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Und sagte kein einziges Wort

• I•

Nach dem Dienst ging ich zur Kasse um mein Gehalt abzuholen. Es standen sehr viele Leute an dem Auszahlungsschalter und ich wartete eine halbe Stunde, reichte meinen Scheck hinein und sah, wie der Kassierer ihn einem Mädchen mit gelber Bluse gab. Das Mädchen ging an den Stapel Kontokarten, suchte meine heraus, gab den Scheck dem Kassierer zurück, sagte „in Ordnung" und die sauberen Hände des Kassierers zählten die Scheine auf die Marmorplatte. Ich zählte sie nach, zwängte mich nach draußen und ging an den kleinen Tisch neben der Tür, um das Geld in einen Umschlag zu stecken und meiner Frau einen Zettel zu schreiben. Auf dem Tisch lagen rötliche Einzahlungsformulare herum, ich nahm eines davon und schrieb mit Bleistift auf die Rückseite: „Ich muss dich morgen sehen, ich rufe bis zwei an." Ich steckte den Zettel in den Umschlag, schob die Geldscheine nach, leckte den Klebstoff am Deckel des Umschlags an, zögerte, nahm das Geld wieder heraus und suchte aus dem Packen einen Zehnmarkschein, den ich in meine Manteltasche schob. Ich nahm auch den Zettel wieder heraus und schrieb dazu: „Ich habe mir 10 Mark genommen, du bekommst sie morgen zurück. Küsse die Kinder. Fred." — Aber der Umschlag klebte nun nicht mehr und ich ging an den leeren Schalter, wo "Einzahlungen" stand. Das Mädchen hinter der Glasscheibe erhob sich, schob die Scheibe hoch, sie war dunkelhäutig und mager und hatte einen rosa Pullover an, den sie oben am Hals mit einer künstlichen Rose zusammengesteckt hatte. Ich sagte zu ihr: „Bitte, geben Sie mir ein Stück Klebestreifen." Sie sah mich einen Augenblick zögernd an, riss dann ein Stück von einer braunen Kleberolle ab. reichte es mir heraus, ohne ein Wort zu sagen, und schob die Scheibe wieder hoch. Ich sagte „Danke" gegen die Glasscheibe, ging an den Tisch zurück, klebte den Umschlag zu. zog meine Mütze über und verließ die Kasse.

Es regnete, als ich hinauskam, und in der Allee segelten einzelne Blätter auf den Asphalt. Ich blieb am Eingang der Kasse stehen, wartete, bis die Zwölf1 um die Ecke bog, sprang auf und fuhr bis zum Tuckhoffplatz. Es waren sehr viele Leute in der Bahn, ihre Kleider strömten den Geruch der Nässe aus. Es regnete noch heftiger, als ich am Tuckhoffplatz absprang, ohne bezahlt zu haben. Ich lief schnell unter das Zeltdach einer Würstchenbude, drückte mich zur Theke durch2, bestellte eine Bratwurst und eine Tasse Bouillon, ließ mir zehn Zigaretten geben und wechselte den Zehnmarkschein. Während ich in die Wurst biss, blickte ich in den Spiegel, der die ganze Hinterfront der Bude einnahm. Ich erkannte mich zuerst nicht, sah dieses magere graue Gesicht unter der verschossenen Baskenmütze und ich wusste plötzlich, dass ich aussah wie einer von den Männern, die bei meiner Mutter hausierten und nie abgewiesen wurden. Die tödliche Trostlosigkeit ihrer Gesichter kam ins dämmrige Licht unserer Diele, wenn ich ihnen als kleiner Junge manchmal die Tür öffnete. Wenn dann meine Mutter kam, die ich ängstlich gerufen hatte, unsere Garderobe mit den Augen bewachend, sobald meine Mutter aus der Küche kam, ihre Hände an der Schürze trocknete, breitete sich ein seltsamer und beunruhigender Glanz auf den Gesichtern dieser trostlosen Gestalten aus, die Seifenpulver oder Bohnerwachs, Rasierklingen oder Schnürsenkel zu verkaufen hatten. Das Glück, durch den bloßen Anblick meiner Mutter hervorgerufen, hatte auf diesen grauen Gesichtern etwas Schreckliches. Meine Mutter war eine gute Frau. Sie konnte niemanden von der Tür weisen3, sie gab den Bettlern Brot, wenn wir welches hatten, gab ihnen Geld, wenn wir welches hatten, ließ sie wenigstens eine Tasse Kaffee trinken und wenn wir nichts mehr im Hause hatten, gab sie ihnen frisches Wasser in einem sauberen Glas und den Trost ihrer Augen. Rings um unseren Klingelknopf hatten sich die Zinken der Bettler, die Zeichen der Landstreicher gesammelt und wer hausieren kam, hatte die Chance etwas abgekauft zu bekommen, wenn nur noch eine einzige Münze im Hause war, die zur Bezahlung eines Schnürsenkels reichte! Auch Vertretern gegenüber kannte meine Mutter keine Vorsicht, den Gesichtern auch dieser abgehetzten Zeitgenossen konnte sie nicht widerstehen, und sie unterschrieb Kaufverträge, Versicherungspolicen, Bestellzettel, und ich entsinne mich, wenn ich als kleiner Junge abends im Bett lag, hörte ich meinen Vater nach Hause kommen, und kaum war er im Esszimmer, brach der Streit los, ein gespenstischer Streit, bei dem meine Mutter kaum ein Wort sprach. Sie war eine stille Frau. Einer von diesen Männern, die zu uns kamen, trug eine verschossene Baskenmütze, wie ich sie jetzt trage, er hieß Disch, war ein abgefallener Priester4, wie ich später erfuhr, und handelte mit Seifenpulver.



Und während ich jetzt die Wurst aß, deren Wärme an meinem wunden Zahnfleisch heftige Schmerzen hervorrief, erkannte ich drüben in dem flachen Spiegel, dass ich diesem Disch zu gleichen beginne, meine Mütze, mein mageres graues Gesicht und die Trostlosigkeit meines Blickes. Aber neben meinem Gesicht sah ich die Gesichter meiner Nebenmänner im Spiegel, Münder, die aufgerissen waren uns in Würste zu beißen, ich sah dunkle gähnende Gaumen hinter gelben Zähnen, in die rosiges Wurstfleisch brockenweise hineinfiel, sah gute Hüte, schlechte, und die nassen Haare hutloser Zeitgenossen, zwischen denen das rosige Gesicht der Würstchenverkäuferin hin- und herging. Munter lächelnd angelte sie heiße Würste mit der Holzgabel aus schwimmendem Fett, kleckste Senf auf Pappe, ging hin und her zwischen diesen essenden Mündern, sammelte schmutzige, mit Senf bekleckerte Pappeteller ein, gab Zigaretten und Limonade aus, nahm Geld ein, Geld mit ihren rosigen, etwas zu kurzen Fingern, während der Regen auf das Zeltdach trommelte.

Auch in meinem Gesicht, wenn ich in die Wurst biss, mein Mund sich öffnete und hinter den gelblichen Zähnen die dunkle Höhlung meines Rachens sichtbar wurde, sah ich diesen Ausdruck sanfter Gier5, der mich bei den anderen erschreckte. Unsere Köpfe standen da wie in einem Kasperletheater, eingehüllt in den warmen Dunst, der den Pfannen entstieg. Ich zwängte mich erschreckt wieder nach draußen, lief im Regen in die Mozartstraße hinein. Unter den ausgespannten Dächern der Läden standen wartende Menschen, und als ich Wagners Werkstatt erreichte, musste ich mich wieder durchzwängen bis zur Tür, konnte sie nur mühsam nach außen öffnen und war erleichtert, als ich endlich die Stufen hinunterging und der Ledergeruch mir entgegenströmte. Es roch nach dem alten Schweiß alter Schuhe, nach neuem Leder, nach Pech, und ich hörte die altmodische Steppmaschine surren6.

Ich ging an zwei Frauen vorüber, die auf einer Bank warteten, öffnete die Glastür und freute mich, dass mein Erscheinen ein Lächeln auf Wagners Gesicht hervorrief. Ich kenne ihn seit fünfunddreißig Jahren. Wir wohnten in der Luft, die jetzt über seinem Laden ist, dort oben, irgendwo in der Luft oberhalb des Zementdaches seiner Werkstatt haben wir gewohnt, und ich habe ihm als Fünf-Jähriger schon die Pantoffeln meiner Mutter gebracht. Jetzt hängt das Kruzifix wieder an der Wand hinter seinem Schemel, daneben das Bild des Heiligen Crispinus7, eines milden alten Mannes mit grauem Bart, der in seinen Händen, die zu gepflegt für einen Schuster sind, einen eisernen Dreifuß hält.

