnern werden, ist die ganze Welt die Incarnation Gottes oder der Sohn, und nur in diesem Sinne, das heißt nur, indem sich Christus mit dem Weltall identificirte, konnte er sagen:

Ich und der Vater sind eins.

Im exoterischen Theil seiner Lehre dagegen scheidet er sich aus der Collectiv-Einheit der Welt aus, weil er sich als vollkommen reines Wesen fühlte und setzte sich in einen absoluten Gegensatz zum verbleibenden Rest, der jetzt par excellence »Welt« genannt wird und durch und durch böse ist.

Man sieht hier leicht, daß es sich wieder um eine Anbequemung an die dualistische religiöse Vorstellung des Volkes handelt. Wie Christus Gott mit Ormuzd, dem persischen Lichtgott, identificirte, so machte er auch die Welt im engeren Sinne zum Werk Satan’s (Ahriman’s).

Ihr seid von dem Vater, dem Teufel, und nach eures Vaters Lust wollet ihr thun. Derselbe ist ein Mörder von Anfang, und ist nicht bestanden in der Wahrheit; denn die Wahrheit ist nicht in ihm.

(Joh. 8, 44.)

Die Welt kann euch nicht hassen; mich aber hasset sie; denn ich zeuge von ihr, daß ihre Werke böse sind.

(ib. 7, 7.)

Ihr seid von unten her, ich bin von oben herab. Ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt.

(ib. 8, 23.)

Alles Dieses könnte keine Stelle im esoterischen Theil finden; denn in diesem ist Christus die ganze Welt, die einen nothwendigen Verlauf hat. Der heftigste individuelle Wille zum Leben, den wir (wollen wir ihn recht prägnant charakterisiren) einen boshaften Teufel nennen, hilft diesen nothwendigen Verlauf so gut gestalten wie der reinste Heilige. Ja, was ist denn eigentlich auf dem allerhöchsten Standpunkte der Philosophie, d.h. dem höchsten Standpunkte des esoterischen Christenthums ein Mensch, den wir einen boshaften Teufel nennen? Was will er? Er will genau dasselbe, was der Heilige will: Nichtsein. Nur ist ihm dieses Ziel verhüllt und das Leben ist ihm Mittel und Zweck zugleich, wäh|rend

ii212 es sich vor dem klaren Auge des Philosophen lediglich als Mittel darstellt. Je heftiger das Leben gewollt wird, desto früher wird die Kraft abgetödtet und das Nichtsein errungen. Deshalb sind es auch gewöhnlich die allerleidenschaftlichsten Naturen, die wiedergeboren, aus Schlemmern, Mördern, Dieben, plötzlich Asketen werden. Sie sind einem mit großer Kraft in die Höhe geschleuderten Stein zu vergleichen: je höher sie geworfen worden sind, d.h. je größer die Anfangsgeschwindigkeit war, desto größer ist auch die Endgeschwindigkeit.

Hier liegt auch die Lösung für den schönen persischen Mythos, daß Satan durch Gott überwunden und am Ende des Weltlaufs ein reiner Lichtgott wird. Satan ist das personificirte Mittel zum Zweck. Gott kann nur durch Satan, durch den wilden Kampf der Individuen, Das erlangen, was er will: das Nichtsein. Das sogenannte Böse, die Sünde, entspringt derselben Wirkung, der das sogenannte Gute, die Tugend, entspringt. Aus Christus (der Welt) entsprang Satan (der Kampf der Individuen) und der Heilige Geist (die heilige Resultirende aus diesem Kampf der Individuen).

Wer das böse Princip in seiner dämonischen Schönheit bis auf den Grund kennen lernen will, muß Milton’s Paradise lost lesen. Der gefallene Erzengel, der mit stolz zurückgeworfenem Kopfe, tiefe Schwermuth im düsteren Auge und um den Mund die Linien qualvoller Leiden tragend, nicht im reinen Lichte, sondern im rothen Schein der Höllengluth nach Befreiung dürstet – – dieser gemarterte Geist läßt in jedem Menschen eine Saite sympathisch ertönen. Auch der geniale Byron hat das böse Princip in das richtige Licht gestellt.

