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V. Stilistisch differenzierter Wortbestand. Theoretische Grundsätze.

1. Hier handelt es sich um die Wiedergabe unterschiedlicher Kolorite

durch die stilistische Leistung verschiedener Ausdrücke. Unter Kolorit ist die für konkrete Ereignisse, Sachverhalte und Situationen charakteristische Atmosphäre zu verstehen, die dank der sprachlichen Eigenart ihrer Wiedergabe fühlbar wird.

 

2. Individualisierende Kolorite charakterisieren die Einzelmenschen

nach ihrer persönlichen Eigenart im ganzen, aber vor allem nach ihrer Sprechweise (Sprachporträt):

Was mich von Anfang an so unangenehm berührte, war die Gegenwart eines Mannes, den der Aufsichtsführende der Seilbahn, der unsere Billetts prüfte, mit in unsere Gondel wies. Der Mann mochte Ende zwanzig sein, er trug einen Bart nach Art der Beatniks, sein Bart war aber nicht dicht, vielmehr bestand er aus einzelnen, deutlich geringelten Haaren, die ihm aus Kinn und Wangen und Hals wuchsen, während das Haar auf dem Kopf noch spärlicher spross, so dass der Mann aussah wie eine Kokosnuss mit beginnender Glatze.

Zudem befleißigte er sich eines angeekelten Gesichtsausdrucks, den er vorwies wie ein Schild, auf dem in unordentlichen Buchstaben zu lesen stand: ICH HAB DIE NASE VOLL VON DER WELT!

Der Mann, der einen neuen, wie man sah, erstklassigen Trevira-Freizeitanzug, darunter aber ein verschmutztes weißes Hemd trug, saß, während unsere Gondel Höhe gewann, missmutig auf der Bank gegenüber, meine Tochter und mich so offensichtlich ignorierend, dass man genau merkte, wie unangenehm auch wir ihm waren. … … , und da sagte der verkniffene Beatnik plötzlich:

„Sie sind vielleicht ein Scheißkerl!“

Dabei starrte er auf meinen Ehering. … … … In meiner Verlegenheit streckte ich die rechte Hand vor, ließ den Ring in der Sonne blitzen und fragte:

„Passt Ihnen daran was nicht?“

Er blies sich vor Wut auf wie ein Luftballon. Mir schien, alle seine einsamen Barthaare sträubten sich.

„Sie widern mich an, schon wenn man Sie in Ihrem Vaterglück so sitzen sieht, kommt einem das Essen von der Konfirmation hoch.“

(Gerhard Zwerenz. Die Seilbahn.)

 

3. Das nationale Kolorit betrifft die Unterscheidungsmerkmale der

nationalen Varianten innerhalb einer Sprache, Realienbezeichnungen u.Ä.:

 

 

Deutsch Betonung Kaffee Tabak Mathematik Geschlechtsunterschiede das Polster die Petersilie die Ecke   Wortbildung das Mädchen die Würstchen die Aufnahmeprüfung röntgen   Perfekt Ich habe gestanden.   Wortschatz der Junge die Apfelsine der Sonnabend dieses Jahr fegen das Abitur die Sahne die Mücke Österreichisch   Betonung Kaffee Tabak Mathematik   Geschlechtsunterschiede der Polster der Petersil das Eck   Wortbildung das Mädel die Würsteln die Aufnahmsprüfung röntgenisieren Perfekt Ich bin gestanden.   Wortschatz der Bub die Orange der Samstag heuer kehren die Matura das Obers die Gelse

- Wir laufen mindestens zwei Stunden durch die Altstadt und am Neckar entlang, bis sie eine Pause braucht. Im Gartencafe treffen wir auf unsere Studenten, die dort mit ihren Freunden beim Espresso sitzen.



„Wir haben gerade beschlossen“, sagt Moritz, „dass wir Sie zur Abwechslung heute abend einladen, Rikki kennt ein uriges Lokal.“

„Dort ist es aber ziemlich laut“, sagt Ricarda, „wenn Sie das nicht stört?“

„Wird gesungen?“ fragt Anneliese.