Ich gab Wagner die Hand, und weil er Nägel im Mund hatte, nickte er stumm zum zweiten Schemel hinüber, ich setzte mich, zog den Umschlag aus der Tasche und Wagner schob mir seinen Tabaksbeutel und Zigarettenpapier über den Tisch. Aber meine Zigarette brannte noch, ich sagte „Danke sehr", hielt ihm den Umschlag hin und sagte: „Vielleicht ..."

Er nahm die Nägel aus dem Mund, fuhr mit dem Finger über seine rauen Lippen um zu prüfen, ob nicht ein Nägelchen haften geblieben war, und sagte: „Wieder eine Besorgung zu machen an Ihre Frau — na, na."

Er nahm mir den Umschlag weg, schüttelte den Kopf und sägte: „Wird erledigt, ich schicke meinen Enkel rüber, wenn er vom Beichten kommt. In", er blickte auf die Uhr, „in einer halben Stunde."

„Sie braucht es heute noch, es ist Geld drin", sagte ich. „Ich weiß", sagte er. Ich gab ihm die Hand und ging. Als ich die Stufen wieder hinaufging, fiel mir ein, dass ich ihn hätte um Geld fragen können. Ich zögerte einen Augenblick, erstieg dann die letzte Stufe und zwängte mich durch die Leute wieder nach draußen.

Es regnete immer noch, als ich fünf Minuten später an der Benekamstraße aus dem Bus stieg; ich lief zwischen den hohen Giebeln gotischer Häuser durch, die man abgestützt hat um sie als Sehenswürdigkeiten zu erhalten. In den ausgebrannten Fensterhöhlen8 sah ich den dunkelgrauen Himmel. Nur eins dieser Häuser ist bewohnt, ich sprang unter das Vordach, klingelte und wartete. Im sanften braunen Blick des Dienstmädchens lese ich dasselbe Mitleid, das ich einst jenen Typen entgegenbrachte, denen ich nun offenbar zu gleichen beginne. Sie nahm mir Mantel und Hut ab, schüttelte beides vor der Tür aus und sagte: „Mein Gott, Sie müssen ja ganz durchnässt sein." Ich nickte, ging an den Spiegel und fuhr mir mit den Händen übers Haar.

„Ist Frau Beisem da?", fragte ich. „Nein."

„Hat sie wohl daran gedacht, dass morgen der Erste ist9?"

„Nein", sagte das Mädchen. Sie ließ mich ins Wohnzimmer ein, rückte den Tisch zum Ofen, brachte einen Stuhl, aber ich blieb stehen, mit dem Rücken gegen den Ofen gelehnt, und blickte auf die Uhr, die seit einhundertfünfzig Jahren der Familie Beiseim die Zeit verkündet. Das Zimmer ist mit alten Möbeln voll gestellt und die Fenster zeigen originale gotische Verglasung10.

Das Mädchen brachte mir eine Tasse Kaffee und zog Alfons am Hosenträger hinter sich, her, den jungen Beisem, dem die Regeln der Bruchrechnung beizubringen ich mich verpflichtet habe. Der Junge ist gesund, hat rote Backen und liebt es, im großen Garten mit Kastanien zu spielen — er sammelt sie eifrig, schleppt sie auch aus den Gärten der Nachbarhäuser herbei, die noch unbewohnt sind, und wenn das Fenster offen war, konnte ich in den letzten Wochen lange Ketten von Kastanien draußen zwischen den Bäumen hängen sehen. Ich umschloss die Kaffeetasse mit meinen Händen, schlürfte, die Wärme in mich, sprach langsam die Regeln der Bruchrechnung in dieses gesunde Gesicht hinein und wusste, dass es zwecklos war. Das Kind ist liebenswürdig aber dumm, dumm wie seine Eltern, seine Geschwister, und es gibt nur eine einzige intelligente Person im Hause: das Dienstmädchen.

Herr Beisem handelt mit Fellen und Schrott, ist ein liebenswürdiger Mensch, und manchmal, wenn ich ihn treffe, er sich einige Minuten mit mir unterhält, habe ich das absurde Gefühl, dass er mich um meinen Beruf beneidet. Ich habe den Eindruck, dass er sein Leben lang darunter gelitten hat, dass man von ihm etwas erwartete! was er nicht leisten konnte: die Leitung eines großen Geschäfts, die ebenso viel Härte wie Intelligenz erfordert. Beides fehlt ihm und er fragt mich, wenn wir uns treffen, mit einer solchen Inbrunst nach den Einzelheiten meines Berufes, dass ich zu ahnen beginne, er wäre lieber für sein Leben lang in einer kleinen Fernsprechzentrale eingeschlossen als ich. Er will wissen, wie ich den Klappenschrank bediene, wie ich Ferngespräche herstelle, fragt mich nach dem Jargon unseres Berufes, und die Vorstellung, dass ich alle Gespräche mithören kann, bereitet ihm ein kindliches Vergnügen „Interessant", ruft er immer wieder, „wie interessant."

Die Uhr ging langsam voran. Ich ließ mir die Regeln wiederholen, diktierte Aufgaben und wartete rauchend, bis sie fertig gestellt waren. Draußen war es still. Hier im Zentrum der Stadt herrscht eine Stille wie in einem winzigen Steppendorf, wenn die Herden weggezogen und nur ein paar kranke alte Frauen zurückgeblieben sind".

Brüche werden durcheinander dividiert, indem man sie umgekehrt malnimmt. — Das Auge des Kindes blieb plötzlich an meinem Gesicht haften und er sagte: „Clemens hat in Latein eine Zwei." Ich weiß nicht, ob er merkte, wie ich erschrak. Seine Bemerkung holte plötzlich das Gesicht meines Sohnes heran, warf es auf mich, das blasse Gesicht eines Dreizehn-Jährigen, und mir fiel ein, dass er neben Alfons sitzt.

„Das ist schön", sagte ich mühsam, „und du?"

„Vier", sagte er und sein Blick ging zweifelnd über mein Gesicht, schien etwas zu suchen, und ich spürte, wie ich errötete, zugleich aber von Gleichgültigkeit erfüllt war, denn nun schössen sie auf mich zu, die Gesichter meiner Frau, meiner Kinder, riesengroß, als würden sie in mein Gesicht hineinprojiziert, und ich musste mir die Augen verdecken, während ich murmelte: „Mach weiter, wie werden Brüche miteinander multipliziert?" Er sagte die Regel leise vor sich hin, blickte mich an dabei, aber ich hörte ihn nicht: Ich sah meine Bänder eingespannt in den tödlichen Kreislauf, der mit dem Aufpacken eines Schulranzens beginnt und irgendwo auf einem Bürostuhl endet. Meine Mutter sah mich mit dem Schulranzen auf dem Rücken morgens weggehen — und Käte, meine Frau, sieht unsere Kinder morgens mit dem Schulranzen auf dem Rücken weggehen.

Ich sprach die Regeln der Bruchrechnung in dieses Kindergesicht hinein, und zu einem Teil kamen sie aus diesem Kindergesicht heraus wieder auf mich zu, und die Stunde verstrich, wenn auch langsam, und ich hatte zwei Mark fünfzig verdient. Ich diktierte dem Jungen Aufgaben für die nächste Stunde, trank den letzten Schluck Kaffee aus und ging in die Diele. Das Mädchen hatte meinen Mantel und die Mütze in der Küche getrocknet, sie lächelte mir zu, als sie mir half, den Mantel anzuziehen. Und als ich auf die Straße trat, fiel mir das grobe gütige Gesicht des Mädchens ein und ich dachte, dass ich sie hätte um Geld fragen können — ich zögerte, nur einen Augenblick, klappte meinen Mantelkragen hoch, weil es immer noch regnete, und lief zur Bushaltestelle, die an der Kirche zu den Sieben Schmerzen Maria12 ist.

Zehn Minuten später saß ich in einem südlichen Stadtteil in einer Küche, die nach Essig roch, und ein blasses Mädchen mit großen, fast gelben Augen sagte lateinische Vokabeln auf, und einmal öffnete sich die Tür zum Nebenzimmer und ein mageres Frauengesicht erschien in der Tür, ein Gesicht mit großen, fast gelben Augen und sagte: „Gib dir Mühe, Kind, du weißt, wie schwer es mir wird, dich zur Schule zu schicken — und die Stunden kosten Geld."

Das Kind gab sich Mühe, ich gab mir Mühe, und die ganze Stunde lang flüsterten wir uns lateinische Vokabeln zu, Sätze und Syntaxregeln, und ich wusste, dass es zwecklos war. Und als es punkt zehn nach drei war, kam die magere Frau aus dem Nebenzimmer, brachte heftigen Essiggeruch mit, strich dem Kind übers Haar, blickte mich an und fragte: „Glauben Sie, dass sie es schaffen wird? Die letzte Arbeit hatte sie drei. Morgen machen sie wieder eine."

