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Stigma Umhängetasche

Sie sind 34, tragen Drei-Tage-Bart am ganzen Kopf, ein verwaschenes American-Apparel Sweat-Shirt, Acne Jeans, eine Sonnenbrille, die größere Gläser hat, als Jacqueline Kennedy-Onassis sich jemals hätte vorstellen können – und morgens nach dem Aufstehen tut Ihnen der Rücken weh? Sie sind 33, tragen eine Pony-Frisur für 19,90 Euro, sind in ein weiß-himmelblaues Nachthemd mit Rüschen-Saum gewandet, das sie in diesem abgefahrenen Concept-Store in Berlin-Mitte erworben haben, tragen eine Sonnenbrille mit Gläsern so groß wie CDs – und die Tränensäcke wollen heute trotzdem partout nicht abschwellen?

Mir geht es ähnlich. Das liegt daran, dass uns der biologische Alterungsprozess eingeholt hat, während wir uns gerade mal auf der Schwelle zwischen Postpubertät und Jugend wähnen. Mag sein, dass Sie gefühlt erst vorgestern Abitur gemacht haben, doch die Wahrheit ist, dass Sie eine immer schlechtere Kopie Ihrer selbst werden. Jeden Morgen, wenn Sie aufwachen, werden Sie gerade mal wieder gründlich genetisch durchgexeroxt, und die abgestorbenen Reste Ihrer Jugend liegen als klägliche Hautschuppen auf dem Bettlaken. Tragisch auch der Umstand,

dass Sie sich nicht einmal das Fahrzeug leisten können, das Ihrer Generation seinen Namen geliehen hat: Ein neuer VW-Golf kostet wesentlich mehr, als Sie mit Ihrem digitalbohemistischen Kleinunternehmen im Jahr erwirtschaften.

Auch wenn Sie über die Künstlersozialkasse versichert sind, Ihr Schlafzimmer untervermieten und ab und an die Hunde Ihrer Nachbarin ausführen. Es reicht einfach nicht.

Ihre Rückenschmerzen rühren wahrscheinlich daher, dass Sie Ihre Tage damit verbringen, eine Umhängetasche grotesken Ausmaßes durch die Gegend zu schleppen. Sie ist der Nachfolger des in Ihrer Kindheit schon schwer überladenen

Schulranzens und des später folgenden Rucksacks, den Sie mit einem der Gurte über der rechten Schulter trugen. In meiner Umhängetasche befi nden sich zum Beispiel gerade: ein weißer Mac, ein Stadtplan, Schlüssel, eine Flasche Mineralwasser von Vittel, ein Pop-Roman im Taschenbuchformat, ein Moleskine-Notizbuch, die Zeitschrift Neon, ein iPod, ein Fläschchen mit hautstraffender Lotion, ein Sechserpack Red- Bull, eine Schachtel mit stimmungsaufhellenden

pflanzlichen Präparaten und eine frische Unterhose, Kondome, ein Pickelstift,

eine Packung Kinderschokolade, drei Ladegeräte. Die Tasche ist, obwohl von Ortlieb, unten schon ganz ausgerissen. Fragen Sie sich auch manchmal, warum Sie jeden Tag Ihren halben Haushalt mit sich herumschleppen? Und zwar in einer

Tasche, die eigentlich für Fahrradkuriere konzipiert wurde? Sind Sie Fahrradkurier? Haben Sie überhaupt ein Fahrrad? Ich nicht.

Diese monströse Umhängetasche ist in Wahrheit ein Mühlstein, der Sie hinabzieht in einen Abgrund aus romantischer Regression und depressivem Stillstand. Sie ist das Symbol Ihres Status: nicht mehr ganz jung und dafür total gut ausgebildet,



nicht mehr ganz dumm und doch nicht so klug, um die Zeichen der Zeit zu erkennen und sich einem verantwortungsvollen, neuen Lebensabschnitt zu stellen: dem Erwachsensein. Mit dieser Tasche auf dem Rücken können Sie stattdessen nicht mal richtig gehen, denn durch das einseitig verlagerte Gewicht wird Ihr Gang schlingernd und notgedrungen tapsig-schlurfend.

