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Abenteuer mit einem Jaguar

Am gleichen Abend noch rief Gerd an.

„Schöne Pleite40, was?", sagte er und meinte das Fußballspiel.

„Ja", sagte ich. „Aber die Engländer waren die bessere Mannschaft."

„Da hatte euer Engländer ja allen Grund zu jubeln. Na ja.

Und vielleicht auch zu sprechen. Spricht er denn in der Zwischenzeit?"

„Nein", sagte ich.

„Merkwürdiger Kerl", sagte Gerd.

Ja", sagte ich.

„Verängstigt oder schüchtern?"

„Vielleicht", sagte ich. „Oder auch nur Heimweh. Davon ist jedenfalls Mama überzeugt."

Am anderen Ende der Leitung herrschte kurzes Schwei­gen. Ich hörte Gerd atmen. Bevor er wieder sprach, machte er „hm".

„Und ihr meint, dass ihr ihn zum Sprechen bringt, wenn ihr es ihm so heimisch wie möglich macht?" Gerds Stimme klang nachdenklich. Als grübelte er neben­bei über etwas nach.

„Das war Mamas Idee. Weil sie, wie gesagt, fest daran glaubt, er hätte nur Heimweh. Deswegen hat sie hier die englische Dekoration eingeführt", sagte ich. „Ich hab da, ehrlich gesagt; so meine Zweifel."

„Der Gedanke deiner Mutter ist gar nicht so schlecht", be­tonte Gerd. „Vielleicht hat sie Recht." „Vielleicht", sagte ich wieder. „Aber allzu lange halte ich das Theater nicht mehr aus. „Bacon and eggs” schmecken furchtbar."

Gerd lachte ins Telefon.

„Das glaube ich dir", sagte er. Und kurz bevor ich den Hörer an meinen Vater weitergab, fügte er noch hinzu: „Morgen ist Freitag. Da ist dein Vater früher zu Hause. Da komm ich am Nachmittag mal bei euch vorbei. Ich hab da so eine Idee ..."

 

Tags drauf fuhr Gerd mit seinem alten Jaguar bei uns vor. Ich sah ihn kommen und rannte gleich nach draußen. Gerds alter Jaguar war das schönste Auto, das ich je gese­hen hatte. Eine blitzblanke, funkelnde Kostbarkeit auf vier glitzernden Speichenrädern. Runde, elegante Linien von vorne bis hinten.

„Hallo!", grüßte Gerd. „Wie wär's mit einer kleinen Probe­fahrt? Gestern Abend aus der Werkstatt gekommen. Neues Getriebe. Muss unbedingt eingefahren werden."

„Wow!", entfuhr es mir und ich rief nach meinem Vater. Der machte große Augen, als er den Jaguar vor unserer Tür sah. Immer schon hatte er Gerd um seine alten Autos beneidet. Und der Jaguar war das Schmuckstück in seiner Sammlung.

„Mensch, Gerd! Ist er jetzt wirklich fertig?", begrüßte mein Vater den Gerd.

Im Nu war er beim Auto. Der Jaguar hatte nicht nur ein neues Getriebe bekommen, sondern war auch neu lackiert worden. Ehrfurchtsvoll strich mein Vater mit der Hand über die glatte, glänzende Lackschicht. „Traumhaft schön!", sagte er.

Meine Mutter kam jetzt auch nach draußen und bewun­derte die Prachtkarosse. „Dein Jaguar?", fragte sie Gerd. Ja", antwortete er.

„Wunderschön!", schwärmte meine Mutter und musterte das Auto von vorne bis hinten.



Gerd öffnete die hintere Tür und grinste meine Eltern an. „Ich habe mir gedacht, dass wir mit eurem Sprachen­schüler eine Probefahrt unternehmen. Das passt doch in

euer Programm, es ihm so heimisch wie möglich zu ma­chen. Der Jaguar ist das englischste Auto, das es gibt." „Mensch, Gerd!", sagte mein Vater überrascht. „Keine schlechte Idee!"

„Ja", sagte meine Mutter. „Keine schlechte Idee. Ich hole ihn."

Sie ging ins Haus zurück und kam kurz drauf mit John wie­der nach draußen.

„Na, was sagst du?", fragte sie ihn. „Ein echter Jaguar." John sagte nichts. Mit gleichgültiger Miene wie immer trot­tete41 er hinter meiner Mutter her. Als er beim Auto ankam, nickte er andeutungsweise und ich glaubte, in seinen Augen wieder ein kleines Leuchten zu entdecken. So wie beim Sieg der Engländer.

„Eine Probefahrt?", fragte ihn Gerd und machte mit dem Mund Fahrgeräusche und hielt seine Hände an ein Lenkrad aus Luft.