„Also Gaudeamus igitur und andere olle Kamellen gibt es dort nicht“, sagt Moritz, „dafür aber echte Gaisburger Marsch, Käseplätzle, Maultaschensuppe und andere regionale Schmankerln.“ (I. Noll. Ladylike.)

 

 

Das soziale Kolorit kommt in der Rede bestimmter Bevölkerungsgruppen und Altersstufen vor. Dazu gehören z.B. soziale Jargonismen (heiße Ware = gestohlene Ware; Traumzigarette = eine Zigarette mit Rauschgift)

Berufliches Koloritverleihen Fachwörter / Berufslexik, Termini, und sogenannte Berufsjargonismen:

 

Emil, der Metzgermeister, kommt zum Arzt. Der will wissen:“Wo sitzt denn der Schmerz in der Haupsache?“ Emil ächzt:“Ach, Herr Doktor, meistens so zwischen Keule (êîñòðåö <÷àñòü òóøè>) und Koteletts (êîðåéêà <÷àñòü òóøè>) , manchmal zieht er sich sogar bis zum Kamm (øåéíàÿ ÷àñòü òóøè) hin.“

 

 

Fremdsprachige Wörter und besonders fremdsprachige Zitate können zur Untermalung des nationalen Kolorits dienen, sie können aber auch das soziale Kolorit einer bestimmten Zeit angeben:

 

Die Städte wirbelten auf in der Nacht, Bangkok, London, Rio, Cannes, dann wieder Genf unvermeidlich, Paris auch unvermeidlich. Nur San Francisco, das bedauerte sie lebhaft, no, never, und gerade das hatte sie sich immer gewünscht, after all those dreadful places there, und immer nur Washington, grauenhaft, ja, er auch, er hatte es auch grauenhaft gefunden und er könnte dort nicht, nein sie auch nicht, dann schwiegen sie, ausgelaugt, und nach einer Weile stöhnte sie ein wenig, please, would you mind, je suis terriblement fatiguee, mais quand-meme, c´est drole, n´est-ce pas, d´etre parti ensemble, tu trouves pas? I was flabbergasted when Mr. Keen asked me, no, of course nit, I just call him Mr. Keen, denn er schien immerzu keen auf etwas zu sein, auch auf sie während der Party im Hilton, but let´s talk about something more pleasant, I utterly disliked him. (Ingeborg Bachmann. Simultan.)

 

Realienbezeichnugen / Realienwörter (Familiennamen, Städte-, Länder-, Fluß- und Bergnamen) sind ein Beweis dafür, dass ein Lexem an sich völlig neutral und jeder Emotionalität bar sein kann, im Großzusammenhang aber dennoch eine bestimmte stilistische Aufgabe erfüllt:

 

Der Platz lag am Rande der großen Salzwüste, 50 Meilen von der nächsten Bahnstation entfernt, und er war unzugänglich wie ein ägyptischer Tempel. Seine Hallen und Türme aus Glas und weißem Beton lagen blendend und schweigend unter greller Wüstensonne, und seine endlos scheinenden Startbahnen griffen wie überdimensionale Glieder weit in die Verlorenheit des salzgrauen Himmels hinein.

Adams hatte seine Karte, die ihn als Eingeweihten auswies, genau ein dutzendmal vorgezeigt, als er sich endlich bis zum Gebäude der North American durchgefahren hatte. Er ließ sich bei Mr. Nickels als der neue Versuchsflieger für die F 104 melden, und schon nach wenigen Minuten waren die wichtigsten Formalitäten so weit erledigt, dass Mr. Nickels fragen konnte:

„Und wie gefällt Ihnen unser neuer Platz, Mr. Adams?“

Fünftausend Fuß zu hoch!“ sagte Adams. „Ihr Platz ist ein unverantwortlicher Luxus. Sie benötigen dopplet so lange Startbahnen wie in Meereshöhe.“ (Rudolf Braunburg. Testpilot.)