Mir wurde die Fragwürdigkeit meines Tuns erstmals während eines Aufenthaltes im Libanon klar. In Beirut, das sich unermüdlich müht, seinem Ruf als »Paris des Nahen Ostens« wieder gerecht zu werden, fragte man mich abends beim Essen in Downtown, warum ich denn heute meine lustige Handtasche nicht dabei hätte. Gemeint war keineswegs ein neckisches Herrengelenkhandtäschchen, sondern meine todernst gemeinte, für mich selbstverständliche Umhängetasche, die in einer der Schönheit und Eleganz zugeneigten Stadt wie Beirut nur amüsiertes Kopfschütteln hervorrief. Ich hatte sie lieber im Hotel gelassen, weil ich mich mit diesem Ausrüstungsgegenstand plötzlich fühlte, als trüge ich aus Versehen eine Damen-Jeans. Alles falsch, und meine Beteuerungen, dass so etwas in Berlin, Frankfurt und München zum alltäglichen Straßenbild gehöre, fanden in etwa so viel Glauben wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Als Mann geht man dort aufrechten Schrittes, und als Frau kommt man nicht auf die Idee, sich das Dekolleté mit einem gepolsterten Gurt zu zerpflügen.

Doch in Beirut können junge Menschen aufgrund der traditionellen Familien-strukturen meist nur von einem autonomen, erwachsenen Dasein träumen – dort ist es üblich, bis zur Heirat bei den Eltern zu wohnen. Hingegen mutieren junge Erwachsene in Deutschland zu prekären Langzeitadoleszenten, die als Symbol ihres unsteten Lebenswandels zwischen Praktikum und nächster Ausstellung, Projekt und präarbeitsweltlichem Sabbatical bereitwillig – oder doch eher

notgedrungen? – das Stigma Umhängetasche auf sich nehmen. Sie gehen in Kneipen, die »So wohl als auch« heißen und genau so gut »Vielleicht oder auch nicht«, »Ja, aber«, »Entweder Oder« oder »Eventuell« heißen könnten und trinken Latte Double Grande, bis der AIPler kommt. Sie sitzen beständig in der Lounge, doch der Flieger hat so viel Verspätung, dass fraglich ist, ob er überhaupt mal abhebt. Oder in Wohnzimmerkneipen, die klassische Einrichtungsgegenstände vom röhrenden Hirsch bis zur gemütlichen Couch ironisch gemeint bereithalten. Doch in Wahrheit sitzen Sie hier nur herum, weil Sie kein gemütliches Heim haben und vielleicht nur über eine Matratze am Boden, einen Schreibtisch und ein paar Ivar- Regale verfügen.

Diese ständige Verwechslung von öffentlichem und privatem Raum führte bei mir neulich dazu, dass ich im Rahmen einer Essenseinladung meine Zigarette auf dem Wohnzimmerteppich austrat. Ich wähnte mich in einer versifften Bar, bloß weil die Gastgeber eine weiche, gepolsterte Sitzgruppe ihr Eigen nannten. Und wurde dafür nicht einmal getadelt, denn eine solch berechtigte Unmutsbekundung hätte das Paar womöglich in den Ruch der Spießigkeit bringen können, was in der Langzeitadoleszenz-Szene schnell den sozialen Tod bedeuten kann.

Man sollte vielleicht doch mal erwachsen werden. Dieser Gedankengang ist Ihnen bestimmt vertraut. Vielleicht wird Ihnen sogar von Ihrer Familie oder Freunden des Öfteren nahe gelegt, doch nun bitte endlich mal erwachsen zu werden –

weshalb Ihnen dieses Buch schön verpackt zum Geburtstag geschenkt wurde; vielleicht hat es Ihnen auch jemand als diskreten Hinweis einfach in die Umhängetasche gepackt. Die Frage ist nur: Wie soll das gehen? Erwachsenwerden findet ja gar nicht mehr statt. Das Alter, die Kindheit und die Jugend sind thematisch in Verlauf und Struktur hinreichend problematisiert, analysiert und diskutiert worden – von der Frühförderung bis zum Methusalem-Komplott. Doch ein Lebensabschnitt bleibt völlig im Dunklen: das Erwachsenenalter.

