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Analytik des Erkenntnißvermögens. 37 page

Dieser ganz und gar transscendenten Objektivation entspricht nun auch die Gattung bei Schopenhauer. Er spricht von einem Leben der Gattung, von unendlicher Dauer der Gattung, im Gegensatz zur Vergänglichkeit des Einzelwesens, vom Dienstverhältniß, in dem das Individuum zur Gattung steht, von Gattungskraft u.s.w. Er sagt:

Nicht das Individuum, sondern die Gattung allein ist es, woran der Natur gelegen ist.

(W. a. W. u. V. I. 325.)

Wir finden, daß die Natur, von der Stufe des organischen Lebens an, nur eine Absicht hat: die der Erhaltung aller Gattungen.

(ib. II. 401.)

Die Gattung, von der hier die Rede ist, ist also ebenso transscendent, wie die mit ihr identische Objektivation des Einen Willens auf organischem Gebiete. Was von dieser gilt, gilt auch von ihr, |

i482 und ich könnte deshalb das Thema fallen lassen, um es erst wieder in der Ethik aufzunehmen, wo die Gattung in einem besonderen Lichte erscheint. Indessen, der Begriff Gattung hat vor dem Begriff Objektivation den Vorzug, daß er ein sehr bekannter ist und von Jedem stets etwas sehr Einfaches darunter gedacht wird. Dieses Einfache durfte auch Schopenhauer nicht ignoriren und so sehen wir ihn denn, wider Willen, der Wahrheit die Ehre geben in den folgenden zwei ersten Stellen und im Schluß der dritten:

Die Völker sind eigentlich (!) bloße Abstraktionen, die Individuen allein existiren wirklich.

(W. a. W. u. V. II. 676.)

Die Völker existiren bloß in abstracto: die Einzelnen sind das Reale.

(Parerga I. 219.)

Demzufolge liegt das Wesen an sich jedes Lebenden zunächst in seiner Gattung; diese hat jedoch ihr Dasein wieder nur in den Individuen.

(W. a. W. u. V. II. 582.)

Letztere Stelle, im Ganzen, ist dagegen geradezu erbärmlich und schändet den Geist Schopenhauer’s. Wie gewaltsam wird in ihr die existentia von der essentia getrennt. Sie ist übrigens ein beredtes Beispiel der Weise, wie sich Schopenhauer etwas zurecht zu legen verstand, was er haben mußte. – Die Wahrheit ist, daß die Gattung nichts weiter ist, als ein ganz gewöhnlicher Begriff, der vieles gleichartige oder ähnliche Reale zusammenfaßt. Wie alle Stecknadeln unter den Begriff Stecknadel fallen, so fallen alle Tiger unter den Begriff Tiger. Von der Gattung in einem anderen Sinne sprechen wollen, ist durchaus verkehrt.

Hören heute sämmtliche Tiger auf zu sein, so ist auch die Gattung Tiger hin, und der sich etwa erhaltende Begriff (wie beim Vogel Dudu) kann durch kein reales Anschauliches belegt werden. Das Einzelwesen hat sein Dasein und sein Wesen nicht von einer erträumten metaphysischen Gattung zu Lehn. Es giebt nur Individuen in der Welt und jede Mücke eines Mückenschwarms hat volle und ganze Realität.

Ich schlage also vor, daß man in der Wissenschaft nicht länger von einem Leben der Gattung, Unendlichkeit der Gattung etc. spreche, sondern sich der Gattung nur als Begriffs, ohne irgend welchen Hintergedanken, bediene.



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i483 Mit allen diesen Irrthümern steht im engsten Connex die falsche Behauptung Schopenhauer’s: alle Ursachen seien Gelegenheitsursachen. Wir erinnern uns, wie gewaltsam er in der Erkenntnißtheorie zwischen die Kraft und die Wirkung die Ursache einschieben mußte, weil den Erscheinungen, als solchen, keine Realität zukommt. Dieser Fehler im Fundament erstreckt sich nun auch in die Welt als Wille.

Malebranche hatte gelehrt, daß Gott das allein Wirkende in den Dingen ist, so daß die physischen Ursachen es bloß scheinbar, causes occasionelles, seien. Dasselbe lehrte Schopenhauer, nur setzte er an die Stelle Gottes den Einen untheilbaren Willen. Natürlich mußte er die merkwürdige Uebereinstimmung hervorheben und W. a. W. u. V. I. 163/164 kann er nicht genug Worte des Lobes für Malebranche finden.

Ja, ich muß es bewundern, wie Malebranche, gänzlich befangen in den positiven Dogmen, welche ihm sein Zeitalter unwiderstehlich aufzwang, dennoch, in solchen Banden, unter solcher Last, so glücklich, so richtig die Wahrheit traf und sie mit eben jenen Dogmen, wenigstens mit der Sprache derselben, zu vereinigen wußte.