Zu Johns Augenleuchten gesellte sich ein leichtes Nicken und zu unser aller Erstaunen ein sichtbares Lächeln. Meine Mutter und mein Vater tauschten darüber erfreute Blicke aus.

Johns Lächeln bestätigte sie darin, dass wir mit dem Thea­ter, das wir für John zu Hause veranstalteten, auf dem rech­ten Weg waren. Mein Vater klopfte Gerd anerkennend und freundschaftlich auf die Schulter. „Prima Idee!", sagte er.

Wenig später saßen Gerd, mein Vater, John und ich in der Edellimousine, während meine Mutter zu Hause blieb. Sie fand, es solle ein Herrenausflug werden. Innen im Jaguar war alles vom Feinsten: Ledersitze, aufwen­dige Holzverkleidungen an den Türen und am Armaturen­brett. Und überall funkelndes Chrom. Gerd startete den Motor und wir hörten hinten aus dem Auspuff das satte Blubbern von zwölf Zylindern. Sanft rollte das Auto aus unserer Straße. Die Fenster waren alle herun­tergekurbelt und der warme Fahrtwind spielte mit unseren Haaren. Vorne klopfte mein Vater mit der flachen Hand auf das Armaturenbrett und sagte einfach nur: „Tadellos!" Gerd wandte kurz seinen Kopf zu meinem Vater und lachte. Als wir den Ort verließen und auf die Landstraße kamen, drehte sich mein Vater nach uns um. „Tolles Auto! Nicht?", sagte er.

Ich nickte, John sah aus dem Fenster. Wir fuhren jetzt schneller. Der Fahrtwind wurde stärker, er wehte mir seit­lich in die Augen. Ich kurbelte mein Fenster hoch. Mein Vater schaute immer noch zu uns nach hinten. Seinen linken Arm hatte er auf die Rückenlehne gestützt. Der Wind wehte sein Haar nach vorn ins Gesicht. Er sah John an, der seinen Blick unverändert nach draußen gerichtet hatte, mitten in den Fahrtwind hinein, hinaus auf die Wiese, die mit ihren bunten Farbtupfern an uns vorbeisauste. „Tolles englisches Auto. Was?"

Ohne seinen Blick von draußen abzuwenden, nickte John. Vater drehte sich wieder nach vorn und Gerd fragte ihn: „Hat er gesprochen?" „Nein", sagte mein Vater.

Eine Weile genossen wir wortlos die Fahrt. Die Landstraße war leer und Gerd fuhr ziemlich schnell. Auch mein Vater und John hatten ihre Fenster inzwischen nach oben gekur­belt. Lediglich durch Gerds Fenster sog der Jaguar die Wie­sendüfte ins Wageninnere. Lässig legte Gerd den Ellen­bogen aus dem Fenster, während er mit der anderen Hand steuerte.

Wir fuhren eine kaum befahrene Nebenstraße in Richtung Berge. Nach ungefähr zehn Kilometern fuhr Gerd an den Straßenrand und stellte den Motor ab. „Na, willst du mal?", fragte er meinen Vater. Der sah ihn erschrocken an.

„Mensch, Gerd, was soll die Frage? Du weißt doch: Ich habe zur Zeit keinen Führerschein." Gerd ließ das als Grund nicht gelten. Er schüttelte den Kopf und winkte ab.

„Macht doch nichts", sagte er. „Hier fährt doch sowieso kein Mensch. Und die Polizei wird sich bestimmt nicht hierher verirren."

Mein Vater machte ein nachdenkliches Gesicht. „Liebend gern", sagte er. „Das kannst du dir ja denken. Aber ich weiß nicht..."

Er überlegte weiter. Die Verlockung war zu groß. „Kurzes Stück!", sagte er schließlich und stieg auf seiner Seite aus.

Gerd rückte innen auf den Beifahrersitz.

Als mein Vater auf der Fahrerseite einstieg, sagte ich:

„Aber Papa! Wenn dich die Polizei erwischt!"

„Ach, komm", maulte Gerd zu mir nach hinten. Jetzt verdirb

du ihm doch nicht die kleine Freude. Nur ein kurzes Stück.

Kein Mensch ist hier unterwegs."

„Paar Meter", sagte mein Vater zu mir und schenkte mir durch den Innenspiegel ein Verständnis heischendes Lächeln.

Ich sagte nichts mehr. Ich sah, wie mein Vater ehrfurchts­voll mit langsamen Bewegungen das Lenkrad streichelte. Dann glitt seine Hand nach unten zum Zündschlüssel und er startete den Motor.

