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Mittelmäßiges Heimwehvon Wilhelm Genazino

Es ist frühabend und immer noch hell. Die Stadt ist fast leer. Die meisten Leute sind in Urlaub oder sitzen in Gartenlokalen. Die Hitze drückt auf die Dächer. Ich könnte in mein Apartment gehen, aber dort ist es genauso warm wie draußen.

Gestern abend bin ich so lange in der Stadt umhergelaufen, bis ich durch die Müdigkeit ganz leicht geworden war. Schließlich habe ich mich auf eine Bank gesetzt und bin dort sogar eingeschlafen. Grölende Jugendliche haben mich zwanzig Minuten später geweckt, das war unangenehm. Es ist nicht einfach, ein einzelner zu sein. Ein Halbschuh liegt auf der Straße, die Sohle nach oben. Aus einer Seitenstraße kommt das Geräusch eines Autos, das über eine Plastikflasche fährt. Es überholt mich ein Angestellter mit einem über der Schulter hängenden Koffer. Der Koffer zieht so stark nach unten, daß der Trageriemen den Rückenteil des Anzugs nach unten zieht und den Mann wie ein gehendes Unglück aussehen läßt. Ich ekle mich ein bißchen über die tief nach unten hängenden Unterlippen einiger vorüberkeuchender Jogger. Die Türen vieler Lokale sind weit offen. In

manches Lokal trete ich kurz ein und kehre rasch wieder um. In Kürze werde ich dazu keine Lust mehr haben und mich einfach irgendwo auf einen Stuhl setzen und ein Glas Bier bestellen. Ich biege in die Wormser Straße ein und sehe in einiger Entfernung das Sportlereck. In diesem Lokal bin ich in der vorigen Woche zweimal gewesen. Der Wirt hob schon beim zweiten Mal wohlwollend die Hand, als er mich wiedererkannte. Die Tür und die Fenster des Pils-Stübchens sind

ebenfalls weit geöffnet, der Lärm der Besucher dringt auf die Straße und vermischt sich mit dem Lärm anderer Wirtschaften. Seit etwa einer Woche werden im Fernsehen die Spiele der Fußball-Europameisterschaft übertragen. In den meisten

Lokalen sind die Fernsehapparate eingeschaltet. Meine Schritte führen mich halbautomatisch in die offene Tür des Sportlerecks hinein, obwohl ich mich nicht für Fußball interessiere. Ich suche sogar den Blick des Wirts, damit er in mir wieder den halbwegs bekannter werdenden Fremden erkennt. Im Sportlereck ist an der rechten Stirnseite eine Großbildleinwand aufgebaut, und an der vorderen Stirnseite, fast über der Theke, hängt ein zweiter, normaler Fernsehapparat.

Besonders stark ist das Geschrei, wenn zwei verschiedene Spiele gleichzeitig übertragen werden. An diesem Abend spielt auf der Großbildleinwand Deutschland gegen Tschechien. Das Lokal ist voll, obwohl das Spiel noch nicht

begonnen hat. Ich finde noch einen Sitzplatz ganz vorne, dicht vor der Wand. Männer in Unterhemden treten ein und drängeln sich zwischen Garderobe und Theke nach vorne und lassen sich auf einer Holzbank nieder. Ein übergewichtiger

Mischling betritt die Kneipe, einige Leute rufen: Hansi kriegt sofort ein Bier. Ich bestelle ein GlasWeißwein und ein Mineralwasser. Einige Frauen massieren ihren Männern den Rücken. Die Frauen sind es, die am lautesten schreien. Das Spiel wird angepfiffen, der Wirt stellt vor dem Mann namens Hansi ein riesiges Bier ab. Die meisten Gäste sind mit den deutschen Spielern sofort unzufrieden. Kauf dir eine Blindenbrille, ruft ein Mann einem Spieler nach. So geht’s nicht, sagt der Mann neben mir. Nach einer halben Stunde sagt der Reporter: Deutschland macht zuwenig. Ein ältliches Fräulein sagt am Nebentisch: Manchmal lauert die Gefahr



dort, wo man sie nicht wittert. Männer gehen zwischendurch nach draußen, laufen eine Weile umher, wenn sie zu erregt sind. Ich sitze jetzt mitten im allgemeinen Gebrüll. Der Wirt bringt neue Biere und sagt: Wenn die Deutschen jetzt kein Tor machen, kriegen sie in der achtzigsten Minute eines rein, und dann ist Feierabend. Das Zittern nimmt zu, sagt der Reporter.