Natürlich muß sich auch im exoterischen Christenthum der Heilige Geist in verschiedenen Formen zeigen, um so mehr, als er, wie wir gesehen haben, bereits im esoterischen von zwei Seiten aufgefaßt werden konnte: einmal als göttliches Gesetz (Tugenden der Vaterlandsliebe, Gerechtigkeit, Nächstenliebe und Keuschheit) vom Vater allein ausgehend, dann als resultirende Bewegung aus den Bewegungen aller einzelnen in dynamischem Zusammenhang stehenden Individuen, also vom Vater und dem Sohne ausgehend.

So sehen wir denn zunächst den Heiligen Geist, d.h. das absolut Gute, als göttliches Gesetz, das schon vom Anbeginn der Menschheit in der Welt war, nur vor Christus nicht vollkommen. |

ii213 Moses wurde bereits vom Heiligen Geiste getrieben, als er sein Gesetz gab, d.h. Vaterlandsliebe, Gerechtigkeit und Nächstenliebe (Gehorsam gegen Gott) lehrte.

Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen.

Denn ich sage euch, wahrlich, bis daß Himmel und Erde zergehe, wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe, noch ein Titel vom Gesetz.

(Matth. 5, 17. 18.)

Christus verlangte dieselben Tugenden (nur die Nächstenliebe faßte er stringenter als Feindesliebe) und fügte noch die absolute Keuschheit hinzu. In meinem Hauptwerk habe ich sämmtliche klaren und unzweideutigen Stellen bezüglich der Keuschheit angeführt, mit Ausnahme der folgenden, welche mir entgangen war:

Wahrlich, ich sage euch: Wer nicht das Reich Gottes nimmt als ein Kind, der wird nicht hineinkommen.

(Luc. 18, 17.)

In dieser Stelle ist die Forderung der absoluten Keuschheit, der Virginität, verschleiert, weshalb sie mir auch früher entschlüpft ist. Die Kinder zeigen, wie die Erwachsenen, ganz bestimmte Charaktereigenschaften, Willensqualitäten, gute wie schlechte, und kann deshalb in dieser Hinsicht gar kein Unterschied zwischen Kind und Mann, resp. Weib gemacht werden. Mancher Knabe, manches Mädchen ist boshafter und schlechter als ein Erwachsener. Aber Ein Fundamental- Unterschied besteht zwischen Kindern und Erwachsenen: in jenen schlummert der Geschlechtstrieb, in diesen ist er wach, rast, und der tolle Dämon, oder, wie Goethe ihn nennt, der lose, eigensinnige Knabe Cupido, verstellt alles Geräthe im Hause, treibt aus Bett, Küche und Keller und macht den vorher so friedlichen, so ordnungsvollen Kopf zu einem Narrenhaus mit der heillosesten Unordnung. Und deshalb muß man ein Kind sein, d.h. absolut keusch leben, wenn man den Frieden in der Welt und das Himmelreich im Tode finden soll. Es geht wirklich nicht anders: in das Reich Gottes kann man nur als ein Kind kommen.

Man lese ferner das erste Capitel des Evangeliums Lucae und die Verse 26 und 27 des zweiten Capitels und man wird deutlich sehen, daß der Heilige Geist auch schon vor Christus wirkte.

ii214 Die zweite Form nun ist der Tröster, der Paraklet, d.h. die Summe von Motiven, die der Menschheit allererst durch das Auftreten Christi und seine Lehre gegeben wurde. Der Paraklet ist gleichsam ein Ausschnitt aus der Summe guter Motive oder auch ein Zusatz zu denselben (eben durch die neue Lehre).

Wenn sie euch nun überantworten werden, so sorget nicht, wie oder was ihr reden sollt, denn es soll euch zu der Stunde gegeben werden, was ihr reden sollt.

Denn ihr seid es nicht, die da reden, sondern eures Vaters Geist ist es, der durch euch redet.

(Matth. 10, 19. 20.)

Und ich will den Vater bitten, und er soll euch einen anderen Tröster geben, daß er bei euch bleibe ewiglich: den Geist der Wahrheit.

(Joh. 14, 16. 17.)

Aber der Tröster, der heilige Geist, welchen mein Vater senden wird in meinem Namen, derselbe wird es euch Alles lehren, und euch erinnern alles deß, was ich euch gesagt habe.

(Joh. 14, 26.)

Das sagte er aber von dem Geist, welchen empfangen sollten, die an ihn glaubten; denn der heilige Geist war noch nicht da, denn Jesus war noch nicht verkläret.

(Joh. 7, 39.)