Allerdings hat Malebranche Recht: jede natürliche Ursache giebt nur Gelegenheit, Anlaß zur Erscheinung jenes einen und untheilbaren Willens.

Diese Erscheinung des Einen Willens erinnert lebhaft an die Erscheinung Jehovah’s auf dem Berge Sinai und im feurigen Dornbusch.

Und nun lese man das wahrhaft haarsträubende Beispiel W. a. W. u. V. I. 160/161. Man glaubt zu träumen. Die einfachen Wirkungen, welche aus der Natur des Eisens, des Kupfers, des Zinks, des Sauerstoffs u.s.w., dieser unorganischen Individuen von einem ganz bestimmten Charakter und mit wechselnden Zuständen, fließen, werden zu Erscheinungen der Schwere, der Undurchdringlichkeit, des Galvanismus, des Chemismus u.s.w., welche Kräfte allesammt hinter der Welt liegen und sich der Einen Materie abwechselnd bemächtigen sollen, gewaltsam gemacht.

i484 Wie wir oben gesehen haben, theilte Schopenhauer die Ursachen in: Ursachen im engsten Sinne, Reize und Motive. Sie sind sämmtlich wirkende Ursachen, aber als solche nur Gelegenheitsursachen. Nebenher laufen dann noch die Endursachen, welche er, obgleich er die Teleologie, wie Kant, verwirft, dennoch erklärt:

als Motive, welche auf ein Wesen wirken, von welchem sie nicht erkannt werden.

(W. a. W. u. V. II. 379.)

Die wirkende Ursache (causa efficiens) ist die, wodurch Etwas ist, die Endursache (causa finalis) die, weshalb es ist.

(ib. 378.)

In der That können wir eine Endursache uns nicht anders deutlich denken, denn als einen beabsichtigten Zweck, d.i. ein Motiv.

(379.)

Hiergegen lege ich Verwahrung ein. Nur der Mensch kann nach Endursachen, die Kant sehr hübsch ideale Ursachen genannt hat, handeln, und diese sind, im Grunde genommen, wieder nur wirkende Ursachen, kurz, in der Welt giebt es nur wirkende Ursachen. Jede Bewegung ist nur eine Folge einer vorhergegangenen Bewegung und sämmtliche Bewegungen sind somit auf eine erste Bewegung, die wir nicht zu begreifen im Stande sind (Zerfall der Einheit in Individuen, erster Impuls) zurückzuführen. Als regulatives Princip, wie Kant vortrefflich sagte, ist die Teleologie von großem Nutzen; aber man darf sich dieses Princips nur mit äußerster Behutsamkeit bedienen.

Es giebt – ich wiederhole es – nur wirkende Ursachen in der Welt und zwar wirkt Ding an sich direkt auf Ding an sich.

Den Begriff Gelegenheitsursache lasse ich nur für Das gelten, was man im gewöhnlichen Leben unschuldige Ursache nennt.

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Ich habe ferner zu rügen, daß Schopenhauer nicht die Willensqualitäten (Charaktereigenschaften, Charakterzüge) von den Zuständen des Willens sonderte. Wie Spinoza (Ethices pars III) warf er beides kunterbunt durcheinander. Zorn, Furcht, Haß, Liebe, Trauer, Freude, Schadenfreude u.s.w. stehen neben Grausamkeit, Neid, Hartherzigkeit, Ungerechtigkeit u.s.w.

Diese Unterlassungssünde hatte üble Folgen, die namentlich in der Aesthetik, bei Behandlung der Musik, hervortraten; denn |

i485 die Musik beruht lediglich auf den Zuständen des menschlichen Willens.

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Schopenhauer’s Eintheilung der Natur ist, wie ich gezeigt habe, durch und durch fehlerhaft, weil er den Erscheinungen keine Realität zusprechen durfte. Die Erscheinungen sind ausgedehnt, entstehen, vergehen, bewegen sich, wirken auf einander, ganz so, wie die Beobachtung es täglich lehrt, – aber sie sind nur das Produkt des Subjekts, aus eigenen Mitteln, mit Hülfe seiner zwei Zauber-Linsen Raum und Zeit. Hinter den Erscheinungen thront, in ewiger Ruhe, der Eine und untheilbare Wille, welcher ein bewegungsloser Punkt ist, aber dennoch, auf völlig unbegreifliche Weise, das in der Welt Wirkende, sich in ihr Manifestirende sein soll!

Wie mußten den großen Mann diese selbstgeschmiedeten Ketten beengen und drücken. Kein Wunder, daß sein Geist sie oft abschüttelte, um frei athmen zu können. Aber welchen Anblick bietet uns dann Schopenhauer! Vergessen ist die Idealität des Raumes und der Zeit, vergessen ist, daß das Individuum und die Objektivation den Einen Willen nicht treffen, vergessen ist, daß die Ursachen nur Gelegenheitsursachen sind, vergessen ist die Kritik der reinen Vernunft und die Welt als Vorstellung: er nimmt die Erscheinungen einfach für Dinge an sich, ausgebreitet im realen Raume und in der realen Zeit.