Ich knöpfte meinen Mantel zu, zog meine nasse Mütze aus der Tasche und sagte leise: „Sie wird es wohl schaffen." Und ich legte meine Hand auf das stumpfe Blondhaar des Kindes, und die Frau sagte: „Sie muss es schaffen, sie ist meine Einzige, mein Mann ist in Winiza13 gefallen." Ich sah für einen Augenblick den schmutzigen Bahnhof von Winiza vor mir, voller rostiger Traktoren -blickte die Frau an, und sie nahm sich plötzlich ein Herz und sagte das, was sie schon lange hatte sagen wollen: „Darf ich Sie bitten zu warten mit dem Geld, bis ..." und ich sagte ja, noch bevor sie den Satz beendet hatte.

Das kleine Mädchen lächelte mir zu.

Als ich nach draußen kam, hatte es aufgehört zu regnen, die Sonne schien, und einzelne große gelbe Blätter segelten langsam von den Bäumen herunter auf den nassen Asphalt. Am liebsten wäre ich nach Hause gegangen zu den Blocks, bei denen ich seit einem Monat wohne, aber immer wieder treibt es mich Dinge zu tun, Anstrengungen auf mich zu nehmen, von denen ich weiß, dass sie zu keinem Erfolg führen: Ich hätte Wagner, hätte Beisems Mädchen, die Frau mit dem Essiggeruch nach Geld fragen können, sie hätten mir sicher etwas gegeben, aber ich ging jetzt zur Straßenbahnstation, stieg in die Elf, ließ mich zwischen nassen Menschen bis Nackenheim schaukeln14 und spürte, wie die heiße Wurst, die ich mittags heruntergeschlungen hatte, mir nun Übelkeit verursachte. In Nackenheim ging ich zwischen den verwahrlosten Sträuchern einer Anlage bis zu Bücklers Villa15, klingelte und ließ mich von seiner Freundin ins Wohnzimmer bringen. Als ich ins Zimmer kam, klappte Bückler mit einem steifen Lächeln sein Buch zu, riss vom Rand einer Zeitung ein Lesezeichen ab und wandte sich nur zu; auch er ist alt geworden, lebt nun schon seit Jahren mit dieser Dora zusammen und ihre Freundschaft ist langweiliger geworden als eine Ehe werden kann. Sie bewachen einander mit einer Unerbittlichkeit, die ihre Züge hart gemacht hat, nennen sich Schatz und Maus, streiten sich über Geld, sind aneinander gekettet16.

Auch Dora, die wieder ins Zimmer kam, riss ein Stück vom Rand einer Zeitung, legte es als Lesezeichen ins Buch und goss mir Tee ein. Sie hatten Pralinen, eine Schachtel Zigaretten und eine Kanne Tee zwischen sich stehen.

„Nett", sagte Bückler, „dass man dich mal wieder sieht, Zigarette?"

„Ja, danke", sagte ich.

Wir rauchten und schwiegen. Dora saß von mir abgewandt und jedes Mal wenn ich mich drehte sie anzusehen, zeigte ihr Gesicht einen steinernen Ausdruck, der sich sofort in Lächeln auflöste, wenn mein Blick sie traf. Sie schwiegen beide, auch ich sagte nichts. Ich drückte die Zigarette aus und sagte plötzlich mitten ins Schweigen hinein:

„Ich brauche Geld. Vielleicht..."

Aber Bückler unterbrach mich lachend und sagte: „Dann brauchst du dasselbe, was wir schon lange brauchen, ich helfe dir gern, weißt du, aber Geld..." Ich sah Dora an und sofort schmolz ihr steinernes Gesicht in einem Lächeln dahin. Sie hatte eine scharfe Falte um den Mund und es kam mir vor, als zöge sie den Rauch der Zigarette tiefer ein als sonst.

„Ihr müsst verzeihen", sagte ich, „aber du weißt ja..."

„Ich weiß", sagte er, „nichts zu verzeihen, jeder kann mal in Verlegenheit kommen."

„Dann will ich nicht stören", sagte ich und stand auf.

„Du störst ja gar nicht", sagte er und ich hörte an seiner plötzlich lebhaft werdenden Stimme, dass es ihm ernst war. Auch Dora stand auf, drückte mich an den Schultern herunter und in ihren Augen las ich die Angst, dass ich gehen könnte. Ich begriff plötzlich, dass sie sich wirklich freuten, mich zu sehen. Dora hielt mir ihr Zigarettenetui hin, goss mir noch einmal Tee ein, und ich setzte mich und warf meine Mütze auf den Stuhl. Aber wir schwiegen weiter, sagten ab und zu ein Wort und jedes Mal, wenn ich Dora anblickte, löste sich ihr steinernes Gesicht in einem Lächeln auf, von dem ich annehmen musste, dass es aufrichtig war, denn als ich endgültig aufstand und meine Mütze vom Stuhl nahm, begriff ich, dass sie sich fürchteten, miteinander allein zu sein, dass sie sich fürchteten vor den Büchern, den Zigaretten und dem Tee, dass sie Angst hatten vor dem Abend, vor der unendlichen Langeweile, die sie sich aufgepackt hatten, weil sie sich vor der Langeweile der Ehe fürchteten.

Eine halbe Stunde später stand ich in einem anderen Stadtteil vor der Tür eines alten Schulkameraden und drückte auf die Klingel. Ich war länger als ein Jahr nicht mehr bei ihm gewesen, und als nun hinter der winzigen Scheibe in seiner Haustür die Gardine weggeschoben wurde, sah ich auf seinem weißlichen fetten Gesicht den Ausdruck der Bestürzung. Er öffnete die Tür und hatte inzwischen Zeit gefunden, ein anderes Gesicht aufzusetzen, und als wir in den Flur hineingingen, quoll Badedampf aus einer Tür, und ich hörte das Quieken von Kindern, und die schrille Stimme seiner Frau rief aus dem Badezimmer: „Wer ist denn da?" Ich saß eine halbe Stunde bei ihm in dem grünlich möblierten Raum, der nach Kampfer roch, wir sprachen über Verschiedenes, rauchten, und als er anfing, von der Schule zu erzählen, wurde sein Gesicht um einen Schein17 heller, mich aber ergriff Langeweile und ich blies ihm mit dem Qualm meiner Zigarette die Frage ins Gesicht:

„Kannst du mir Geld leihen?"

Er war gar nicht überrascht, aber erzählte mir von den Raten fürs Radio, für den Küchenschrank, für die Couch und von einem Wintermantel für seine Frau, brach dann das Thema ab, und fing wieder an, von der Schule zu erzählen. Ich hörte ihm zu und mich ergriff ein gespenstisches Gefühl; es schien mir, er erzähle von etwas, das zweitausend Jahre zurücklag — ich sah uns in dämmriger Vorzeit mit dem Hausmeister streiten, Schwämme gegen die Tafeln werfen, sah uns rauchen auf den Clos — als wären es die Kabinen einer frühge­schichtlichen Zeit. Es war mir alles so fremd und fern, dass ich erschrak, und ich stand auf, sagte: „Dann verzeih ..." und verabschiedete mich.

Sein Gesicht wurde wieder mürrisch, als wir durch den Flur zurückgingen, und wieder rief die schrille Stimme seiner Frau etwas aus dem Badezimmer, das ich nicht verstand, und er brüllte etwas zurück, das wie „Lass doch" klang, und die Tür schloss sich hinter mir, und als ich mich auf der schmutzigen Treppe umwandte, sah ich, dass er die Gardine der winzigen Scheibe zurückgezogen hatte und mir nachblickte.

Ich ging langsam zu Fuß in die Stadt zurück. Es hatte wieder angefangen leise zu regnen, es roch faulig und feucht und die Gaslaternen waren schon angezündet. Ich trank in einer Kneipe am Weg einen Schnaps und sah einem Mann zu, der an einem Schallplattenautomaten stand und immer wieder Groschen einwarf um Schlager zu hören. Ich blies den Rauch meiner Zigarette über die Theke, sah in das ernste Gesicht der Wirtin, die mir wie eine Verdammte erschien, zahlte und ging weiter. Aus den Schutthaufen zerstörter Häuser rann der Regen in trüben Bächen, gelblich oder bräunlich gefärbt, auf den Gehsteig zurück, und von Baugerüsten, unter denen ich herging, tropfte es kalkig auf meinen Mantel.