Die ersten Meter fuhr er sehr vorsichtig. Aber als Gerd ihn dazu aufforderte, gab er mehr Gas und im Nu waren wir so flott unterwegs wie vorher, als Gerd am Steuer gesessen hatte.

Vor uns lag eine weite, überschaubare Ebene. Weit und breit war kein Auto zu sehen. Nun wandte sich Gerd zu uns nach hinten, wie zuvor mein Vater. Er schenkte John einen langen, interessierten Blick.

John!", sagte er. „Was für ein Auto hat dein Vater? Auch einen Jaguar?"

John sah nach draußen und schüttelte kaum merklich den Kopf.

„Rover?", fragte Gerd. John schüttelte den Kopf.

„Austin?" Kopfschütteln.

„Sag es mir doch! Was für ein Auto?" John antwortete nicht.

„Warum redest du denn nicht?", fragte Gerd eindringlich. John schwieg wie gehabt.

„Rede!", rief Gerd. „Welches Auto habt ihr zu Hause?" „Der redet nicht", wandte sich Gerd vorne an meinen Vater. „Dein Jaguar ist vielleicht nicht englisch genug", sagte mein Vater. „Er müsste das Lenkrad auf der rechten Seite haben. So wie in England."

Gerd sah meinen Vater mit großen Augen an. Sein Gesicht verzog sich zu einer erfreuten Grimasse. „Ich hab's!", rief er plötzlich, als hätte er den Stein der Wei­sen gefunden. „Nicht das Lenkrad muss auf der anderen Seite sein, sondern das Auto!" Mein Vater warf ihm einen fragenden Blick zu. „Wie meinst du das?"

„Na, wir müssen auf der linken Seite fahren! Wie in Eng­land. Ganz einfach", sagte Gerd. „Dann ist es wie bei ihm zu Hause! Los! Fahr auf die linke Seite rüber." „Ich werde mich hüten", sagte mein Vater und lachte. „Los!", sagte Gerd mit Nachdruck. „Fahr doch mal ein paar Meter auf der linken Seite. Ist doch nichts los hier. Kein Mensch weit und breit." „Ist doch Quatsch", sagte mein Vater. „Manchmal muss Quatsch sein", sagte Gerd. „Los, rüber auf die linke Seite!"

„Tu's nicht!", mahnte ich von hinten.

Jetzt fahr schon auf die linke Seite. Probieren können wir

es doch!", forderte Gerd.

Die Blicke meines Vaters wechselten zwischen Gerd und dem Innenspiegel, wo sie mich einfingen. „Mach schon! Ist doch einen Versuch wert!" Gerd bedrängte meinen Vater so stark, dass er schließlich nachgab und das Auto auf die andere Fahrbahnseite steuerte.

„Genau!", rief Gerd und lachte zu uns nach hinten. „Genau wie in England!"

Jetzt fuhr mein Vater ohne erkennbaren Grund und ohne Führerschein auf der linken Straßenseite. „Rede!", rief Gerd zu John nach hinten. „Was für ein Auto habt ihr?!"

Aber kein Wort verirrte sich über Johns Lippen. Jetzt wandte ich mich John zu.

„Sag: Fischers Fritze fischt frische Fische!", forderte ich ihn auf.

„Genau!", rief Gerd und schenkte mir einen anerkennen­den Blick. „Fischers Fritze fischt frische Fische! Eine gute Idee! Los, wiederhol das!"

„Fischers Fritze fischt frische Fische!", schrie mein Vater in den Rückspiegel.

„Fischers Fritze fischt frische Fische!", schrie Gerd. „Los! Sag es!"

John warf uns erschrockene Blicke zu und drückte sich so weit wie möglich gegen die Tür.

„Fischers Fritze fischt frische Fische!", schrie mein Vater. „Sag es!"

„Fischers Fritze fischt frische Fische!", schrie Gerd. „Mach schon!"

„Fischers Fritze fischt frische Fische!", schrien Gerd, mein Vater und ich gemeinsam, während wir die ganze Zeit auf der linken Straßenseite fuhren. Ein Auto voller Irrer! Vor uns tauchte ein Wald auf. Aus der Schneise42, in der die Straße verschwand, spuckte er plötzlich Gegenverkehr aus. Ein kleines Auto, das sich schnell auf uns zubewegte. Ruckartig steuerte mein Vater den Jaguar wieder auf die rechte Seite. „Gegenverkehr!", rief er.

Hinten purzelten John und ich durcheinander. Durch die Windschutzscheibe sah ich, dass das entgegenkommende Auto aufblendete.

„Warum blendet der auf?", fragte mein Vater nervös.