 

 

Aufgabe 8. Welche Sprachmittel schaffen jeweils in folgenden Textauszügen ein entsprechendes Kolorit? Erläutern Sie das.

 

a) … Mit der Arbeit in der Schischule verlor er sein geregeltes Einkommen und war bald abhängig, der Gutmütigkeit oder schlauen Berechnung von irgendwem ausgeliefert […]. Er änderte die alten Gewohnheiten nicht, ging Tag um Tag die üblichen Runden, allein daß er vorher Mutter aufsuchte, erinnert euch, die ihm das abgezählte Geld für ein Glas Wein gab, Schilling für Schilling; oder bisweilen mich.Vom Bruder habe er nie einen Groschen gesehen, nicht einmal früher den Lohn für die Arbeit im Gasthaus. Es schien ihm nichts auszumachen, aber was wussten sie schon? …

… Eine Saison um die andere sah er zu, wie sie ihm ein Leben vorgaukelten, das Lust- und Trauerspiel ihres angeblichen Alltags, und er stand da, ein Zuschauer, der alles für die Wirklichkeit halten sollte und „schön“ rufen oder „doll“ und aufgeregt in die Hände klatschen. Wenn sie ihn brauchten, wurde er hervorgeholt und durfte mit auf die Bühne, als Schilehrer, Jodler, Tellerwäscher oder was ihnen einfiel, Alpenrose, vielleicht Gamsjäger, und das war schon alles. Einmal erzählte er von seiner Zeit in der Stadt, aufs Gymnasium sei er gegangen, ein paar Monate, und sie sagten, dass es nichts für ihn gewesen sein konnte; oder bist du durchgefallen? Und selbst mit Abschluss, eine Matura wäre nie ein Abitur, wäre nur etwas Österreichisches. (Norbert Gstrein. Einer. Erzählung.)

 

b) Da er Ludmila mit besonderer Freundlichkeit willkommen hieß, sagte ich: Die Dame kommt von weither, aus Tomsk. Tomsk, wiederholte Piet, Tomsk – das liegt doch in Sibirien, oder? Mein Großvater war da – nicht freiwillig. Flüsse und Sümpfe und Wälder, Wälder. Er hat geholfen, die Wälder zu lichten. Aber im Süden es gibt auch schöne Gebirge, sagte Ludmila, Altai. Mein Großvater sagte immer: In Sibirien ist alles schön – aus der Ferne, entgegnete Piet und wandte sich dem Küchenfenster zu, um unsere Bestellung weiterzugeben.

Ludmila protestierte nicht, ihre Vorfahren waren freiwillig nach Sibirien gegangen; vor mehr als zweihundert Jahren – so erzählte sie – waren sie dem Ruf eines Zaren gefolgt, um das gewaltige Land zu besiedeln und zu erschließen, um Schulen und Polytechnikum zu gründen und schlafende Reichtümer aus der Erde zu bergen. Sie sagte: Schöner ein Land kann nicht sein; die Berge, die großen Flüsse und in den Wäldern die Tiere, viele Pelztiere. Und doch seid ihr zurückgekommen, sagte ich, nach all der Zeit seid ihr zurückgekommen. Die Nachbarn, sagte Ludmila, sie wollen uns heute nicht. Sie wollen nicht, dass wir deutsch sprechen, dass wir deutsch leben. Als wir ganz für uns sein wollten, haben sie gedroht, die deutsche Siedlung zu verbrennen. Vielleicht haben wir uns ausgelebt in Sibirien; Vater hat es gesagt, er hat die Ausreise beantragt. Aber unsere Sibirjaken-Freunde haben geweint. (Siegfried Lenz. Ludmila.)