Ich setzte mich in die Dominikanerkirche und versuchte zu beten. Es war dunkel im Raum und an den Beichtstühlen standen kleine Gruppen von Männern, Frauen und Kindern. Vorne am Altar brannten zwei Kerzen, das rote ewige Licht brannte und die winzigen Lämpchen in den Beichtstühlen. Obwohl ich fror, blieb ich fast eine Stunde in der Kirche. Ich hörte das sanfte Murmeln in den Beichtstühlen, sah, wie die Leute nachrückten, wenn einer herauskam, ins Mittelschiff ging und die Hände vors Gesicht schlug. Einmal sah ich die rotglühenden Drähte einer Heizsonne, als ein Pater die Tür des Beichtstuhls öffnete und sich umblickte um zu sehen, wie viel Leute noch warteten. Er machte ein enttäuschtes Gesicht, weil noch viele warteten, fast ein Dutzend, und er ging in den Beichtstuhl zurück und ich hörte, wie er den Heizofen ausknipste und das sanfte Gemurmel wieder losging.

Ich sah noch einmal die Gesichter aller Leute, bei denen ich am Nachmittag gewesen war, angefangen von dem Mädchen in der Sparkasse, das mir das Stück Klebepapier gegeben hatte, die rosige Frau in der Würstchenbude, mein eigenes Gesicht mit aufgerissenem Mund, in den Wurststücke hineinfielen, und die verschossene Baskenmütze über meinem Gesicht; ich sah Wagners Gesicht, das milde und grobe Gesicht des Mädchens bei Beiseims und den jungen Alfons Beisem, in dessen Gesicht ich die Regeln der Bruchrechnung hineinflüsterte, das Mädchen in der Küche, die nach Essig roch, und ich sah den Bahnhof von Winiza, schmutzig, voll rostiger Traktoren, diesen Bahnhof, in dem ihr Vater gefallen war, sah ihre Mutter mit dem mageren Gesicht und den großen, fast gelben Augen, Bückler und den anderen Schulkameraden und das rote Gesicht des Mannes, der in der Kneipe am Automaten gestanden hatte. Ich stand auf, weil es nur kalt wurde, nahm Weihwasser am Eingang aus dem Becken, bekreuzigte mich und ging in die Böhnenstraße hinein, und als ich in Betzners Kneipe trat, mich an den kleinen Tisch in der Nähe des Automaten setzte, wusste ich, dass ich den ganzen Nachmittag, von dem Augenblick an, wo ich den Zehnmarkschein aus dem Umschlag genommen, an nichts anderes gedacht hatte als an Betzners kleine Kneipe, und ich warf meine Mütze an den Kleiderhaken, rief zur Theke hin: „Einen großen Korn, bitte", knöpfte meinen Mantel auf und suchte ein paar Groschen aus meiner Rocktasche. Ich warf einen Groschen in den Schlitz des Automaten, drückte auf den Knopf, ließ die silbernen Kugeln in den Kanal schnellen, nahm mit der rechten Hand den Korn, den Betzner mir gebracht hatte, ließ eine Kugel ins Spielfeld schneilen und lauschte der Melodie, die die Kugel hervorrief, indem sie die Kontakte berührte. Und als ich tiefer in die Tasche griff, fand ich das Fünfmarkstück, das ich fast vergessen hatte: Der Kollege hatte es mir geliehen, der mich ablöste.

Ich beugte mich tief über den Automaten, sah dem Spiel der silbernen Kugeln zu und lauschte ihrer Melodie, und ich hörte, wie Betzner leise zu einem Mann an der Theke sagte: „Da wird er nun stehen bleiben, bis er keinen Pfennig mehr in der Tasche hat."

 

·II·

Immer wieder zähle ich das Geld, das Fred mir geschickt hat: dunkelgrüne Scheine, hellgrüne, blaue, bedruckt mit den Köpfen ährentragender Bäuerinnen, vollbusigen Frauen, die den Handel oder den Weinbau symbolisieren, unter dem Mantel eines historischen Helden versteckt einen Mann, der ein Rad und einen Hammer in seinen Händen hält und wahrscheinlich das Handwerk darstellen soll. Neben ihm eine langweilige Jungfrau, die das Modell eines Bankhauses an ihrem Busen birgt; zu deren Füßen eine Schriftrolle und das Handwerkszeug eines Architekten. Mitten auf den grünen Scheinen ein reizloses Luder, das eine Waage in der Rechten hält1 und aus seinen toten Augen an mir vorbeiblickt. Hässliche Ornamente umranden diese kostbaren Scheine, in den Ecken tragen sie aufgedruckt die Ziffern, die ihren Wert darstellen, Eichenlaub und Ähre, Weinlaub und gekreuzte Hämmer sind den Münzen eingeprägt, und auf dem Rücken tragen sie das erschreckende Symbol des Adlers, der seine Schwingen entfaltet hat und ausfliegen wird, jemand zu erobern.

Die Kinder sehen mir zu, während ich die Scheine durch meine Hände gleiten lasse, sie sortiere, die Münzen häufele: das monatliche Einkommen meines Mannes, der Telefonist bei einer kirchlichen Behörde ist: dreihundertzwanzig Mark und dreiundachtzig Pfennige. Ich lege den Schein für die Miete beiseite, einen für Strom und Gas, einen für die Krankenkasse, zähle das Geld ab, das ich dem Bäcker schulde und vergewissere mich des Restes2: zweihundertvierzig Mark. Fred hat einen Zettel beigelegt, dass er sich zehn Mark entnahm, die er morgen zurückgeben will. Er wird sie vertrinken.

Die Kinder sehen mir zu; ihre Gesichter sind ernst und still, aber ich habe eine Überraschung für sie bereit: Sie dürfen heute im Flur spielen. Frankes sind verreist übers Wochenende zu einer Tagung des katholischen Frauenbundes. Selbsteins, die unter uns wohnen, sind noch für zwei Wochen in Ferien und die Hopfs, die das Zimmer neben uns gemietet haben, nur durch eine Schwemmstein­mauer von uns getrennt3, die Hopfs brauche ich nicht zu fragen. Die Kinder dürfen also im Flur spielen und das ist eine Vergünstigung, deren Wert nicht zu unterschätzen ist4.

„Ist das Geld von Vater?"

„Ja", sage ich.

„Ist er immer noch krank?"

„Ja — ihr dürft heute im Flur spielen, aber macht nichts kaputt und gebt auf die Tapete acht." Und ich genieße das Glück sie froh zu sehen und zugleich von ihnen befreit zu sein, wenn ich die Samstagsarbeit beginne.

Immer noch hängt der Einmachgeruch im Flur, obwohl Frau Franke ihre dreihundert Gläser voll haben dürfte5. Der Geruch erhitzten Essigs, der allein genügt, Freds Galle in Aufruhr zu bringen, der Geruch zerkochter Früchte und Gemüse. Die Türen sind abgeschlossen und auf der Garderobe liegt nur der alte Hut, den Herr Franke aufsetzt, wenn er in den Keller geht. Die neue Tapete reicht bis zu unserer Tür und der neue Anstrich bis auf die Mitte der Türfüllung, die den Eingang zu unserer Wohnung bildet: einem einzigen Raum, von dem wir durch eine Sperrholzwand eine Kabine abgetrennt haben, in der unser Kleinster schläft, und wo der Krempel abgestellt wird. Frankes aber haben vier Räume für sich allein: Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer und ein Sprechzimmer, in dem Frau Franke die zahlreichen Besucher und Besucherinnen empfängt. Ich weiß die Zahl der Komitees nicht, kenne nicht die Zahl der Ausschüsse, kümmere mich nicht um ihre Vereine. Ich weiß nur, dass die kirchlichen Behörden ihr die Dringlichkeit dieses Raumes bescheinigt haben, des Raumes, der uns nicht glücklich machen, aber uns die Möglichkeit garantieren würde, eine Ehe zu führen.

Frau Franke ist mit sechzig noch eine schöne Frau; der merkwürdige Glanz ihrer Augen aber, mit denen sie alle fasziniert, flößt mir Schrecken ein: Diese dunklen harten Augen, ihr gepflegtes Haar, das sehr geschickt gefärbt ist, ihre tiefe, leise zitternde Stimme, die nur im Verkehr mit mir plötzlich schrill werden kann, der Sitz ihrer Kostüme, die Tatsache, dass sie jeden Morgen die heilige Kommunion empfängt, jeden Monat den Ring des Bischofs küsst, wenn er die führenden Damen der Diözese empfängt6 — diese Tatsachen machen sie zu einer Person, gegen die zu kämpfen zwecklos ist. Wir haben es erfahren, weil wir sechs Jahre gegen sie gekämpft und es nun aufgegeben haben.

