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Es ist Sonntag. Die Heldin denkt über die Weltlage nach, dazu läuft der Fernseher, und es regnet.

Es ginge durchaus noch unerfreulicher: An einem Sonntag zum Beispiel. Im Herbst zum Beispiel, im Sommer oder egal wie das Zeug heißt, denn Jahreszeiten sind uninteressant geworden, nicht zu unterscheiden, seit die Welt begonnen

hat, sich in einer Geschwindigkeit aufzulösen, mit der keiner gerechnet hat.

O-Ton Welt Damit habe ich irgendwie nicht gerechnet!

Die wenigen, die sich für etwas außerhalb ihrer selbst interessieren, wissen, daß sich die Anzeichen für den Untergang häufen. Aber sie denken auch: Jede Zeit ist den Menschen vermutlich als die furchtbarste erschienen.

O-Ton Melchior und Michelangelo Findest du unsere Zeit nicht auch verkommen, Michel? Ja, Melchi, ich glaube, die Welt hat ihren Höhepunkt überschritten.

Die Inquisition und die Pest, Frauen brennen auf Scheiterhaufen, ich glaub, das geht nicht mehr lange.

Wollen wir uns mal nicht so wichtig nehmen. Denken die Pessimisten, die eigentlich Realisten sind, weil sie erkannt haben, daß es keine andere Spezies gibt, die so habgierig, boshaft, verkommen und neurotisch ist wie der Mensch.

Und trinken einen Kaffee, einen Schnaps. Was sollen sie sonst auch trinken? Oder tun?

Es ist:

Zu spät für Lösungen.

Es gibt:

Keinen Anfang und kein Ende.

Keine Konturen.

Die Menschheit ist schon immer Scheiße gewesen.

Und nun ist auch noch die Welt, auf der sie herumläuft, zu einem Haufen Dings geworden, aufgestapelte, wurmstichige Bretter, alles, was Leute mit Schwung, Gier und Dummheit aufgehäuft hatten in ein paartausend Jahren.

Zieht man ein Teil heraus, stürzt der Rest in sich zusammen.

Einige Bretter sind entnommen worden.

Keiner hat mehr eine Ahnung. Alle wissen gleich viel. Jede Sekunde kann jeder eine neue Meinung haben und sie, ist er dumpf genug, auch äußern. Aber alles ist falsch. Die Zeit der Meinungen ist vorbei. War früher, als die Welt überschaubar schien, sich Gut und Böse besser bestimmen ließen. Es hat zu viele Menschen heute, zu viele Schattierungen, zuviel Geräusch, gibt weder links noch rechts, nur

ein wenig Moral existiert noch. Aber was das ist, bestimmt jeder für sich.

Zu nah sind sich die Länder durch den unentwegt überall Tag und Nacht rauschenden Fluß manipulierter Informationen.

Zu billig die Reisen, daß jeder überallhin kann und sich eine Meinung bilden, im Urlauberreservat.

Alle wissen Bescheid.

Zu unklar die Lage.

Der letzte große Krieg hat begonnen. Die geschickt eingeleitete Schlacht der Giganten. Ein paar Godzillas verteilen die Weltherrschaft neu. Ob sie bedacht haben, daß es im Anschluß vielleicht keine Welt mehr geben wird?

Aber auch wir hier unten haben was zu tun. Unterentwikkelte Nebenkriege für die kleinen Leute. Seit ein paar Jahren ist die scheinbare Ordnung der Welt, die durch Diktatur und Mord, Gesetze und Folter hergestellte Ordnung der Welt, durcheinandergeraten. Die Twin Towers, Aufräumarbeiten in Afghanistan und dem Irak, viele kleine Plakate mit Friedenstauben, tote Russen in der Oper, tausend



Attentate, die kaum mehr einen interessieren.

Europa ist noch ruhig, ruht sich noch aus in seiner vermeintlichen Überlegenheit. Doch es ist ungemütlich geworden. Auf allen Kontinenten bricht die Wirtschaft zusammen, Handyanschlüsse werden gesperrt, Jungjournalisten machen Karriere als Obdachlose, Broker erhängen sich. Überall werden westliche Touristen entführt. Hunderttausend Menschen im Land, davon 30 Prozent Teenager, bringen sich Jahr für Jahr um, ohne andere mit in den Tod zu nehmen – was für eine Verschwendung. Keiner glaubt, keiner will mehr etwas. Außer persönliches Glück. Doch woher soll das kommen, wohin gehen – zu Leuten, die nicht bei sich sind? Da will doch keiner hin.

In allen Ländern, die nicht von Weißen bewohnt sind, wird weiterhin massiv gestorben an Hunger und Seuchen.

Die Bürgerkriege sind so zahlreich, daß man mit ihrer Registrierung nicht nachkommt, sich nicht im Ansatz die Namen all der neuen Zwergstaaten merken kann, von denen jeden Tag ein paar entstehen. Es wohnt ohnehin keiner mehr da, alle gestorben im Unabhängigkeitskrieg.

Also nichts Neues.

In Europa ist es spannender. Malaria, Beri-Beri und die Krätze, die in unseren Breitengraden, in unseren überlegenen Leibern nix verloren hatten, sich aber wegen der Klimaveränderung prima entwickeln konnten, erobern den Norden, was aber nicht weiter schlimm ist, weil der sowieso gerade weggespült wird. Es ist das dritte Jahr der Flut. Das Fernsehen zeigt, wie in den Jahren zuvor, per Live-Cam 24 Stunden lang Überschwemmung. All die nutzlos Schlaflosen können in den frühen Morgenstunden beobachten, wie Kühe in den großen Abfluß der Erde strudeln und übergewichtige Menschen, die ihren Lebenshöhepunkt nie gehabt haben, kleine

Sandsackwälle gegen meterhohe Wassermassen errichten. Schwitzend versuchen sie, seltsame Couchgarnituren aus hellem Kunstholz mit Bezügen, auf denen lilafarbene Dreiecke torkeln, gegen die Plörre aus Kot und aufgeweichten Gräbern zu schützen. Sie weinen in die Kameras, während das Wasser einen Totenschädel gegen ihre dicken Knie spült.