Am auffälligsten tritt dieses Verfahren in den Abschnitten: Zur Philosophie und Wissenschaft der Natur (Parerga II. 109-189) und Vergleichende Anatomie (Wille in der Natur) hervor. Im ersteren beginnt Schopenhauer mit dem leuchtenden Urnebel der Laplace’schen Kosmogonie und endigt mit der heutigen Welt. Es wird ausführlich dargethan, wie der Wille zum Leben sich »allmählich«, »nach und nach«, »nach angemessenen Pausen« objektivirte, eine Stufe nach der anderen aus sich hervorbrachte, bis der Mensch die große Kette der gewaltigen Revolutionen abschloß und auf die Bühne trat. Hie und da regt sich zwar sein Gewissen und es wird nebenbei bemerkt, im Grunde genommen sei die ganze Ausführung nur Spaß, es sei ja kein erkennendes Subjekt dagewesen, um die Vorgänge wahrzunehmen, – die Wahrheit jedoch behält den Sieg und der idealistische Philosoph muß zugeben:

i486 daß alle geschilderten physischen, kosmogonischen, chemischen und geologischen Vorgänge, da sie nothwendig, als Bedingungen, dem Eintritt eines Bewußtseins lange vorher gehen mußten, auch vor diesem Eintritt, also außerhalb eines Bewußtseins, existirten.

(Seite 150.)

Aber wie beredt ist dieser Kampf des Kant’schen Idealisten mit der realen Entwicklung. Wie erbarmenerregend windet sich der große Mann, um die reale Entwicklung, die er zugestehen muß, mit der idealen Zeit, an die er sich mit Recht klammert, in Einklang zu bringen. Aber es ging nicht, weil er glaubte, daß die Zeit eine reine unendliche Anschauung a priori sei.

Der andere Abschnitt ist noch interessanter, weil Schopenhauer darin die großartige Descendenztheorie de Lamarck’s angreift, aus welcher bekanntlich der Darwinismus hervorgegangen ist.

Natürlich findet sie keine Gnade vor seinen Augen. Er belächelt mitleidig die Annahme de Lamarck’s, daß die Arten allmählich, im Laufe der Zeit und durch die fortgesetzte Generation entstanden seien und legt den »genialen, absurden Irrthum« dem zurückgebliebenen Zustand der Metaphysik in Frankreich zur Last:

Daher konnte de Lamarck seine Konstruktion der Wesen nicht anders denken, als in der Zeit, durch Succession.

(S. 42.)

Man würde übrigens auch hier irren, wenn man glaubte, Schopenhauer sei bei seiner Ansicht stehen geblieben. Schon oben haben wir gesehen, daß er die reale Entwicklung anerkennen mußte. S. 163 des betreffenden Abschnitts beschäftigt er sich nun ganz ernstlich mit einer Entstehung der Arten durch reale Succession.

Ihre Entstehung (nämlich der Arten der höheren Thiere) kann nur gedacht werden als generatio in utero heterogeneo, folglich so, daß aus dem Uterus, oder vielmehr dem Ei, eines besonders begünstigten thierischen Paares, nachdem die durch irgend etwas gehemmte Lebenskraft seiner Species gerade in ihm sich angehäuft und abnorm erhöht hatte, nunmehr ein Mal, zur glücklichen Stunde, beim rechten Stande der Planeten und dem Zusammentreffen aller günstigen atmosphärischen, tellurischen und astralischen Einflüsse, ausnahmsweise nicht mehr seines Gleichen, sondern die ihm zunächst verwandte, jedoch eine Stufe höher stehende Gestalt |

i487 hervorgegangen wäre; so daß dieses Paar, dieses Mal, nicht ein bloßes Individuum, sondern eine Species erzeugt hätte.

Die entgegengesetztesten Ansichten liegen, wie Lämmer auf der Weide, friedlich neben einander in den Werken Schopenhauer’s: oft trennt sie nur ein Raum von wenigen Seiten.

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Die in der Erkenntnißtheorie verleugnete reale Bewegung und die verworfene Individualität traten, wie beleidigte Geister, von denen unsere Märchen erzählen, in Schopenhauer’s Welt als Wille und machten die geniale, unsterbliche Conception, daß Alles, was Leben hat, Wille sei, in der Ausführung zu einer Karikatur und Fratze. Vergebens suchte Schopenhauer die Geister zu beschwören: das Zauberwort, daß der Raum ein Punkt, die Zeit eine Verbindung a posteriori der Vernunft sei, war ihm versagt.

Und weiter zogen die unversöhnten Geister, um seine Aesthetik und seine Ethik zu vergiften.

 

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Date: 2014-12-29; view: 473


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