Die Kinder spielen im Flur: Sie sind so daran gewöhnt still zu sein, dass sie nicht einmal mehr laut werden, wenn es gestattet ist. Ich höre sie kaum: Sie haben Pappkartons aneinander gebunden, einen Zug, der die ganze Länge des Flurs ausmacht und nun vorsichtig hin und her bugsiert wird. Sie richten Stationen ein, laden Blechbüchsen, Holzstäbchen auf und ich kann gewiss sein, dass sie bis zum Abendessen beschäftigt sind. Der Kleine schläft noch.

Noch einmal zähle ich die Scheine, die kostbaren, schmutzigen Scheine, deren süßlicher Geruch mich in seiner Sanftheit erschreckt, und ich zähle den Zehner hinzu, den Fred mir schuldet. Er wird ihn vertrinken. Er hat uns vor zwei Monaten verlassen, schläft bei Bekannten oder in irgendwelchen Asylen, weil er die Enge der Wohnung, die Gegenwart von Frau Franke und die schreckliche Nachbarschaft der Hopfs nicht mehr erträgt. Damals entschied sich die Wohnungskommission, die am Rande der Stadt eine Siedlung baut, gegen uns, weil Fred ein Trinker ist, und das Zeugnis des Pfarrers über mich nicht günstig ausfiel7. Er ist böse, dass ich mich nicht an den Veranstaltungen kirchlicher Vereine beteilige. Die Vorsitzende dieser Kommission aber ist Frau Franke, die dadurch den Ruf um den einer untadeligen, selbstlosen Frau noch bereichert hat8. Denn hätte sie uns die Wohnung zugebilligt, wäre unser Raum, der ihr nun als Esszimmer fehlt, freigeworden. So entschied sie zu ihrem eigenen Schaden gegen uns.

Mich aber hat seitdem ein Schrecken ergriffen, den ich nicht zu beschreiben wage. Die Tatsache, Gegenstand eines solchen Hasses zu sein, flößt mir Furcht ein und ich habe Angst den Leib Christi zu essen, dessen Genuss Frau Franke täglich erschreckender zu machen scheint9. Denn der Glanz ihrer Augen wird immer härter. Und ich habe Angst die heilige Messe zu hören, obwohl die Sanftmut der Liturgie zu den wenigen Freuden gehört, die mir geblieben sind. Ich habe Angst den Pfarrer am Altar zu sehen, den gleichen Menschen, dessen Stimme ich oft nebenan im Sprechzimmer höre: die Stimme eines verhinderten Bonvivants, der gute Zigarren raucht, sich mit den Weibern seiner Kommissionen und Vereine alberne Scherze erzählt. Oft lachen sie laut nebenan, während ich angehalten bin Acht zu geben, dass die Kinder keinen Lärm machen, weil die Konferenz dadurch gestört werden könnte. Aber ich kümmere mich schon lange nicht mehr darum, lasse die Kinder spielen und beobachte mit Schrecken, dass sie gar nicht mehr fällig sind zu lärmen. Und manchmal morgens, wenn der Kleine schläft, die Großen zur Schule sind, während des Einkaufens schleiche ich mich für ein paar Augenblicke in eine Kirche, zu Zeiten, in denen kein Gottesdienst mehr stattfindet, und ich empfinde den unendlichen Frieden, der von der Gegenwart Gottes ausströmt.

Manchmal aber zeigt Frau Franke Regungen von Gefühl, die mich noch mehr erschrecken als ihr Hass. Weihnachten kam sie und bat uns an einer kleinen Feier im Wohnzimmer teilzunehmen. Und ich sah uns durch den Flur gehen, als gingen wir in die Tiefe eines Spiegels hinein: Clemens und Carla vorne, dann Fred, und ich ging mit dem Kleinen auf dem Arm hinterdrein. — Wir gingen wie in die Tiefe eines Spiegels hinein und ich sah uns: Wir sahen arm aus.

Im Wohnzimmer, das seit dreißig Jahren unverändert ist, kam ich mir fremd vor, wie in einer anderen Welt, fehl am Platze10: Wir gehören nicht auf solche Möbel, zwischen solche Bilder, wir sollten uns nicht an Tische setzen, die mit Damast gedeckt sind. Und der Schmuck des Weihnachtsbaumes, den Frau Franke über den Krieg gerettet hat, macht, dass mir das Herz vor Angst stehen bleibt: diese flimmernden blauen und goldenen Kugeln — das Engelhaar und die Puppengesichter der gläsernen Engel, das Jesuskind aus Seite m der Krippe aus Rosenholz, Maria und Josef aus grell bemaltem Ton, süßlich grinsend unter dem Spruchband aus Gips, das „Frieden den Menschen" verkündet diese Möbel, an die wöchentlich acht Stunden lang der Schweiß einer Putzfrau verschwendet wird, die fünfzig Pfennige pro Stunde bekommt und Mitglied des Müttervereins ist, diese ganze tödliche Sauberkeit macht mir Angst. Herr Franke saß in der Ecke und rauchte seine Pfeife. Seine knochige Gestalt beginnt sich mit Fleisch zu füllen und ich höre oft das Stampfen seiner Schritte, wenn er die Treppe heraufkommt, seinen polternden Gang, und sein keuchender Atem geht an meinem Zimmer vorbei in die Tiefe des Flures.

Die Kinder fürchten sich vor solchen Möbeln, die sie nur selten sehen. Sie setzten sich zögernd auf die ledergepolsterten Stühle, so scheu und still, dass ich hätte weinen können.

Es standen Teller für sie bereit und Geschenke lagen da: Strümpfe und das unvermeidliche Sparschwein aus Ton, das in der Familie Franke seit fünfunddreißig Jahren zu Weihnachten gehört. Freds Gesicht war finster und ich sah, dass er bereute der Einladung gefolgt zu sein; er stand da auf die Fensterbank gestützt, zog eine lose Zigarette aus der Tasche, glättete sie langsam und zündete sie an.

Frau Franke schenkte die Gläser voll Wein und schob den Kindern bunte Porzellanbecher voll Limonade zu. Die Becher sind mit Motiven aus dem Märchen „Der Wolf und die sieben Geißlein" bemalt. Wir tranken. Fred trank in einem Zuge sein Glas leer, hielt es prüfend in der Hand, schien dem Geschmack des Weines nachzusinnen. In solchen Augenblicken bewundere ich ihn, denn auf seinem Gesicht konnte jeder deutlich lesen, was zu sagen überflüssig war: Zwei Sparschweine und ein Glas Wein, fünf Minuten Sentimentalität täuschen mich nicht darüber hinweg, dass unsere Wohnung zu eng ist.

Diese schreckliche Einladung endete mit einem kalten Abschied und ich las in Frau Frankes Augen alles, was sie darüber erzählen würde: Zu den zahllosen Flüchen, die wir tragen, kommt nun noch der der offenbaren Undankbarkeit und Unhöflichkeit und für sie noch zwei weitere Etagen auf der vielstöckigen Krone des Martyriums.

Herr Franke spricht selten, aber wenn er weiß, dass seine Frau nicht da ist, steckt er manchmal den Kopf in unser Zimmer und legt, ohne ein Wort zu sagen, eine Tafel Schokolade auf den Tisch, der an der Tür steht, und manchmal finde ich einen Geldschein in dem Umschlagpapier versteckt, und ich höre ihn manchmal im Flur mit den Kindern sprechen. Er hält sie an, murmelt ein paar Worte und die Kinder erzählen mir, dass er sie über den Kopf streicht und „Liebes" zu ihnen sagt.

Frau Franke aber ist anders, redselig und lebhaft, ohne Zärtlichkeit. Sie stammt aus einem alten städtischen Händlergeschlecht, das die Gegenstände, mit denen es Handel trieb, von Geschlecht zu Geschlecht wechselte, immer kostbarere fand: von Öl, Salz und Mehl, von Fisch und Tuch kamen sie zu Wein, dann gingen sie in die Politik, sanken herab zu Grundstücksmaklern, und ich meine heute manchmal, dass sie mit dem Kostbarsten Handel treiben: mit Gott.

Frau Franke wird nur bei seltenen Gelegenheiten sanft: zunächst, wenn sie von Geld spricht. Sie spricht das Wort mit einer Sanftmut aus, die mich erschreckt, so wie manche Leute: Leben, Liebe, Tod oder Gott aussprechen, sanft, mit einem leisen Schrecken und einer großen Zärtlichkeit in der Stimme. Der Glanz ihrer Augen wird matter und ihre Züge werden jung, wenn sie von Geld und von ihrem Eingemachten spricht, beides Schätze, deren Verletzung sie nicht zulässt. Schrecken ergreift mich, wenn ich manchmal unten im Keller bin um Kohlen oder Kartoffeln zu holen, und ich höre sie nebenan die Gläser zählen: mit sanfter Stimme murmelnd, singend die Zahlen wie die Kadenzen einer geheimen Liturgie, und ihre Stimme erinnert mich an die Stimme einer betenden Nonne — und ich lasse oft meine Eimer im Stich11, fliehe nach oben und drücke meine Kinder an mich, weil ich spüre, dass ich sie vor etwas behüten muss. Und die Kinder blicken mich an, die Augen meines Sohnes, der erwachsen zu werden beginnt und die sanften dunklen Augen meiner Tochter, sie blicken mich an, begreifend und nicht begreifend— und nur zögernd fallen sie in die Gebete ein, die ich zu sprechen beginne, die berauschende Eintönigkeit einer Litanei oder die Sätze des Vaterunsers, die spröde aus unseren Mündern fallen.