In der Halbzeit überlege ich kurz, ob ich nicht doch nach Hause gehen soll. Das Fußballspiel unterhält mich nur schwach. Ich betrachte die Zuschauer, nicht das Spiel. Besonders die schreienden Frauen haben mich in der ersten Halbzeit

beeindruckt. Viele von ihnen stehen auf, wenn sie erregt sind und die Spieler ausschimpfen. Zu Beginn der zweiten Halbzeit ertönen Pfiffe im Stadion. Ein bißchen bange ich auch darum, daß die deutsche Mannschaft das Spiel verlieren

könnte. Dabei kenne ich keinen einzigen Spieler mit Namen.

Nur als Kind wußte ich ein bißchen Bescheid, aber auch nur, weil ich vor den anderen Kindern nicht ahnungslos sein wollte. Wieder schießt ein deutscher Spieler knapp neben das Tor, der Lärm und die Empörung im Lokal sind drastisch.

Ein Mann beugt sich über meinen Tisch und sagt: Das sieht aus wie 74, jetzt kommt ein Konter, dann fällt ein Tor, und dann ist es aus, Sparwasser damals! Ich nicke, als wüßte ich, wovon er redet. Das Zittern nimmt zu, sagt der Reporter.

Ein Mann bietet mir fünf Euro für meinen Platz vor der Wand, ich lehne ab. Das ältliche Fräulein verschwindet auf der Toilette und lächelt mich bei der Rückkehr an. Die Uhr tickt gnadenlos, sagt der Reporter, es wird eng für Deutschland. Die Stimmung im Lokal schwankt stark. Bislang war die Mehrheit der Zuschauer auf der Seite der Deutschen, aber mehr und mehr Zuschauer sind jetzt Anhänger der

Tschechen. Plötzlich ein schreckliches Schreien und Kreischen. Die Tschechen haben ein Tor geschossen. Die Deutschen, diese Schnarchsäcke, schreit ein Mann und haut auf den Tisch. Ein Meer von tschechischen Fahne ist zu sehen.

Viele Zuschauer zahlen und verlassen das Lokal. Plötzlich sehe ich unter einem der vorderen Tische ein Ohr von mir liegen.

Es muß mir im Gebrüll unbemerkt abgefallen sein. Offenbar hat es niemand bemerkt. Ich will nicht mit unüberlegten Handlungen auffallen, ich gehe auf die Toilette und schaue in den Spiegel. Es ist wahr, mein linkes Ohr ist weg. Offenbar habe ich es im Schrecken über das Gekreisch verloren. Ich sehe mein Ohr am Boden liegen wie ein kleines helles Gebäck, das einem Kind in den Schmutz gefallen ist. Ich überlege kurz, ob ich das Ohr aufheben und mitnehmen soll.

Aber ich kann gar nicht überlegen, ich bin erstarrt. Mir wird ein bißchen schlecht, ich kann keine Entscheidungen fällen. Ich lege mein Haar notdürftig über die Stelle, wo früher das Ohr war. Ich verlasse die Toilette und gebe mir Mühe, mein

zurückbleibendes Ohr nicht noch einmal anzuschauen. Tatsächlich besteht zwischen dem Ohr und mir jetzt schon eine riesige Distanz. Ich drängle mich durch das Lokal und zahle an der Theke. Mühsam mache ich mir klar, daß ich seit ein

paar Minuten in einer Tragödie lebe. Während der letzten Jahre habe ich immer mal wieder in Tragödien gelebt. Insofern ist das tragische Lebensgefühl für mich nichts Neues. Aber diesmal scheint es sich um eine bösartige Tragödie zu

handeln. Sehen die anderen mein Entsetzen? Zum Glück sind nur wenige Menschen unterwegs. Eines meiner innerlichsten Probleme ist, daß ich nicht mehr mit der Kompliziertheit des Lebens in Berührung kommen will. Erst vor ein paar Tagen habe ich mir vorgenommen, meinen Alltag so einzurichten, daß ich nur noch einfache Verhältnisse mit einfachen Personen darin vorfinde. Lächerlich! Ich sage mir vor, was gerade geschehen ist: Du hast im überstarken Lärm eines Lokals ein Ohr verloren. Nach Art der Menschen beginne ich bereits, mein Unglück zu relativieren. Es gibt viele Menschen, denen ein Bein, ein Arm, eine Hand oder ein Finger fehlt, warum sollte es nicht jemanden geben, dem ein Ohr fehlt? Die innere Unstimmigkeit meiner Relativierung liegt darin, daß ich schon viele beinlose, armlose, handlose Menschen gesehen habe, aber einen einohrigen Menschen

noch nie. Aber wie man sich an die anderen gewöhnt hat, so wird man sich auch an einen Einohrigen gewöhnen. Am besten wäre, wenn es demnächst mehr Einohrige geben würde. Dann würde ich nicht mehr so stark auffallen wie in diesen