Damit verhält es sich so ähnlich wie mit dem Tod, also dem Ende sämtlicher Lebensabschnitte: Der Tod fi ndet gar nicht mehr statt, er scheint nicht zu existieren. Kein Mensch weiß heute mehr, was Erwachsensein bedeutet, denn der Begriff wird im Zeitalter völlig entgrenzter Jugendlichkeit nur noch in ironischen Anführungsstrichen verwendet. Die Zeitschrift Neon, Zentralorgan der Langzeitadoleszenz-Selbsthilfegruppe, warb lange Zeit mit dem Slogan »Eigentlich sollten wir erwachsen werden«, in Berlin jinglet der Akademiker-Sender »Radio Eins« täglich unzählige Male und schmerzhaft-augenzwinkernd

mit dem Slogan »Nur für Erwachsene«. Doch tatsächliche Erwachsene existieren in den westlichen Industriegesellschaften anscheinend nur noch als Gerücht, als

dunkle Ahnung. Oder als Feindbild bzw. Phantasma des Horrors: Wenn dieser Lebensabschnitt überhaupt wahrgenommen wird, dann höchstens als Vorstufe zum Windelntragen. Es ist richtig, dass am Anfang und am Ende des Lebens Windeln stehen.

Aber der Hauptteil liegt zwischen diesen Phasen.

Derweil wird Deutschland von einem permanenten Gammelfleischskandal heimgesucht: Durch verzweifelte Umetikettierung versuchen Mann und Frau, die längst oder zumindest gerade das 30. Lebensjahr überschritten haben, die

jugendliche Frische von Jungs und Mädchen vorzutäuschen. Doch der hauchdünne Zellophan-Firnis aus Attitüde und Concealer droht jeden Augenblick zu zerreißen. Da will man nicht gerne daneben stehen.

Keiner weiß also, was Erwachsenwerden bedeutet. Ich habe einfach mal im Lexikon nachgeschaut. Entwicklungspsychologisch bezeichnet man das Erwachsenwerden als »Adoleszenz «, was so viel wie »heranwachsen« bedeutet. Es handelt sich um das Übergangsstadium in der Entwicklung des Menschen von Kindheit (Pubertät) hin zum vollen Erwachsensein und stellt den Zeitabschnitt dar, währenddessen eine Person biologisch ein Erwachsener, aber emotional und sozial noch nicht vollends gereift ist. Das der Adoleszenzphase zugeordnete Alter wird in verschiedenen Kulturen unterschiedlich aufgefasst. In den Vereinigten Staaten gilt man im Allgemeinen bereits bei Pubertätsbeginn als Adoleszenter: Die Phase beginnt im Alter von 13 Jahren und endet etwa um 24 Jahre herum. In Deutschland versteht man die Adoleszenzphase je nach Entwicklungsstadium als die Zeit von 17 bis 24 Jahren.

Im Gegensatz dazu definiert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Adoleszenz als die Periode des Lebens zwischen 10 und 20 Jahren. Denn keineswegs überall auf der Welt haben junge Menschen das Privileg, eine ausgedehnte Jugendphase für sich in Anspruch zu nehmen. Im Gegenteil: Die meisten kommen nicht einmal in den Genuss einer ordentlichen Kindheit.

Entscheidend ist also, dass es sich bei der Adoleszenz um ein Übergangsstadium handelt. Das bedeutet: Dieser Abschnitt endet ab einem gewissen Zeitpunkt und kann nicht endlos ausgeweitet werden. Es handelt sich laut dem Verhaltens-psychologen Erik Erikson um ein »psychosoziales Moratorium«, einen vorübergehenden Entwicklungsfreiraum.

Die Gewährung und Finanzierung dieses Freiraums, eine Art Partykeller, dessen Miete von den Eltern übernommen wird, in dem gekifft, gesoffen und laute Musik gehört werden darf, ist jedoch mit einer Aufl age verbunden: Wenn die Party beendet ist, erfolgt der Eintritt in das bürgerliche Leben: die Übernahme der elterlichen Fleischerei, der Antritt des Lehramtes, die Gründung einer eigenen Familie. Das Erwachsensein.