 

c) Vor der Bar blieb sie stehen, er wartete auf sie, sah sie aber nicht kommen und bemerkte ihre Anwesenheit nicht, denn er schaute mit anderen Gästen und dem Jungen von der Bar zum Fernsehapparat in der Ecke. Fahrräder, erst einige, fuhren über den Schirm, dann nur noch eines, ein über die Lenkstange gekrümmter Radler war zu sehen, dann ein Straßenrand mit einer Menschenmenge. Der Sprecher redete in höchster Erregung, er versprach sich, korrigierte sich, stolperte wieder über ein Wort, es galt noch drei Kilometer, er redete immer schneller, als hätte er die Pedale zu treten, als wäre er nicht mehr imstande, durchzuhalten, als wäre es sein Herz, das aussetzen konnte, jetzt schweißte seine Zunge, sie fragte sich, wie lang kann das wohl dauern, zwei Kilometer, und den Jungen von der Bar, der in Trance auf den Apparat starrte, fragte sie freundlich: chi vince? der Junge gab keine Antwort …. , bis dieses chaotische Geschrei überging in ganz deutliche Stakkatorufe: A dor ni A dor ni. …. …

Der Junge von der Bar erwachte, sah sie blöde an und stotterte, commandi, Signora, cosa desidera?

Niente. Grazie. Niente. … (Ingeborg Bachmann. Simultan.)

 

d) „Er wird mich noch kennen lernen, dieser treulose Hund!“ droht Anneliese rachsüchtig.

Nahe bei uns sitzt eine gestandene Mutter von drei Kindern und hört aufmerksam zu.

„Richtich! Wenn der haamkimmt, kann er was erlewe!“ pflichtet sie Anneliese bei. „Mein aaler Saufkobb kam wider emol stechgranadevoll angekroche un het gedenkt, des mächt nichts. Soll er doch irchendwo annerster schlofe, han ich gsagt, un ihn rausgeschmisse! Un sein Schnaps hab ich zur Straf gleich selwer ausgetrunke!“

Ich wechsle einen Blick mit Anneliese, die aber völlig ungerührt antwortet: „Saache Se mal, mei liebi Fraa, have Se do die Gleischbereschtigung net iwerdriwe?“ (I. Noll. Ladylike.)

 

e) Liebe Kathy,

stell dir vor, jetzt bin ich im Jodelland gelandet, wo dicke blonde Männer mit roten Backen tatsächlich am hellichten Tag Lederhosen tragen, Frauen im Dirndl auf dem Fahrrad herunsausen, Kühe auf der Straße herumrennen wie andernorts Hunde und die Fliegen direkt von der Scheiße auf deinem Kuchen landen. … (D.Dörrie. Trinidad )

 

 

Historismen und lexische Archaismen. Theoretische Grundsätze.

 

1. Historismen und lexische Archaismen prägen das Zeitkolorit: Realien der Vergangenheit (Benennung von Ämtern und Würden, von heute vergessenen Gegenständen, von Modeerscheinungen vergangener Zeiten). Zugleich können sie auch das soziale Kolorit prägen. Die Archaisierung in der deutschen Sprache der Gegenwart ist keineswegs auf den lexikalischen Bereich beschränkt, obwohl sie dort vielleicht am meisten auffällt. Sie kann uns vielmehr auf allen Strukturebenen, vom Laut bis zum Text, begegnen. Archaisierend wirken, z.B.:

- das Dativ-e im Singular: Vgl.: Ich brauche deinen Rat. – Wir müssen einen Fachmann zu Rate ziehen. * Jesu Tod am Kreuzzu Kreuze kriechen * beim Imperativ: Schreib mir bald! – Schreibe mir bald!

- in der Wortbildung konkurrierende Modelle die Finstere / die Finsternis * die Schöne / die Schönheit

- in der Syntax: sich seines Glückesfreuen – sich über sein Glück freuen * Des Wartens nahm kein Ende.– Das Warten nahm kein Ende; Akademie zu / in Berlin; um /für eine Mark verkaufen; Durchbrechung der Rahmenkonstruktionen und bestimmter Wortfolge: Röslein rot * und lebten sie lange zusammen.

- Heute veraltetes und seltenes Wortgut hat sich oft als Komponenten in phraseologischen Wortgruppen erhalten. Diese Lexeme kommen frei nicht mehr vor, und ihr Überleben dank der phraseologischen Gebundenheit ist ein Zeichen für dessen stabilisierenden Effekt: etwas auf dem Kerbholz haben (èìåòü ÷òî-ë. íà ñîâåñòè), Maulaffen feilhalten (ãëàçåòü, ðîòîçåéíè÷àòü), einen Drehwurm haben (ñïÿòèòü).