Sekunden später wussten wir, warum. Die Insassen des entgegenkommenden Autos hatten etwas dagegen, dass wir auf der linken Straßenseite fuhren. Denn die Insassen des entgegenkommenden Autos waren Polizisten. Wir erkann­ten das an dem Blaulicht auf dem Dach und an der grünen Farbe des Autos. Das Aufblenden bedeutete, dass wir ste­hen bleiben sollten.

„Oh Gott!", entfuhr es meinem Vater. „Die Polizei!" Statt anzuhalten, gab er Gas.

„Was machst du?", rief Gerd erschrocken. „Die wollen, dass wir anhalten! Du kannst doch nicht einfach abhauen!" Wir rauschten an der Polizei vorbei. „Ich fahre ohne Führerschein auf der falschen Straßensei­te", schrie mein Vater im Auto. „Wenn die mich erwischen, kann ich meinen Führerschein für alle Zeiten in den Wind schreiben!"

„Und was hast du vor?", fragte Gerd und sah dem Polizei­auto hinterher.

„Ich fahre in den Wald. Dort tauschen wir ganz schnell wie­der die Plätze. Und dann haben wir irgendwelche Ausreden parat. Wir haben die gleiche Haarfarbe und die gleiche Fri­sur. Die werden nicht merken, dass ich gefahren bin." Während wir in Richtung Wald eilten, sah ich nach hinten raus. Das Polizeiauto wendete auf der Straße und fuhr uns hinterher. Ich sah das Blaulicht aufblitzen. Im Schutz des Waldes bremste mein Vater scharf ab und fuhr an den Straßenrand. Blitzschnell tauschte er mit Gerd die Plätze und beschwor uns, ja nichts zu sagen. Das Polizeiauto kam und hielt hinter uns an. Die Beamten stiegen aus und setzten ihre Uniformmützen auf. Dann kamen sie zu uns. Während einer von ihnen hinten am Kof­ferraum blieb und sich das Nummernschild genauer besah, trat der andere an die Fahrertür. „Guten Tag", grüßte er. „Guten Tag", grüßte Gerd zurück.

Der Polizist bückte sich und sah zu uns nach hinten und zu

meinem Vater rüber auf den Beifahrersitz. „Sie haben nicht gesehen, dass wir Sie angeblinkt und zu halten aufgefordert haben?", fragte er. „Doch", sagte Gerd. „Wir haben Sie aufblenden sehen. Aber ich wusste nicht gleich, was Sie meinten. Sicherheits­halber habe ich dann doch gehalten." „Das war auch gut so", brummte der Polizist. „Dürfte ich um den Führerschein und die Fahrzeugpapiere bitten?" „Aber ja", sagte Gerd.

Während Gerd den Beamten die Papiere überreichte, ging der andere Polizist wieder zum Polizeiauto zurück. Ich konnte beobachten, wie er nach dem Funkgerät griff und etwas hineinsprach.

„Wissen Sie, weshalb wir Sie angehalten haben?", fragte derweil sein Kollege den Gerd.

„Ich kann es mir denken", sagte Gerd zögerlich. „Vielleicht, weil ich eben nicht ganz vorschriftsmäßig gefahren bin." „Sie sind grundlos auf der linken Seite gefahren und haben dann ziemlich abrupte Lenkbewegungen ausgeführt." Ja", antwortete Gerd. „Wir sind hier auf einer Probefahrt. Das Auto war lange in der Werkstatt. Ich wollte prüfen, ob die Lenkung wieder einwandfrei arbeitet. Deswegen haben wir auch diese Nebenstraße hier ausgesucht. Ehrlich ge­sagt, habe ich nicht damit gerechnet, hier auf die Polizei zu stoßen."

Der Polizist blätterte mit ernster Miene in den Papieren. „Die Polizei ist überall", sagte er und ließ uns eine Zeit lang im Ungewissen, was mit uns geschehen würde. Schließlich händigte er Gerd wieder Führerschein und Ausweis aus. „Ein schönes Auto haben Sie", sagte er. „Danke", sagte Gerd mit einem erleichterten Grinsen. Dann lächelte auch der Polizist.

„Wir sind hier in Deutschland. Da fährt man auf der rech­ten Seite. In England fährt man links. Gute Fahrt noch." Zum Gruß setzte er den Zeigefinger an den Schirm seiner Mütze.

„Danke und auf Wiedersehen", sagte Gerd erleichtert. Ganz langsam fuhren wir weiter. Ein allgemeines Aufatmen ging durchs Auto. Mein Vater drehte sich nach mir um. „Und zu Hause kein Wort darüber! Ist das klar?", forderte er unmissverständlich.

Ich hatte verstanden. „Alles streng vertraulich", sagte ich.



Date: 2016-01-03; view: 1123


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