Augenblicken vor mir selber. Künftig werde ich mich nur noch in leisen Umgebungen aufhalten dürfen. Das bedeutet, daß mein Alltag kompliziert werden wird. Wieder und wieder fällt mir das Bild meines im Bodenschmutz eines elenden

Lokals liegenden Ohres ein. Ein paar Schluchzer ringen sich mir durch die Kehle. Ich beobachte eine Weile den Eingang des Hauses, in dessen fünften Stock ich ein Ein-Zimmer- Apartment mit Bad und Küche bewohne. Nichts regt sich.

Ein blauer Plastikhandschuh liegt zwischen zwei geparkten Autos. Einmal kommt eine junge Frau vorüber. In der linken Hand trägt sie einen Tierkäfig, in dem sich eine schreiende Katze befindet. Ich stehe an einer Ecke und habe blöde Gedanken.

Zum Beispiel finde ich es jetzt schon angemessen, daß einohrige Menschen in Ein-Zimmer-Wohnungen leben. Dabei habe ich es nicht gern, wenn ich abschätzig auf mein eigenes Leben herabschaue. Die Leute sitzen vor ihren Fernsehgeräten, der Lärm der Zuschauer dringt aus den offenen Fenstern nach draußen. Ich warte noch zwei Minuten, dann schließe ich die Haustür auf und betrete den Fahrstuhl.

Es gelingt mir, ungesehen die Tür meines Apartments zu erreichen. Eine kleine Spinne ist durch das offene Fenster in meine Wohnung eingedrungen und läuft an der Decke entlang. Ich setze mich auf das Bett und schalte kein Zimmerlicht

an. Langsam kommt Bewegung in die Wohnungen und Treppenhäuser ringsum. Viele Bewohner gehen nach dem Fernsehen noch einmal auf die Straße. Das laute Reden von alkoholisierten Menschen macht mir schlechte Laune. Ich trete an mein Fenster und nehme die Tomate in die Hand, die dort seit ein paar Tagen liegt. Immer mal wieder spiele ich mit dem Gedanken, die Tomate auf die Leute zu werfen, die laut und polternd auf der Straße reden. Aber ich finde den Mut nicht. Ich lege die Tomate auf das Fensterbrett zurück und setze mich erneut auf das Bett. In der langsam zunehmenden Stille höre ich jetzt nur noch das gelegentliche Stöhnen des Fahrstuhls. Mir wird deutlich, daß ich so allein bin wie wahrscheinlich nie zuvor in meinem Leben. Dabei will ich von meiner Einsamkeit kein Aufheben machen. Ich bin vergleichsweise gebildet und weiß seit langer Zeit, daß Einsamkeit

unausweichlich ist. Ein wesentlicher Grund für die Einsamkeit der Menschen ist, daß viele Einsame … ach nein, ich will dieses alte Zeug nicht denken. Im Radio läuft Figaros Hochzeit, eine Übertragung aus irgendeinem Festspielort.

Aus der Wohnung über mir dringen Beischlafgeräusche zu mir herunter. Zuerst höre ich eine Weile das Knatschen eines Bettgestells, dann das Stöhnen der Frau. Ich schalte das Radio aus, weil ich das Stöhnen deutlicher hören möchte. Erst vor kurzem habe ich eine Frau kennenlernen wollen. Sie sitzt dann und wann mit mir morgens in der Straßenbahn und schaut mich empfänglich an. Aber wie spricht man eine fremde Frau an? Vielleicht habe ich es verlernt. Als ich mir endlich ein paar Sätze zurechtgelegt hatte, fuhr die Frau nicht mehr mit der Straßenbahn. Sie radelte elegant draußen an der Bahn vorbei. Jetzt muß ich warten, bis es Winter wird und die Frau wieder mit der Straßenbahn fährt. Die Vergeblichkeit macht einen starken Eindruck auf mich. Aber jetzt, mit einem fehlenden Ohr, werde ich vielleicht keine Chance mehr haben. (...)

 

Aufgabenstellung:

1. Fertigen Sie eine Inhaltsangabe des Textes an, die die wesentlichen Gedanken

des Textes enthält und leicht lesbar ist.

2. Deuten Sie den Text in Form einer Textinterpretation; klären Sie dabei auch

die Frage der Gattungszugehörigkeit.

3. Kann man sagen, dass das im Text behandelte Thema für die Moderne typisch

ist? Beziehen Sie in Ihre Überlegungen Vergleichstexte mit ein.


Date: 2016-03-03; view: 515


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