 

2. Archaisierende grammatische und lexikalische Mittel kann man als stilistisch-pragmatische Mittel bezeichnen. Dazu gehören u.a.

 

- die Wahl bestimmter Anreden: (Kellner- und Bedienstetendeutsch) Der Herr wünschen? Wollen der Herr unten speisen?

 

- Methaphorisierung und Verwendung einer Bildlichkeit, die eher der „guten“ alten Zeit entspricht: Benzinkutsche; für jemanden eine Lanze brechen;

 

- Verwendung altdeutscher Namen: Otfried, Notker, Hadumod, Dietmute, Siegtraut;

 

- die Nutzung historischer Requisiten (z.B. Kleidung, Geräte, Brauchtum, Institutionen) kann auch für ein altertümliches oder wenigstens altertümelndes Kolorit sorgen.

 

3. Prinzipiell ist die Nutzung archaisierender Sprachmittel in jedem Kontext denkbar. In bestimmten kommunikativen Zusammenhängen kommt sie aber häufiger vor und erfüllt bestimmte Aufgaben im Interesse bestimmter stilistischer Wirkungen. Infolge der seit dem Humanismus entstandenen Germanenbegeisterung und der (allmählichen) Wiederentdeckung der altdeutschen Literatur kommt es besonders im 18. Jahrhundert zur Wiederbelebung des altdeutschen Sprachguts. Mit der historischen Literatur des 19. Jahrhunderts wird jedoch ein Höhepunkt erreicht, der heute kaum noch überschritten werden kann.

 

4. Neben der literarischen Archaisierung springt uns ins Auge vor allem der altertümliche Sprachgebrauch mancher religiöser oder juristischer Texte. Zur Archaisierung tendiert auch der wissenschaftliche Sprachgebrauch ( die starke Nutzung von Phraseologismen der alten lateinischen Wissenschaftssprache: per definitionem, post festum, medias in res u. a.m.; die Nutzung von bestimmten altertümlichen Signalwörtern geschweige denn, weiland, zuweilen, indes u. a.m.).

Bewahrung alter Sprachmittel und archaisierender Sprachgebrauch findet sich auch bei den Mundarten und bei den Spezialsprachen.

 

5. In alltäglicher Verwendung sind Archaismen keineswegs selten. Die aktive wie passive Verfügung über entsprechende Sprachtechniken variieren nach dem Grad von Ausbildung, Belesenheit, Sprachfertigkeit. Doch ist z.B. die zitathafte, scherzhafte oder ironisch-kritische Verwendung archaisierender Ausdrücke relativ häufig: Haben der Herr gut gespiesen? Hat es gemundet? Hat´s Euch nicht geschmacket? Wie ist dero Wohlbefinden? (D. Cherubim. Sprach-Fossilien. In DS/1996)

Zu stilistischen Zwecken können Historismen und Archaismen in unterschiedlichen kommunikativen Bereichen gebraucht werden. Im Stil der Alltagsrede sind gelegentlich Historismen und Archaismen als harmlose Parodisierung altertümlicher Ausdrucksweise anzutreffen (du holdes Mägdlein!).

 

6. Auch die Waren- und Dienstleistungswerbung ist daran beteiligt. So wird etwa in der heutigen Werbung für höherwertige Alkoholika immer wieder der Rückgriff auf die „gute alte Zeit“ praktiziert. (D. Cherubim, S. 545 – 547 Bilder!)

 

7. Die Wörter können aus der neutralen Literatursprache abgehen, aber in einzelnen sozialen oder territorialen Dialekten sowie in der volkstümlichen Umgangssprache als gängige Lexeme bleiben. So kann man z.B. weitab von größeren Siedlungen oder Städten die Anrede Herr Nachbar oder Base für Cousine hören. Am längsten halten sich veraltende und veraltete Ausdrücke im offiziellen Verkehr (z.B. weiland = verstorben, ehemals).