O-Ton Ossi Herbert Mein Hab und Gut – alles dahin.

Vierzig Jahre Arbeit, stückweit umsonst. Erst hat uns die DDR betrogen um unseren gerechten Lohn, und dann kamen die Wessis und die Treuhand und der Teuro. Von vorne bis hinten beschissen. Ich bin Frührentner, da, sehn Sie, na, Sie sehen nichts, da ist das Bein weg. Noch mal alles aufbauen, das kann ich vergessen. Und von wegen Entschädigung, da lach ich, wie das aussieht, wissen wir: fünfzig Mark Begrüßungsgeld und ein Bündel Bananen.

An dem Haus hatte ich ja soweit alles selber gemacht. Zuletzt den Grillplatz im Garten. Mit Platten auf dem Boden und einer Laube, und die Bänke hatte ich angemalt, da hinten, sehen Sie, da wo der Fluß so breit ist, überdacht hatte ich das und mit Glitzerschlangen geschmückt, und noch letztes Wochenende haben wir da gesessen. Freunde und ihre Frauen. Wir haben Ferkel gegessen und Korn getrunken, wir haben gelacht und Karten gespielt, und selbst mit meiner Frau habe ich mich wieder verstanden. Auch sexuell. Dann war ich so voll, daß ich kotzen mußte, das schöne Ferkel kam wieder raus, ich dachte, wie der Spieß durch seinen Mund ging, und daß es eigentlich aussah wie ein gegrillter Mensch. Da hinten stand mein Auto. Ein Mercedes. Gebraucht zwar, aber immerhin ein Einspritzer

und mit Handschaltung, wegen des Beines. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Ohne Auto sind mir die Hände gebunden. Die Einbauküche ist noch nicht abbezahlt.

Meine Frau ist ertrunken, als sie versucht hat, die Couch zu retten. Die war erst drei Monate alt.

So unerheblich, ob sie ihre Pappmaché-Häuser wieder errichten oder sich in Höhlen verkriechen, zu erwarten steht von den Menschen nichts Überraschendes. Nachdem das Wasser abgezogen, die gold-blau-gelb gestreiften Tapeten wieder angebracht, werden sie Kredite aufnehmen, um sich rasch neue, große Autos zu kaufen. Sie werden in die Supermärkte kriechen, über eingetrocknete Schlammschollen, und billig Fleisch kaufen, Früchte und Zeug, das anderenorts für Pfennige produziert worden ist.

O-Ton Manni Ich hab’s auch nicht so dicke. Ich muß schon auf den geldwerten Vorteil achten, und grad beim Essen kann ich mir keine großen Sprünge erlauben.

Sich aufregen, wenn sie erfahren, daß die Brocken, die in ihren Leibern verwesen, von mit Pestizid vollgestopften toten Tieren stammen. Siewerden schreien: Mein Hab und Gut, wenn sich ihre Körper auf Couchgarnituren auflösen.

Und der letzte oder vielleicht erste Gedanke ihres Lebens wird sein: Die da oben haben uns verarscht.

Das ist er also, der Beginn des neuen Jahrtausends.

Was gerade hinter uns liegt, ist mäßig interessant. Die 80er Jahre mit dieser fast rührenden Anbetung des Geldeswaren harmlos gewesen imVergleich zu den 90ern,

dem Jahrzehnt der komplett verblödeten Jugend, die Millionen mit nichtexistierenden Dingen verdiente, jeder sein eigener Börsenguru, dieWelt im globalenWahn, da wurde aufgekauft, expandiert, ausgebeutet und gelebt, als seien

alle unsterblich. Weil die Bevölkerung der westlichen Welt hoffnungslos überaltert war, wurde Jugend als luxuriöse Qualität verehrt. Zwanzigjährige schrieben Bücher, Fünfzehnjährige machten Millionen mit Musik, Vierzehnjährige waren Top-Models. In Zeitungen, Magazinen und im Fernsehen erklärten minderjährige Schwachköpfe im deliriösen Orgasmus ihrer eigenen Größe die Welt. Alle anderen

waren Verlierer, alt oder ohne Lehrstelle, waren Ausländer oder Proleten, tanzten verzweifelt, mit Drogen zugedröhnt, auf Technoparaden und ließen sich als Spaßgeneration beschimpfen. Das Jahrzehnt hatte den Körper zum heiligen Dings erklärt, gerade weil keiner mehr Körper brauchte, Männer keine Muskeln mehr benötigten, denn der neue Mittelstand, das neue Mittelmaß, die geistige Elite, hockte vor Computern, während ihre Frauen jung und straff sein mußten, und so waren die 90er auch das Jahrzehnt der Schönheitschirurgie, der Hülle, der Leere.

Was nun wohl kommen mochte? Aufräumen zum Neubeginn?

O-Ton Kakerlaken Yes Sir.

 

Aufgabenstellung:

1. Fertigen Sie eine Inhaltsangabe des Textes an, die die wesentlichen Gedanken

des Textes enthält und leicht lesbar ist.

2. Deuten Sie den Text in Form einer Textinterpretation; klären Sie dabei auch

die Frage der Gattungszugehörigkeit.

3. Kann man sagen, dass das im Text behandelte Thema für die Moderne typisch

ist? Beziehen Sie in Ihre Überlegungen Vergleichstexte mit ein.

 


Date: 2016-03-03; view: 602


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