Aber es ist drei geworden, und plötzlich bricht draußen die Angst vor dem Sonntag aus, Lärm platzt in den Hof, und ich höre die Stimmen, die den frohen Samstagnachmittag ansagen, und mein Herz beginnt mir im Leibe zu erfrieren. Ich zähle noch einmal das Geld, betrachte die tödlich langweiligen Bilder darauf und entschließe mich endgültig es anzubrechen12. Im Flur lachen die Kinder, der Kleine ist erwacht und ich muss mich entschließen zu arbeiten, und wie ich den Blick hebe vom Tisch, auf den gestützt ich nachzudenken begann, fällt mein Blick auf die Wände unseres Zimmers, die mit billigen Drucken benagelt sind: mit den süßen Weibergesichtern Renoirs13 — sie kommen mir fremd vor, so fremd, dass ich nicht begreifen kann, wie ich sie vor einer halben Stunde noch ertragen konnte. Ich nehme sie herunter, reiße sie mit ruhigen Händen entzwei und werfe die Fetzen in den Abfalleimer, den ich gleich hinuntertragen muss. Meine Blicke gehen unsere Wände entlang, nichts findet Gnade vor meinen Augen als das Kruzifix über der Tür und die Zeichnung eines mir Unbekannten, deren wirre Linien und spärliche Farben mir fremd erschienen bisher, die ich aber plötzlich begreife ohne sie zu verstehen.

·III·

Es dämmerte gerade, als ich den Bahnhof verließ, und die Straßen waren noch leer. Sie liefen schräg an einem Häuserblock vorbei, dessen Fassade mit hässlichen Putzstellen ausgeflickt war. Es war kalt und auf dem Bahnhofsvorplatz standen fröstelnd ein paar Taxichauffeure: Sie hatten die Hände tief in die Manteltaschen vergraben, und diese vier oder fünf blassen Gesichter unter blauen Schirmmützen wandten sich mir für einen Augenblick zu; sie bewegten sich gleichmäßig wie Puppen, die an der Schnur gezogen werden. Nur einen Augenblick, dann schnappten die Gesichter in ihre alte Position zurück, dem Ausgang des Bahnhofs zugewandt. Nicht einmal Huren waren um diese Zeit auf den Straßen, und als ich mich langsam umwandte, sah ich, wie der große Zeiger der Bahnhofsuhr langsam auf die neun rutschte: Es war viertel vor sechs. Ich ging in die Straße hinein, die rechts an dem großen Gebäude vorbeiführte und blickte aufmerksam in die Schaukästen: Irgendwo musste doch ein Cafe oder eine Kneipe offen sein oder eine von diesen Buden, gegen die ich zwar einen Abscheu habe, die mir aber lieber sind als die Wartesäle mit ihrem lauen Kaffee um diese Zeit und der flauen aufgewärmten Bouillon, die nach Kaserne schmeckt. Ich klappte den Mantelkragen hoch, legte sorgfältig die Ecken ineinander und klopfte den schwärzlichen losen Dreck von Hose und Mantel ab.

Am Abend vorher hatte ich mehr getrunken als sonst und nachts gegen eins war ich in den Bahnhof gegangen zu Max, der mir manchmal Unterschlupf gewährt. Max ist in der Gepäckaufbewahrung beschäftigt – ich kenne ihn vom Krieg her — und in der Gepäckaufbewahrung gibt es einen großen Heizkörper mitten im Raum, um ihn herum eine Holzverschalung, die eine Sitzbank trägt. Dort ruhen sich alle aus, die in der untersten Etage des Bahnhofs beschäftigt sind: Gepäckträger, Leute von der Aufbewahrung und die Aufzugführer. Die Verschalung steht weit genug ab, dass ich hineinkriechen kann1, und unten ist eine breite Stelle, dort ist es dunkel und warm, und ich fühle Ruhe, wenn ich dort liege, habe Frieden im Herzen, der Schnaps kreist in meinen Adern, das dumpfe Grollen der ein- und ausfahrenden Züge, das Bumsen der Gepäckkarren oben, das Surren der Aufzüge — Geräusche, die mir im Dunkeln noch dunkler erscheinen, schläfern mich schnell ein. Manchmal auch weine ich dort unten, wenn mir Käte einfällt und die Kinder, ich weine, wissend, dass die Tränen eines Säufers nicht zählen, kein Gewicht haben — und ich spüre etwas, das ich nicht Gewissensbisse, sondern einfach Schmerz nennen möchte. Ich habe schon vor dem Kriege getrunken, aber das scheint man vergessen zu haben, und mein tiefer moralischer Stand wird mit einer gewissen Milde betrachtet, weil man von mir sagen kann: Er ist im Kriege gewesen.

Ich säuberte mich, so sorgfältig ich konnte, vor dem Schaufensterspiegel eines Cafes, und der Spiegel warf meine zarte kleine Gestalt unzählige Male nach hinten wie in eine imaginäre Kegelbahn, in der Sahnetorten und schokoladenüberzogene Florentiner neben mir her purzelten: So sah ich mich selbst dort, ein winziges Männchen, das verloren dahinrollte zwischen Gebäck, mit wirren Bewegungen die Haare zurechtstreichend, an der Hose zupfend.

Ich schlenderte langsam weiter an Zigarren- und Blumenläden vorbei, vorbei an Textilgeschäften, in deren Fenstern mich die Puppen mit ihrem falschen Optimismus anstarrten. Dann zweigte rechts eine Straße ab, die fast nur aus Holzbuden zu bestehen schien. An der Straßenecke hing ein großes weißes Transparent mit der Aufschrift: Wir heißen euch willkommen, Drogisten!2

Die Buden waren in die Trümmer hineingebaut, hockten unten zwischen ausgebrannten und eingestürzten Fassaden — aber auch die Buden waren Zigarren- und Textilgeschäfte, Zeitungsstände, und als ich endlich an eine Imbissstube kam, war sie geschlossen. Ich rappelte an der Klinke, wandte mich um und sah endlich Licht. Ich ging über die Straße auf das Licht zu und sah, dass es in einer Kirche leuchtete. Das hohe gotische Fenster war notdürftig mit rohen Steinen ausgeflickt und mitten in dem hässlichen Mauerwerk war ein kleiner, gelblich gestrichener Fensterflügel eingeklemmt, der von einem Badezimmer stammen musste. In den vier kleinen Scheiben stand ein schwaches gelbliches Licht. Ich blieb stehen und dachte einen Augenblick nach: Es war nicht wahrscheinlich, aber vielleicht war es drinnen warm. Ich stieg defekte Stufen hinauf. Die Tür schien heil geblieben zu sein; sie war mit Leder gepolstert. In der Kirche war es nicht warm. Ich nahm die Mütze ab, schlich langsam nach vorne zwischen den Bänken hindurch und sah endlich in dem zurechtgeflickten Seitenschiff Kerzen brennen. Ich ging weiter, obwohl ich festgestellt hatte, dass es drinnen noch kälter war als draußen: Es zog. Es zog aus allen Ecken. Die Wände waren zum Teil nicht einmal mit Steinen ausgeflickt, sie bestanden aus Kunststoffplatten, die man einfach aneinander gestellt hatte, die Klebemasse quoll aus ihnen heraus, die Platten begannen sich in einzelne Schichten aufzulösen und sich zu werfen. Schmutzige Schwellungen troffen von Feuchtigkeit, und ich blieb zögernd an einer Säule stehen.

Zwischen zwei Fenstern an einem Steintisch stand der Priester in weißem Gewand zwischen den beiden Kerzen. Er betete mit erhobenen Händen und obwohl ich nur den Rücken des Priesters sah, merkte ich, dass ihn fror. Einen Augenblick lang schien es, als sei der Priester allein mit dem aufgeschlagenen Messbuch, seinen blassen erhobenen Händen und dem frierenden Rücken. Aber in der matten Dunkelheit unterhalb der flackernden Kerzen erkannte ich jetzt den blonden Kopf eines Mädchens, das sich innig nach vorne geneigt hatte, so weit nach vorne, dass ihr lose hängendes Haar sich auf dem Rücken in zwei gleichmäßige Strähnen teilte. Neben ihr kniete ein Junge, der sich dauernd hin und her wandte, und am Profil, obwohl es dämmerig war, erkannte ich die geschwollenen Lider, den offenen Mund des Blöden, die rötlichen entzündeten Lider, die dicken Backen, den seltsam nach oben verschobenen Mund; und in den kurzen Augenblicken, in denen die Augen geschlossen waren, lag ein überraschender und aufreizender Zug von Verachtung über diesem blöden Kindergesicht.