VII. Neologismen. Theoretische Grundsätze.

1. Neue Wörter, die im gesellschaftlichen Sprachgebrauch auftauchen,

können verschiedene Schicksale haben. So unterscheiden wir Neologismen bestimmter Zeitabschnitte, vorübergehende Neologismen, okkasionelle Neologismen, Modewörter (fantastisch, Klasse, kolossal).

 

2. Jede sprachliche und somit auch jede lexikalische Neuerung entspringt zunächst immer einem individuell-subjektiven Akt. Den meisten Produkten des individuellen schöpferischen Uraktes ist eine weitere Existenz nicht vergönnt. Dies ist das „Schicksal“ der Okkasionalismen, weil sie im Kommunikationsprozess offenbar nicht weiter gebraucht werden. Der Prozess der Durchsetzung und Akzeptierung der lexikalischen Neuerung durch die Sprachgemeinschaft kann zeitlich sehr kurz oder aber sehr lang sein und allerdings plötzlich auch wieder ins Nichts führen.

 

3. Als motivierend für das Aufkommen lexikalischer Neuerungen und für

den Durchsetzungsprozess des Neologismus sind bestimmte außersprachliche Faktoren (historisch-)zeitbedingter, sozialer, ökonomischer, technischer, kultureller oder vor allem auch kommunikativer Natur. Es geht hier also um das Verhältnis zwischen Sprache und außersprachlicher Realität.

 

4. Für das Aufkommen von Neologismen sind wichtig drei Prozesse:

die Wortbildung, die Phraseologiebildung und die Entlehnung. Dabei muss auch der metaphorischen und metonymischen Bedeutungsbildung eine besonders wichtige Rolle zugemessen werden. Als weitere Arten der Bedeutungsbildung müssen Bedeutungserweiterung und Bedeutungsverengung sowie die Pejoration genannt werden.

5. Der Prozess der Durchsetzung einer lexikalischen Neuerung ist der Weg vom Okkasionalismus zum Neologismus, sofern er anhand von Belegen verfolgt und beschrieben werden kann. Typische Merkmale der Durchsetzungsphase eines Neologismus sind häufig Gebrauchsmarkierungen wie Anführungsstriche oder Kursivsetzung. Mit der Aufnahme ins Wörterbuch, mit seiner Lexikalisierung ist der Prozess der Entwicklung eines Neologismus abgeschlossen. Der ins allgemeinsprachliche Wörterbuch integrierte Neologismus ist im Grunde genommen keiner mehr, er wird allenfalls noch kurzfristig als solcher empfunden.

Beispiele:

- Einwortlexeme / feste Wortgruppen mit Lexemcharakter, die im deutschen Wortschatz bis zu einem mehr oder weniger bestimmten Zeitpunkt nicht vorhanden waren (Neubildungen und Neuphraseologismen):

die AmpelkoalitionPol eine Koalition zwischen SPD, FDP und Grünen

das Handy – ein drahtloses Telefon

die Ostalgie – Sehnsucht nach der DDR-Vergangenheit

Mauer in den Köpfen – Obwohl die Mauer in Berlin gefallen ist, bleibt die alte Mentalität „Ost-West“ in den Köpfen

der / die Auszubildende (Neologismus der 80-er Jahre) – Admin ein Jugendlicher / eine Jugendliche, der / die in einem Betrieb oder einer Behörde einen Beruf erlernt (= Azubi, Lehrling)

 

- Neubedeutungen (zu den vorhandenen Semen ist ein neues Semem hinzugekommen):

die Maus – 1. ein kleines Nagetier mit langem Schwanz 2. ein kleines technisches Gerät, mit dem man einen Pfeil auf dem Bildschirm eines Computers steuern kann3. gespr. besonders von Männern verwendet als Bezeichnung für ein kleines Mädchen oder eine junge Frau (eine süße Maus) 4. nur Pl, gespr. = Geld 5. weiße Mäuse gespr. hum; Polizisten auf Motorrädern, die mst hohe Gäste begleiten 6. eine graue Maus gespr. eine Frau, die unauffällig und mst nicht sehr attraktiv ist.