Die meisten Gäste sind nun schon gegangen, nur wir sitzen hier noch im Partykeller rum. Der harte Kern. Die üblichen Verdächtigen. Und trinken noch einen Absacker: So jung kommen wir schließlich nicht mehr zusammen! Die Chips

sind alle, die Musik ist aus wegen der Nachbarn, stattdessen wummern die Kopfschmerzen von morgen bereits leise in Ihrem Schädel. Können Sie noch oder ist Ihnen auch schon irgendwie schlecht? Mir schon länger. Wenn Sie auch das

Gefühl haben, dass es so nicht weitergehen kann, mache ich Ihnen einen Vorschlag. Ich gehe mit Taschenlampe und Kompass voraus, und wir veranstalten ein fröhliches und doch auch straff geführtes Boot-Camp mit mir als Erstem Offizier.

Gleich morgen früh geht es los. Es gibt auch Exkursionen und kurzweilige Lichtbildvorträge. Sie können sich mir im Rahmen dieser Expedition ruhigen Gewissens anvertrauen. Es ist so ähnlich wie bei den Anonymen Alkoholikern oder Alan Carr, dem Nichtraucherpapst, der ausgerechnet an Lungenkrebs

gestorben ist. Betroffene helfen Betroffenen, und meine Recherchen zum Thema Erwachsenwerden haben bislang schon ganze 35 Jahre in Anspruch genommen. Ich habe das Terrain schon mal sondiert und weiß ungefähr, wo die Minen liegen. Einen ersten Schritt in Richtung Erwachsenendasein haben wir ja im Prinzip auch schon getan, ohne dass Sie es mitbekommen haben: Wir sprechen uns mit »Sie« an, statt uns im üblichen Jargon der Berufsjugendlichkeit zu duzen.

Es geht darum, endlich die Schwelle zum nächsten Lebensabschnitt zu überschreiten. Auf der Schwelle, also unter dem Türsturz, ist man zwar sicher vor Erdbeben, kommt aber auch einfach nicht in den nächsten Raum. Sie hängen mit

Ihrer Tasche im Türrahmen fest, und es geht weder vor- noch rückwärts. Dabei ist dort drüben im anderen Raum die Bühne des Lebens, auf der man im Licht der Scheinwerfer sein Lied absingen muss – und wenn man Pech hat, kommt hinterher

Dieter Bohlen und sagt einem, dass man sich anhört wie eine Kröte. Soll er doch, dabei sein ist alles. Außerdem wird es jetzt langsam Zeit: Auf der Bühne drängelt sich schon seit ewiger Zeit ein riesiger Gospel-Chor verbissen junger Alter, der ständig »Talking about my Generation« zum Besten gibt. Und hinter Ihnen warten schon die tatsächlich Jungen auf Ihren Auftritt und können nichts sehen, weil Sie den Türrahmen versperren. Haben Sie Lampenfi eber? Wie sagte doch neulich

jemand während der Geburtstagsfeier zum 50. Geburtstag eines Freundes: »Mein Gott, ist Erwachsenwerden schön.«

Sie hatte Pippi Langstrumpfs »Krumulus-Pillen« gegen das Erwachsenwerden nach langer Sucht einfach abgesetzt. Halten Sie nun bitte Ihre Umhängetasche in Griffweite bereit. Wir werden die Tasche gemeinsam Stück für Stück auspacken und die jeweiligen Gegenstände auf ihre Relevanz überprüfen. Vielleicht brauchen Sie den ganzen Kram ja inzwischen gar nicht mehr? Erwachsenwerden bedeutet, loslassen zu können. Loslassen vom bisherigen Lebensabschnitt. Das tut weh, aber danach stehen Sie vielleicht besser und freier da. Erwachsenwerden bedeutet, sein eigenes Leben zu leben: Die Suche ist nicht mehr Selbstzweck, sondern führt zum

Auffi nden des richtigen Weges. Wir werden versuchen, diese Orientierungs-schwierigkeiten gemeinsam zu überwinden.

Manchmal sieht man ja den Wald vor lauter Bäumen nicht. (…)

 

Aufgabenstellung:

1. Fertigen Sie eine Inhaltsangabe des Textes an, die die wesentlichen Gedanken

des Textes enthält und leicht lesbar ist.

2. Deuten Sie den Text in Form einer Textinterpretation; klären Sie dabei auch

die Frage der Gattungszugehörigkeit.

3. Kann man sagen, dass das im Text behandelte Thema für die Moderne typisch

ist? Beziehen Sie in Ihre Überlegungen Vergleichstexte mit ein.


Date: 2016-03-03; view: 629


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