Der Priester wandte sich jetzt, ein eckiger und blasser Bauer, seine Augen bewegten sich zu der Säule hin, an der ich stand, bevor er die erhobenen Hände zusammenlegte, sie wieder auseinander faltete und etwas murmelte. Dann wandte er sich um, beugte sich über den Steintisch, drehte sich mit einer plötzlichen Wendung und erteilte mit einer fast lächerlichen Feierlichkeit den Segen über das Mädchen und den blöden Jungen. Merkwürdig, obwohl ich in der Kirche war, fühlte ich mich nicht eingeschlossen. Der Priester wandte sich wieder zum Altar, setzte seine Mütze auf, nahm jetzt den Kelch und pustete die rechte der beiden Kerzen aus. Er ging langsam zum Hauptaltar hinunter, beugte dort die Knie und verschwand in der tiefen Dunkelheit der Kirche. Ich sah ihn nicht mehr, hörte nur die Angeln einer Tür kreischen. Dann sah ich das Mädchen für einen Augenblick im Licht: ein sehr sanftes Profil und eine einfache Innigkeit, als sie aufstand, niederkniete und die Stufen emporstieg um die linke Kerze auszublasen. Sie stand in diesem sanften gelben Licht und ich sah, dass sie wirklich schön war; schmal und groß mit einem klaren Gesicht, und es war nichts Törichtes daran, wie sie den Mund spitzte und blies. Dann fiel Dunkelheit über sie und den Jungen und ich sah sie erst wieder, als sie in das graue Licht trat, das aus dem eingemauerten kleinen Fenster oben fiel. Und wieder berührte mich die Haltung ihres Kopfes, die Bewegung ihres Nackens, als sie an mir vorbeiging, mich mit einem kurzen Blick prüfend und sehr ruhig ansah und hinausging. Sie war schön, und ich ging ihr nach. An der Tür beugte sie noch einmal die Knie, puffte die Tür auf und zog den Blöden hinter sich her. Ich ging ihr nach. Sie ging in entgegengesetzter Richtung zum Bahnhof in die öde Straße hinein, die nur aus Buden und Trümmern bestand, und ich sah, dass sie sich ein paarmal umblickte. Sie war schlank, fast mager, schien kaum mehr als achtzehn oder neunzehn zu sein und schleppte mit einer stetigen und festen Geduld den Blöden hinter sich her.

Jetzt kamen mehr Häuser, nur hin und wieder eine Bude, Straßenbahnschienen lagen dort mehrere nebeneinander, und ich erkannte den Stadtteil, den ich nur selten betrete. Hier musste das Depot liegen: Ich hörte das Kreischen der Bahnen hinter einer rötlichen, schlecht ausgeflickten Mauer, sah im Dämmer grelle Blitze von Schweißapparaten und hörte das Zischen der Sauerstoffflaschen.

Ich hatte so lange auf die Mauer gestarrt, dass ich nicht bemerkt hatte, wie das Mädchen stehen blieb. Ich war ihr jetzt sehr nahe gekommen, sah, dass sie vor einer Bude stand und in einem Schlüsselbund herumsuchte. Der Blöde blickte in die regelmäßig graue Fläche des Himmels hinauf. Wieder warf das Mädchen einen Blick zu mir zurück und ich zögerte einen Augenblick, als ich an ihr vorbeiging, bis ich sah, dass die Bude, die sie zu öffnen begonnen hatte, eine Imbissstube war.

Sie hatte die Tür schon aufgeschlossen und drinnen sah ich im grauen Dunkel Stühle, eine Theke, das matte Silber einer Kaffeemaschine: Ein muffiger Geruch von kalten Reibekuchen kam heraus und ich sah im Dämmer hinter einer verschmierten Scheibe Frikadellen auf zwei Tellern aufgetürmt, kalte Koteletts und ein großes grünliches Glas, in dem Gurken in Essig schwammen.

Das Mädchen sah mich an, als ich stehen blieb. Sie hatte die blechernen Läden abgenommen -und auch ich sah ihr ins Gesicht.

„Verzeihung", sagte ich, „öffnen Sie jetzt?"

„Ja", sagte sie und sie ging an mir vorbei, trug den letzten Laden nach drinnen und ich hörte, wie sie ihn aufsetzte. Obwohl die Läden entfernt waren, kam sie noch einmal zurück, sah mich an, und ich fragte:

„Kann man hereinkommen?"

„Gewiss", sagte sie, „aber es ist noch kalt."

„Oh, das macht nichts", sagte ich und trat ein. Drinnen roch es abscheulich und ich zog die Zigaretten aus meiner Tasche und zündete eine an. Sie hatte Licht angeknipst und ich wunderte mich, wie sauber alles im Hellen aussah.

„Merkwürdiges Wetter", sagte sie, „für September. Heute Mittag wird es wieder heiß sein, aber jetzt friert man."

„Ja", sagte ich, „merkwürdig, morgens ist es kalt."

„Ich werde gleich etwas Feuer machen", sagte sie. Ihre Stimme war hell, ein wenig spröde, und ich merkte, dass sie verlegen war.

Ich nickte nur, stellte mich an die Wand neben der Theke und sah mich um; die Wände bestanden aus nackten Holzbrettern, die mit bunten Zigarettenplakaten tapeziert waren: elegante Männer mit grau meliertem Haar, die tief ausgeschnittenen Damen ihr Etui hinhielten, einladend dazu grinsten, während sie mit der anderen Hand den Hals einer Sektpulle umschlossen hielten — oder reitende Cowboys mit einer teuflischen Heiterkeit auf ihren Gesichtern, den Lasso in der einen, in der anderen Hand die Zigarette, so schleppten sie eine unwahrscheinlich große und ebenso unwahrscheinlich blaue Wolke von Tabaksqualm hinter sich her, die wie eine seidige Fahne bis an den Horizont der Prärie reichte.

Der Blöde hockte nahe beim Ofen und bibberte leise vor Kälte. Er hatte einen Lutscher im Mund, hielt das Holzstäbchen in der Hand und zullte mit einer aufreizenden Stetigkeit an dem knallrot gefärbten Stück Zucker herum, während zwei schmale, kaum sichtbare Bäche von Zuckerschmier sich zu beiden Seiten seines Mundes langsam nach unten bewegten.

„Bernhard", sagte das Mädchen milde, und sie beugte sich zu ihm und wischte ihm sorgfältig mit ihrem Taschentuch die Mundwinkel aus. Sie hob die Platte vom Ofen, knüllte Zeitungen zusammen, warf das Papier hinein, legte Holz und Brikettstücke auf und hielt ein brennendes Streichholz an die rostige Schnauze des Ofens.

„Nehmen Sie doch Platz, bitte", sagte sie zu mir. „Oh, danke", sagte ich, aber ich setzte mich nicht. Es war mir kalt und ich wollte nahe beim Ofen stehen und trotz des leisen Ekels, den ich angesichts des Blöden empfand, bei den kalten Gerüchen billiger Speisen, fühlte ich eine wohlige Vorfreude beim Gedanken an den Kaffee, an Brot und Butter — und ich blickte in den schneeweißen Nacken des Mädchens, sah die dürftig zurechtgeflickten Strümpfe an ihren Beinen und beobachtete diese sanften Bewegungen ihres Kopfes, wenn sie sich tief nach unten bückte um zu sehen, wie das Feuer sich entwickelte.

Zunächst kam nur etwas Qualm, bis ich endlich hörte, dass es zu knistern begann; die Flamme fauchte leise und der Qualm ließ nach. Die ganze Zeit hockte sie da zu meinen Füßen, rüttelte mit schmutzigen Fingern an der Schnauze des Ofens und beugte sich manchmal tiefer nach unten um zu pusten und wenn sie sich tief beugte, sah ich weit in ihren Nacken hinein, sah den weißen kindlichen Rücken.