Aber ich sage euch die Wahrheit: es ist euch gut, daß ich hingehe. Denn so ich nicht hingehe, so kommt der Tröster nicht zu euch. So ich aber hingehe, will ich ihn zu euch senden.

(Joh. 16, 17.)

Hieraus erhellt überaus klar, daß die Motive allein gemeint waren, welche Christus überhaupt der Welt gab. Er wußte ganz genau, daß seine Lehre Nichts sei ohne den Opfertod am Marterholze, ohne die Bluttaufe, daß erst durch diesen Abschluß seines reinen Wirkens ein echter Tröster und Ansporner, eine Beschleunigung des Weltlaufs gegeben werde.

Dieser Heilige Geist, d.h. der in der weiteren Form sowohl, als auch der Paraklet, kann natürlich nicht vom Sohne ausgehen, weil er nur Personification der guten Motive ist. Der Geist, der vom Vater und dem Sohne ausgeht, ist lediglich die Bewegung der Welt oder auch die Summe aller Motive, guter und schlechter, weil kein Wesen ohne Motiv handeln, d.h. sich bewegen kann.

ii215 Wir haben demnach im esoterischen Theil des Christenthums:

1) den gestorbenen Gott;

2) den Sohn (die Welt);

3) den Heiligen Geist (die Bewegung der Welt);

a. das göttliche Bewegungsgesetz, den Geist der Wahrheit (vom Vater ausgegangen);

b. die allgemeine Bewegung zum Nichtsein (vom Vater und Sohne ausgegangen).

Ferner haben wir im exoterischen Theil:

4) Gott als lebenden Gott-Vater (halbe Macht – Ormuzd);

5) Gott als allmächtigen Juden-Gott (Jehovah);

6) Gott als hypostasirten Herzensfrieden (das Ursein, resp. das Nichts);

7) Christus als reines Individuum (Gott-Mensch);

8) Heiliger Geist als Summe aller guten Motive vom Anbeginn der Menschheit;

9) Heiliger Geist als Paraklet.

Wir haben also zusammengenommen zehn heilige Gottes-Formen, vier Grundformen und sechs exoterische Variationen, welche alle aus dem Neuen Testament zu belegen sind. Man wird sich also nicht wundern über die ungeheure Menge Papiers, die mit Exegesen und Commentaren zur Christuslehre beschrieben worden ist; man wird sich ferner nicht wundern über die ungeheure christlich- theologische Literatur, welche sich bis auf unsere Tage erhalten hat; man wird sich endlich nicht wundern über die hitzigen Wortkämpfe, die über dem Neuen Testament geführt und über die Ströme Bluts, die wegen desselben vergossen worden sind.

Das aber, worüber nie ernstlich gestritten werden konnte, was aus allem diesem Wust immer strahlender und leuchtender hervorbrach, woran sich das einfache treue Christengemüth stets hielt, stets sich labte und stets sich stärkte – das ist das göttliche Gesetz, der Geist der Wahrheit, die christlichen Tugenden:

Vaterlandsliebe, Gerechtigkeit, Nächstenliebe und Keuschheit.

Nach diesem Gesetz wird die Welt, die ganze Welt, auch das kleinste Sandkorn vom Dasein erlöst werden. Dieses große Gesetz giebt Dem, der es glühend erfaßt hat, das Himmelreich schon in dieser Welt und sichere, bestimmte, über allen Zweifel erhabene Erlösung im Tode; es schenkt diese hohen Güter Jedem, dem König, |

ii216 dem Beamten, dem Soldaten, dem Künstler, dem Gelehrten, dem Kaufmann, dem Handwerker, dem Bauer – aber es muß gesucht und glühend als der kostbarste Schatz in’s Blut aufgenommen werden; sonst bleibt es todter Buchstabe und wirkt mechanisch, nicht organisch.

Wir haben jetzt noch in dem exoterischen Christenthum eine kleine Nachlese zu halten.

Wir hatten bereits Gelegenheit, den praktischen Sinn des Heilands darin zu bewundern, daß er nicht mit dem Kopf durch die Wand wollte, sondern Vorhandenes, so gut es gehen mochte, seiner tiefen Lehre anbequemte. Er hatte einen sehr feinen Kopf; und ferner sehr viel Menschenkenntniß, weil er über den Menschen stand, weil er


Date: 2015-01-02; view: 748


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