 

surfen – 1. auf einem (Surf)Brett stehend über einen See oder das Meer segeln (=windsurfen) 2. auf einem (Surf)Brett stehend über Wellen reiten 3. ohne bestimmtes Ziel Informationen im Internet abrufen

Aufgabe 9. Welche archaisierenden Sprachmittel kommen in folgenden Textauszügen vor und welchen stilistischen Wert haben sie? Welche Sprachmittel gelten als Okkasionalismen? Welchen stilistischen Wert haben sie?

 

1. In diesem Augenblick erinnerte ich mich des Ratschlages, den mir der

große Lasarek gegeben hatte: Wenn sie dich prüfen, wirf ihnen einen Knochen hin, gönn ihnen einen kleinen Sieg, ihr Triumph wird dir nützlich sein. (S. Lenz. Ludmila.)

2. Aber sie bemerkten gar nicht, dass ich sie vom Flur beobachte. Sie haben den Teppich zusammengerollt und Stühle und Esstisch zur Seite gerückt, um Platz für ein Aufleben ihres Tanzstundenglücks zu schaffen. (I. Noll. Ladylike.)

3. „Die Russen kamen schon im 19. Jahrhundert gern nach Baden-Baden, manche besaßen sogar eigene Häuser. Der Kurort war fast eine russische Kolonie, und heute ist es nicht viel anders. Die berühmtesten russischen Dichter haben hier ihr Geld verspielt, selbst die Zarin Elisabeth hat die sogenannte Sommerhauptstadt Europas besucht.“ (ebenda)

4. Unter ständigem Kichern schlüpft Luiza in hochhackige rote Stiefel. Sie sieht aus wie eine Teufelin. Gemeinsam treten wir vor die Haustür, und ich atme tief durch. „Kommet, ihr Schwestern, lasset uns wandeln, ruft Anneliese. „Sehet, wie festlich das Städtchen erleuchtet, wie friedvoll der Neckar strömet zu Tal!“ (I. Noll. Ladylike.)

5. Mit dem ersten neuen Bekannten beginnt eine Stadt, Heimat zu werden. Auf der Rückfahrt nach Westberlin war die Öde Ostberlins weniger entmutigend, seine Hässlichkeit weniger abweisend. Die hellen Fenster, mal vorhangbunt und mal fersehblau, mal dicht an dicht in einem Plattenbau und mal einsam in einer Brandmauer …. (B. Schlink. Der Seitensprung.)

6. Alle Ost-West-Geschichten waren Liebesgeschichten, mit den entsprechenden Erwartungen und Enttäuschungen. Sie lebten von der Neugier darauf, was am anderen fremd war, von dem, was er hatte uns man selbst nicht, und was man selbst hatte, er aber nicht und was einen ohne weiteren Einsatz interessant machte. Wieviel gab es davon! Genug, um aus dem Winter, als die Mauer fiel, einen Frühling ost-west-deutscher Liebesneugier zu machen. (B. Schlink. Der Seitenspring.)

7. „Das Hütchen steht dir gut“, sagt Klaus.

„Stimmt doch gar nicht“, sage ich und ziehe mir die blauweis gestreifte Papiermütze, die seit heute zu unserer uniform gehört, tiefer uns Gesicht. Sie stehen keinem. Selbst mir nicht, und ich habe ein ausgesprochenes Hutgesicht. (D. Dörrie. Prügel.)

8. „Das Festspielhaus wurde von Wagner für seine Bühnenwerke gebaut. Das hat man beibehalten – “

“Woanders wird Wagner Musik nicht gespielt?”

“Doch, doch – ”

“Gibt es für alle Compositeurs solche Häuser?” […]

“Nein, für andere Compositeurs, wie Sie sagen, gibt es keine solchen Häuser.” (H.Rosendorfer. Eine Begegnung im Park.)


Date: 2015-12-11; view: 2634


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