Plötzlich stand sie auf, lächelte mir zu und ging hinter die Theke. Sie ließ den Hahn laufen3, wusch sich die Hände und stöpselte die Kaffeemaschine ein. Ich ging zum Ofen, nahm die Platte mit einem Haken hoch und sah, dass die Flamme das Holz erfasst hatte und schon anfing die Briketts zu entzünden. Es fing wirklich an warm zu werden. Es puffte schon in der Kaffeemaschine und ich spürte, wie mein Appetit wuchs. Immer, wenn ich getrunken habe, ist mein Appetit auf Kaffee und Frühstück groß — aber ich blickte voll leisen Ekels auf die kalten Würstchen mit ihrer faltigen Haut und auf die Schüsseln mit Salaten. Das Mädchen nahm einen Blechkasten voll leerer Flaschen und ging hinaus. Mit dem Blöden allein zu sein erfüllte mich mit einer merkwürdigen Gereiztheit. Das Kind nahm keinerlei Notiz von mir, aber es machte mich wild, wie es in seiner Selbstgefälligkeit dort hockte, an der widerlichen Zuckerstange herumlutschte.

Ich warf die Zigarette weg und erschrak, als sich die Tür öffnete und statt des Mädchens der Priester erschien, der eben die Messe gelesen hatte. Sein rundes und blasses Bauerngesicht stand jetzt unter einem schwarzen, sehr sauberen Hut. Er sagte „Guten Morgen" und es fiel Enttäuschung wie Schatten über sein Gesicht, als er den Platz hinter der Theke leer sah. „Guten Morgen", sagte ich und dachte: armes Schwein. Jetzt erst war mir eingefallen, dass die Kirche, in der ich gewesen war, die Pfarrkirche zu den Sieben Schmerzen war, und ich kannte die Personalakte des Pfarrers genau; Seine Zeugnisse waren mäßig4, seine Predigten gefielen nicht, zu wenig Pathos erfüllte sie, und seine Stimme war zu heiser. Im Krieg hatte er keine Heldentaten vollbracht, er war weder ein Held noch ein Widerständler gewesen, keine Orden hatten seine Brust geziert und ebenso wenig war er mit der unsichtbaren Krone des Martyriums gekrönt; sogar eine ganz gewöhnliche Disziplinarstrafe wegen Überschreitung des Zapfenstreiches hatte seine Papiere verunziert. Aber das war alles nicht einmal so schlimm wie eine merkwürdige Weibergeschichte, von der sich zwar herausgestellt hatte, dass sie platonisch gewesen, die aber einen Grad geistiger Zärtlichkeit erreicht hatte, der bei der Behörde Unbehagen hervorrief5. Der Pfarrer von den Sieben Schmerzen Maria war einer von denen, die der Herr Prälat als typische Dreiminuspriester mit einer Neigung zu vier plus bezeichnet6. Die verlegene Enttäuschung des Pfarrers war so offenbar, dass es mir peinlich war. Ich zündete eine zweite Zigarette an, sagte noch einmal guten Morgen und versuchte an diesem Durchschnittsgesicht vorbeizusehen. Immer, wenn ich sie sehe, mit ihren schwarzen Röcken, eine unschuldige Sicherheit und zugleich eine unschuldige Unsicherheit auf dem Gesicht, fühle ich jenes merkwürdige, aus Wut und Mitleid gemischte Gefühl, das mich auch meinen Kindern gegenüber erfüllt. Der Pfarrer klimperte nervös mit einem Zweimarkstück auf der gläsernen Platte herum, die die Theke abschloss. Eine helle Röte stieg vom Hals her in sein Gesicht, als die Tür sich öffnete und das Mädchen hereinkam.

„Oh", sagte er hastig, „ich wollte nur Zigaretten."

Ich beobachtete ihn genau, wie er mit seinen kurzen weißen Fingern an den Koteletts vorbei vorsichtig nach den Zigaretten angelte, sich eine rote Packung herausnahm, das Geldstück auf die Theke warf und hastig mit einem schlecht hörbaren Guten Morgen die Bude wieder verließ.

Das Mädchen sah ihm nach, setzte den Korb ab, den es im Arm getragen hatte, und ich spürte, wie mir das Wasser in den Mund schoss beim Anblick dieser frischen blonden Brötchen. Ich würgte den lauwarmen Schwall hinunter, knipste meine Zigarette aus und suchte einen Platz so zum Sitzen. Der Blechofen strahlte jetzt heftige Wärme aus, leicht noch mit Brikettqualm durchsetzt, und ich spürte eine leise Übelkeit, die sauer aus dem Magen hochstieg.

Draußen kreischten und kurvten die Bahnen, die das Depot verließen, schmutzig weiße Züge fuhren auf der Straße vorbei, Schlangen, die sich stockend entfernten, deren Kreischen sich von gewissen Zentren aus in verschiedene Richtungen verlor wie in weitere Kanäle weißen Knirschens, Fadenbündeln gleich7.

Leise brodelte das Wasser in der Kaffeemaschine, der Blöde lutschte an seinem Holzstäbchen herum, an dem nur noch eine sehr dünne durchsichtige Schicht rötlichen Zuckers hing. „Kaffee?", fragte das Mädchen mich von der Theke her — „Wünschen Sie Kaffee?" „Ja, bitte", sagte ich schnell und sie wandte mir, als habe der Ton meiner Stimme sie berührt, ihr ruhiges und schönes Gesicht zu und nickte lächelnd, während sie die Tasse mit dem Unterteller unter den Hahn der Maschine schob. Vorsichtig öffnete sie die Blechdose mit dem Kaffeepulver und als sie den Löffel nahm, drang der wunderbare Geruch desgemahlenen Kaffees bis zu mir, und sie zögerte einen Augenblick und fragte: „Wie viel, wie viel Kaffee wünschen Sie?" Ich nahm hastig mein Geld aus der Tasche, glättete die Scheine, häufte die Münzen schnell aufeinander, suchte noch einmal in meinen Taschen, dann zählte ich alles und sagte: „Drei, — oh, drei muss ich haben, drei Tassen."

„Drei", sagte sie, und sie lächelte wieder und setzte hinzu:

„Dann gebe ich Ihnen ein Kännchen, es ist billiger." Ich beobachtete, wie sie vier gehäufte Teelöffel Pulver in den Nickelschieber tat, ihn einschob, die Tasse wegnahm und eine Kanne untersetzte. Ruhig bediente sie die Hähne, es puffte und brodelte,Wasserdampf zischte an ihrem Gesicht vorbei und ich sah, wie die dunkelbraune Flüssigkeit in die Kanne zu tröpfeln begann; mein Herz fing leise an zu klopfen.

Manchmal denke ich an den Tod und an den Augenblick des Wechsels von diesem in das andere Leben und ich stelle mir vor, was mir übrig bleiben wird in dieser Sekunde: das blasse Gesicht meiner Frau, das helle Ohr eines Priesters im Beichtstuhl, ein paar ruhige Messen in dämmrigen Kirchen, erfüllt vom Wohlklang der Liturgie, und die Haut meiner Kinder, rosig und warm, der Schnaps, wie er in meinen Adern kreist und die Frühstücke, ein paar Frühstücke und in diesem Augenblick, als ich dem Mädchen zusah, wie es die Hähne der Kaffeemaschine bediente, wusste ich, dass auch sie dabei sein würde. Ich knöpfte meinen Mantel auf, warf die Mütze auf einen leeren Stuhl. „Kann ich auch Brötchen haben?", fragte ich, „sind sie frisch?"

„Natürlich", sagte sie, „wie viel wollen Sie? Sie sind ganz frisch."

„Vier", sagte ich, „auch Butter!"

„Ja, wie viel?"

„Oh, fünfzig Gramm."

Sie nahm die Brötchen aus dem Korb, legte sie auf einen Teller und fing an ein Halbpfundpaket Butter mit dem Messer abzuteilen.

„Ich habe keine Waage, darf es mehr sein? Ein Achtel? Dann kann ich es mit dem Messer machen."

„Ja", sagte ich, „sicher", und ich sah genau, dass es mehr als ein Achtel war, was sie neben die Brötchen legte, es war das größte der vier Viertel, die sie aus dem Paket geschnitten hatte.

Sie löste vorsichtig das Papier von der Butter und kam mit dem Tablett auf mich zu. Sie hantierte nahe vor meinem Gesicht mit dem Tablett, weil sie mit der freien Hand eine Serviette ausbreiten wollte, und ich half ihr, indem ich die Serviette auseinander faltete und roch für einen Augenblick ihre Hände: Ihre Hände rochen gut.

„So, bitte", sagte sie.

„Vielen Dank", sagte ich.

Ich goss mir ein, tat Zucker in den Kaffee, rührte um und trank. Der Kaffee war heiß und war sehr gut. Nur meine Frau kann solchen Kaffee kochen, aber ich trinke nur selten zu Hause Kaffee und überlegte, wie lange ich keinen solch guten Kaffee mehr getrunken habe. Ich trank mehrere Schlucke hintereinander und spürte sofort, wie mein Wohlbefinden sich hob. „Wunderbar", rief ich dem Mädchen zu,


Date: 2015-12-11; view: 3023


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